Düstere Zeiten: Simon Stålenhags visuelle Parallelwelten

Fotorealistische Autofiktion im Zeichen der Zeitschleife

Im Jahr 2014 stellte The Guardian eine Top-Ten-Liste der besten Dystopien auf. Platz 7 (nach Werken von Margret Atwood, Franz Kafka, Lois Lowry, Richard Adams, Chris Marker und Andrew Niccol) belegte der damals frisch erschienene Bildband Ur varselklotet (Tales from the Loop) des schwedischen Digital-Bild- und Tonkünstlers Simon Stålenhag. Mittlerweile hat er drei weitere Bildbände vorgelegt, die sich wie immer düsterere Fortsetzungen lesen; der jüngste mit dem Titel Labyrinten (The Labyrinth), zu dem er auch einen atmosphärischen Soundtrack komponiert hat, erschien 2020, ein weiteres Projekt mit dem Titel Europa Mekano ist angekündigt. Viele der Werke lassen sich auf der Homepage des Künstlers ansehen; die narrative Rahmung aber erschließt sich erst durch die Lektüre der Print-Bände.

Im Gegensatz zu klassischen sogenannten Zeit-Utopien (wie Orwell’s 1984 oder Huxley’s Brave New World), deren dystopische Szenarien sich in einer erdachten Zukunft abspielen, lassen sich Stålenhags Bildwerke eher als Retro-Parallelwelten begreifen, deren Ausstaffierung aus den 1980er und 1990er Jahren einen starken Wiedererkennungseffekt hervorruft, während die mysteriösen Maschinenruinen, die wie Fremdkörper in der Landschaft stehen, den Eindruck einer bereits kaputtgegangenen Zukunftsdimension des Wohlfahrtsstaats vermitteln.

Das Schweden in Stålenhags Universum ist nur leicht modifiziert, wie in den Buchdeckeln der ersten beiden Bildbände – Ur varselklotet (2014) und Flodskörden (2016) – eine Landkarte über die Mälarsee-Inseln Adelsö, Ekerö, Munsö und Svartsjölandet verdeutlicht, unter denen sich gemäß der Einzeichnung eine gigantische unterirdische Anlage befindet:

Djupt nere under marken låg Slingan. En enorm cirkelformad partikelaccelerator och forskningsstation för experimentell fysik som sträckte sig runt Mälaröarna […]. Och ständigt närvarande någonstans på Mälaröhorisonten: Bonareaktorns kolossala kyltorn […]. Lade man örat mot urberget hörde man Slingans hjärtslag – spinnandet från Gravitronen, det centrala stycke ingenjörsmagi som var kärnan i Slingans experiment. Anläggningen var den största av sitt slag i hela världen, och det sades att dess krafter kunde kröka själva rumtiden. (Ur varselklotet, S. 3)

Tief unter der Erde lag die Schleife. Ein enormer zirkelförmiger Teilchenbeschleuniger und eine Forschungsstation für experimentelle Physik, die sich um die Mälarinseln erstreckte […]. Und ständig anwesend irgendwo am Mälarö-Horizont: die kolossalen Kühltürme des Bonareaktors […]. Legte man das Ohr an das Urgestein, hörte man den Herzschlag der Schleife – das Brummen vom Gravitron, dem zentralen Stück Ingenieur-Magie, das den Kern der Schleifen-Experimente ausmachte. Die Anlage war die größte ihrer Art auf der ganzen Welt, und man sagte, dass ihre Kräfte sogar die Raumzeit krümmen könnten.

Die Kombination aus schwedischem Alltagsrealismus der 1980er Jahre und den Fantasieobjekten der Technik lässt einen schnell die wie selbstverständlich erwähnten Begriffe »Bonareaktor«, »Gravitron«, und »Magnetrin« als reale physikalische Phänomene akzeptieren, die zu den Alltagserinnerungen aus der Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers gehören. Dabei wird die Narration in einer Art Vorwort des namentlich unterzeichnenden Autors explizit als autobiografische und u.a. auf Berichten und Fach-Skizzen basierende Zeitdokumentation ausgestellt.

Während der zweite Bildband, Flodskörden (2016, Things from the Flood), eine direkte Fortsetzung aus dem Slingan-Universum darstellt, indem er desaströse Konsequenzen der Überflutung der Anlage durch ein Leck, ihren Niedergang und mysteriöse organische Folgen für die Roboter beschreibt, wenden sich die folgenden Bildbände Passagen (2017, The Electric State) und Labyrinten (2020, The Labyrinth), losgelöst von der Biografie des Autors, zunehmend verstörenden Endzeit-Szenarien im amerikanischen Umfeld zu, wobei allerdings eine stringentere narrative Linie verfolgt wird und jeweils die Geschichte einer Ich-Erzählerin erzählt wird. 

Dingfaszination: Retro-Relikte der 1980er und ruinöse Roboter

Im ersten Bildband Ur varselklotet tritt das Dystopische noch zugunsten des eindeutig schwedischen Retro-Charmes zurück, der sich aus Jugenderinnerungen an das frühe Computerzeitalter des C64 und des ersten Nintendo Game Boy speist. Bis ins Detail ist die fotorealistische Dokumentation von schwedischer Vorort-Kindheit und Alltagskultur im Design der 80er Jahre ausgeführt: die Winteranoraks und Gummistiefel, die schwedischen Vorstadtlandschaften, die zeitgemäßen Volvo- und Saab-Modelle, der mit dem Bamse-Sticker beklebte Telia-Telefonhörer, der Blodpudding und die Gabel mit Palisander-Griff. Auf diese Weise wird eine Art schwedische »Generation Golf« gezeichnet, deren so selbstverständlicher wie mirakulöser Umgang mit den ebenfalls dargestellten mysteriösen Relikten einer technikgläubigen Science-Fiction-Welt einen geradezu poetischen Zauber hervorruft. Denn die wiedererkennbare Ding-Nostalgie aus den 80ern wird kombiniert mit einem futuristischen Arsenal von hinterlassenen und ausrangierten Robotermaschinen, deren Design manchmal entfernt als Reminiszenz an die ersten Star Wars-Filme (und damit auch als Imagination der spielenden Kinder) erkenn- und deutbar ist, die aber vor allem in ihrer funktionalen Ästhetik einen ganz eigenen Parallelrealismus hervorrufen, so dass man sich als Betrachter:in manchmal dabei ertappen kann, den Realitätsstatus dieser eigenartigen solitären, teils tier- oder menschenähnlichen, geradezu anrührenden Maschinenwesen und teils bedrohlichen, kriegsähnlichen Fortbewegungsapparate gar nicht mehr zu hinterfragen. Der relativ lakonische Erzähltext, der einzelne Erinnerungsepisoden wiedergibt, wird durch die Bilder nicht unbedingt illustriert, sondern vielmehr ergänzt und erweitert, so dass sich erst in der Text-Bild-Kombination, im andeutenden Zusammenspiel und der aktiven Verknüpfung durch die Rezipient:innen das narrative Universum erschließt. 

Wie sowohl schlüssig als auch zuweilen verblüffend realitätsnah das von Stålenhag entworfene Design seiner Science-fiction-Szenarien ist, zeigt sich übrigens bei einem Blick auf seinen Instagram-Account, auf dem er neben der Veröffentlichung einiger seiner Bildwerke auch Fotos von Landschafts- oder Technikelementen gepostet hat, deren Stimmung und surreale Formation die Grenze zwischen der realen und der digitalkünstlerischen Bildwelt verschwimmen lässt – »I really thought this was a painting at first«, lautet denn auch ein Kommentar zu einem der Fotos.

Temporalinterferenzen: Eine filmische Philosophie der Zeit

Die eigentümliche Überlagerung von Nostalgie und Dystopie, von Wunschbildern der Kindheitserinnerung und düsteren Szenarien aus dem Endstadium der Wohlfahrtsgesellschaft nach ihrer ‚techn-euphorischen‘ Kulmination hat in der internationalen Sci-fi-Szene viel begeisterte Resonanz bekommen. Der amerikanische Drehbuchautor Nathaniel Halpern nahm Stålenhags Bildvorlagen (und ansatzweise auch seine Erzählungen) zum Anlass, um eine achtteilige melancholisch-poetische Streaming-Serie mit dem Titel Tales from the Loop (2020) zu kreieren, deren einzelne Folgen relativ locker (über die Figuren) verbunden sind und auch je für sich eine abgerundete Erzählung darstellen, für deren Regie jeweils unterschiedliche Personen verantwortlich sind. Mit minutiös nachgebauten Gebäuden und Maschinen – bzw. Objekten, die Stålenhag eigenhändig für den Film entworfen hat – werden Stålenhags Bilder zum Leben erweckt, wird seine Mischwelt aus Alltag und Science-fiction-Elementen (wenn auch losgelöst von ihrem spezifisch schwedischen Kontext) filmisch realisiert (siehe Abb. 1 u. 2).

Dabei stellen die einzelnen Folgen – mit Titeln wie Loop, Transpose, Stasis, Echo Sphere, Parallel etc. – jeweils eine zeitphilosophische Idee ins Zentrum, über die die Serie eine epistemologische Dimension bekommt. Temporalrückkoppelung, Körpertausch, angehaltene Zeit, Zukunfts-Echo und Begegnungen mit dem Selbst in einer Parallelwelt sind nur einige der ungeahnten Möglichkeiten, die die rätselhaften Wunderdinge der Loop-Technologie bereithalten. Dass solcherlei Erkundungen v.a. existentielle Einsamkeit erfahrbar machen, wird nicht zuletzt durch das langsame und ruhige Tempo des Films, die Ästhetik der Bildkomposition und die poetisch-melancholische Stimmung unterstrichen. 

Abbildung 1 Bild von Simon Stålenhag aus Ur varselklotet 2014
Abbildung 2 Filmszene aus »Tales from the Loop« (2020)

Ökologische und psychologische Verödung

Um einiges schwärzer ist die Atmosphäre der beiden jüngsten Bände von Stålenhag, deren Grundthema der Vereinsamung mit einem beklemmenden Tenor von letzten Überlebenden und äußerster Entmenschlichung verbunden wird. Die verödenden Folgen einer konsumgesteuerten Technologiehörigkeit werden in dem Bildband Passagen/The Electric State (2017) deutlich, in dem eine verwaiste Jugendliche in Begleitung eines kleinen gelben Roboters durch ebenso verwaiste und verwüstete amerikanische Landschaften mit absurden Relikten einer grellen Kommerzwelt reist. Die Protagonistin ist die einzige Überlebende einer Menschheit, die nahezu gänzlich an einer lebensaussaugenden Virtualitätssucht zugrunde gegangen ist, indem die vogelkopfähnlichen sogenannten »Fjärrhjälmar« (Fernhelme), eine Art Virtual-Reality-Brille, sie zu willenlosen Energiespendern haben verkommen lassen (Abb. 3 u. 4). 

Abbildung 3 Bild von Simon Stålenhag aus Passagen (2017)
Abbildung 4 Bild von Simon Stålenhag aus Passagen (2017)

Den Büchern als Motto vorangestellt ist jeweils ein dystopisches Gedicht (von Bruno K. Öjer für Passagen, Karin Boye für Labyrinten), dessen Stimmung die Bildstory aufgreift. Die Grenzverwischung zwischen Technikobjekten und belebter Welt wird maßgeblich auch durch das an Tierwesen und lebenden Organismen orientierte Design der Roboter und Maschinen sowie die durch das Endzeitszenario veränderten Landschaften hervorgerufen, die z.B. in Labyrinten/Das Labyrinth (2020) wie eine fast lichtlose Unterwasserwelt anmuten, deren aus der Asche entstehenden »kolonierna av Striata« (Kolonien von Striata)3 wie rätselhafte Lebewesen auf dem Meeresgrund emporwachsen (Abb. 5).

Abbildung 5 Bild von Simon Stålenhag aus Labyrinten (2020)

Das ökologische Krisenszenario, das als ein ökokritisches Thema allen Bildbänden zugrunde liegt, betrifft in ebenso faszinierender wie beängstigender Weise eine Verschiebung von Verhältnissen der Ressourcennutzung, wodurch der Mensch zusehends vom ausbeutenden Techniknutzer zur selbst ausgebeuteten organischen wie kognitiven Ressource verfällt.

Simon Stålenhag (www.simonstalenhag.se):

Ur varselklotet / Tales from the Loop (Fria Ligan AB, 2014)

Flodskörden / Things from the Flood (Fria Ligan AB, 2016)

Passagen / The Electric State (Fria Ligan AB, 2017)

Labyrinten / The Labyrinth (Fria Ligan AB, 2020)

Nathaniel Halpern: 

Tales from the Loop (Amazon prime video-Serie, USA, 2020)

(Hanna Eglinger)


3 Als Striatum wird ein Teil der Basalganglien bezeichnet, die zum Großhirn gehören. Es ist eine narrative Konsequenz, die sich durch die Bände zieht, dass menschliche Bewusstseins- und Nervenelemente quasi der Rohstoff sind, auf dessen Ausbeutung sich diese posthumane Welt gründet.

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Fragen über Antworten

Im Rahmen des Schreibprojekts Since You Asked bieten schwedischsprachige Autor*innen seit 2018 einen Kummerkasten im Internet an, der aufgrund seiner Mischung an Genres, Publikationsformaten und Darbietungsformen auffällt. Fragen an den Kummerkasten werden vorrangig auf der Internetseite sinceyouasked.se gestellt und dort mit Lyrik, Dramatik und Prosa beantwortet. Eine parallele Veröffentlichung erfolgt über den Instagram-Account @sinceyouasked.se. Interessanterweise ist die über die Website entstehende Frage-Antwort-Kommunikation jedoch nicht nur online nachzulesen, sondern wird auszugsweise auch im Rahmen von Ausstellungen und Lesungen in Schweden, Dänemark und Norwegen dargeboten. Zudem werden Fanzines produziert, mittlerweile vier an der Zahl, wobei die Herausgabe dieser grauen Literatur auch immer wieder Anlass für gesonderte Veranstaltungen ist. Unter dem Titel Timelapse. Antologi 2020−2021 ist zudem eine Auswahl der Texte auch in Buchform erschienen und über den Buchhandel erhältlich.

Die nachträgliche Publikation von internetbasierten Schreibprojekten in Buchform ist mittlerweile gängig, sodass die Auskopplung der Anthologie Timelapse kaum überrascht. Buchgestalterisch ansprechend ist vor allem der Farbverlauf zwischen pastelligen Blau- und Rosatönen, welche an ein beschädigtes LCD-Display erinnern. Cover und Inhaltsverzeichnis sind im Querformat gestaltet, was als zusätzliches Zitat digitaler Kommunikationsträger deutbar ist. So würde das Blättern eine ähnliche Lesebewegung wie das ‚Scrollen‘ auf dem Display evozieren. Der Text ist ansonsten jedoch im Hochformat gesetzt und begünstigt daher letztlich eine konventionelle Handhabung des Buches. Die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis sind leider, das sei hier angemerkt, vor der Drucklegung nicht aktualisiert worden. Insgesamt überzeugt die Konversion zum physischen Kommunikationsträger Buch nur bedingt, was eine nähere Betrachtung wert ist.

Abbildung 1 Inhaltsverzeichnis der Anthologie Timelapse

Digitalität im Fokus

Since You Asked funktioniert als digitales Schreibprojekt im Internet besser als in Buchform, weil es digitale Praktiken indirekt kommentiert und teilweise unterläuft. Interessant ist die Zielsetzung des Schreibprojekts »Förhoppningen är att alla frågor någon gång ska få ett svar.« (Die Hoffnung ist, dass alle Fragen einmal beantwortet werden), weil sie doppeldeutig ist und zum einen utopisch aufgefasst werden kann. Sie wäre dann auf alle existierenden Fragen gemünzt, was sich als Kommentar auf die vermeintliche Allwissenheit des Internets lesen lässt. So erhalten selbst Spambots eine Antwort, wenn sie »ztSi2MVP« (am 21.12.2019) fragen. Die kryptische Buchstabenfolge gibt Anlass für einen kurzen, absurd-gruseligen Prosatext über eine Person, die von der Vorstellung heimgesucht wird, ein Fuchs hätte sie einst per SMS kontaktiert, indem er auf einem verlorengegangenen Handy herumgebissen habe. »Det fanns ingen som kunde tolka språket, var det norska? De tyckte väl inte att räven var norsk? De bestämde sig för att det var slumpmässiga bokstäver i en slumpmässig ordning. De sov gott genom sina nätter. De skrattade gott åt händelsen.« (Niemand konnte die Sprache übersetzen, war es Norwegisch? Sie glaubten doch wohl nicht, dass der Fuchs norwegisch war? Sie beschlossen, dass es zufällige Buchstaben in einer zufälligen Reihenfolge waren. Sie schliefen die Nächte gut durch. Sie lachten viel über die Geschichte.) Die Vermutung, dass der Fuchs norwegisch sei, ist in diesem Fall ein intertextueller Verweis auf das 2013 viral gegangene Musikvideo »The Fox (What does the fox say?)« des norwegischen Komikerduos Ylvis. Das Erkennen intertextueller Verweise wie diesem setzt wiederum ein spezifisches Wissen über Netzkultur voraus, das sich nur bedingt über vermeintlich allwissende Suchmaschinen gewinnen lässt.

Zum anderen kann die Zielsetzung des Schreibprojekts auf die tatsächlich an den Kummerkasten gestellten Fragen bezogen werden. Das Design der Website sinceyouasked.se begünstigt aufgrund fehlender Suchfunktion und Verschlagwortung, dass sich Frageinhalte wiederholen, wie etwa: 

anonym (25.11.2019): Kommer hon nånsin bli kär i mig? (Wird sie sich jemals in mich verlieben?)

Jennifer (13.09.2019): Är han kär i mig? (Ist er verliebt in mich?)

anonym (12.07.2019): Hur vet jag om han är kär? (Wie weiß ich, ob er verliebt ist?)

anonym (15.02.2018): Är Anton kär i mig? (Ist Anton in mich verliebt?)

Obwohl Liebeskummer in diesen Beispielen fast gleichlautende Fragen motiviert, erhält jede*r Fragende einen eigenen literarischen Text als Antwort. Würde die Frage hingegen einer Suchmaschine gestellt, bekämen die Fragenden zunächst ein Fenster mit Vorschlägen zur automatischen Vervollständigung zu sehen und schließlich eine Liste mit Verlinkungen auf ähnliche Fragen in Internetforen präsentiert:

Abbildung 2 Suchanfrage zum Vergleich

Die literarischen Antworten suggerieren den Fragenden somit ein Gefühl von Individualität und haben mehr Charme als die Vervollständigungsvorschläge und Ergebnislisten von Suchmaschinen. Zugleich zeigt sich hier ein medialer Vorteil der Internetseite sinceyouasked.se gegenüber einer gedruckten Anthologie wie Timelapse, deren Inhaltsverzeichnis eine thematische Übersicht anbietet und somit etwaige Wiederholungen aufzeigen könnte, was potenziell das Gefühl von Individualität auf Seite der Fragenden bedrohen könnte.

Die Literarisierung der Frage-Antwort-Kommunikation ist somit vor allem im Kontext digitaler Praktiken zu verstehen. Timelapse markiert zwar zusätzlich Literarizität, weil ein ‚Buch‘ vorliegt. Die Literarisierung von Fragen und Antworten erfolgt jedoch bereits im Internet. So heißt es in der Selbstbeschreibung: »Since You Asked är ett kollektivt textverk som hämtar sin form från frågespalten och sitt hjärta från poesin.« (Since You Asked ist ein kollektives Textwerk, dessen Form aus der Fragespalte und dessen Herz aus der Poesie entspringt.) Neben dieser Bezugnahme auf die Poesie im Sinne von Dichtkunst werden insbesondere die Antwortenden zusätzlich als »författare« (Autor*innen) ausgewiesen. 

Kollektives Schreiben

Abbildung 3 Screenshot der Website sinceyouasked.se

Since You Asked kommentiert nicht nur indirekt digitale Praktiken, als »kollektives Textwerk« basiert es selbst auf einer solchen Praktik. So setzt Since You Asked ganz im Sinne des Web 2.0 auf die Interaktion und Kollaboration von mehreren Personen, was zugleich Fragen nach der Konzeption von Autor*innenschaft aufwirft, insbesondere da an der Website sowohl die Fragenden als auch die Antwortenden mitschreiben. Die Fragenden können sich auf sinceyouasked.se aussuchen, wie sie heißen wollen. In den meisten Fällen wird »anonym« gewählt, jedoch gibt es auch häufig Namensgebungen, welche mit der Frage im Zusammenhang stehen. So fragt Hästflickan (Das Pferdemädchen; 08.01.2021) nach dem Lieblingstier des*der Antwortenden und Piercad (Gepiercte*r; 15.09.2022) erkundigt sich nach den Gründen für die Popularität floraler Tattoomotive.

Abgesehen von diesen banalen Pointen gibt es jedoch durchaus Kombination aus Namensgebung und Frage, die aufgrund der besonderen zeitlichen und räumlichen Eigenschaften des Internets beim Lesen interessante Leerstellen kreieren, wie zum Beispiel der Name Avenyn (Die Allee; 05.07.2021) in Kombination mit der Frage »hur snygg får man vara?«. Zu den besagten zeitlichen und räumlichen Eigenschaften gehört unter anderem, dass trotz der Dokumentation durch Metadaten häufig unsichtbar bleibt, wann und wo Inhalte produziert sowie rezipiert werden. So ist zwar Avenyns Frage in diesem Fall zeitlich eindeutig datiert, jedoch fehlt eine räumliche Verortung. Die Frage kann zum einen als »wie hübsch darf man sein?« übersetzt werden und ist eine in Schweden als Kompliment gängige Redewendung. Zum anderen wäre sie auch als »wie sauber/ordentlich darf man sein?« übersetzbar. Aufgrund des Namens Avenyn wirkt die Frage letztlich vieldeutig: Bezieht sie sich auf eine beliebige Prachtstraße oder die darauf flanierenden Personen? Ist die Frage als Redewendung auf einer solchen Prachtstraße aufgeschnappt worden? Handelt es sich hier vielleicht um die Kungsportsavenyen in Göteborg, die dortige Ausgehmeile, welche von den Ortsansässigen schlicht ‚avenyn‘ genannt wird? Immerhin ist Göteborg ein Zentrum der offline-Aktivitäten von Since You Asked. Oder ist die Kombination aus Name und Frage im Sinne von »wie hübsch darf man sein?« eine, zugegeben etwas späte, Anspielung auf die im Jahr 2018 geführte Debatte um Eugen Gomringers Gedicht Avenidas an der Fassade der Alice Salomon-Hochschule in Berlin, welche auch in der schwedischsprachigen Presse rezipiert worden ist? Im Rahmen der Debatte ist nicht nur diskutiert worden, ob Gomringers Gedicht über die Konstellation aus Straßen, Blumen, Frauen und einem Bewunderer sexistisch sei, sondern inwiefern das Gedicht in einem ästhetischen Sinne als schön gelten könnte. Avenyns kurze Frage ist somit komplexer, als es auf den ersten Blick scheint, da sie im Internet translokal rezipierbar ist.

Die auf sinceyouasked.se in Form eines Gedichts gegebene Antwort wird dieser Komplexität jedoch nur bedingt gerecht:

går på avenyn med mitt hår och mina år 

av lekfullhet

sommaren är öm, julis djupnande grönska

o svullna blommor, som läppar

när man öppnar dem med fingrarna

hur snygg får man va

hur doftande av varm sten, salter, blod

döden har ingen plats i modersansiktet

ögonblicks-död-föränderligheten

har ingen plats

gehe auf der Allee mit meinen Haaren und meinen Jahren

aus Verspieltheit

der Sommer ist zart, Julis dichter werdendes grün

o geschwollene Blumen, wie Lippen

wenn man sie mit den Fingern öffnet

wie hübsch darf man sein?

wie duftend nach heißem Stein, Salzen, Blut

der Tod hat keinen Platz im Muttergesicht

die Augenblicks-Tod-Veränderlichkeit

hat keinen Platz

Das Gedicht weist kaum inhaltliche oder formale Bezüge zu Gomringers Avenidas auf, abgesehen von der Erwähnung von Blumen, was ein Zufall sein könnte. Bezüge zur Debatte um die Fassade der Alice Salomon-Hochschule müssten zudem bei der Interpretation eher vage konstruiert werden. Ein möglicher Sinn des Antwort-Gedichts erschließt sich hingegen eher, wenn die durch Avenyn in Gang gesetzte Frage-Antwort-Kommunikation trotz ihrer translokalen Rezipierbarkeit in Göteborg ‚verortet‘ wird. So befindet sich vor Göteborgs Stadtbibliothek an der Kungsportsavenyen eine Statue für die schwedische Autorin Karin Boye (1900−1941), die in dem Antwort-Gedicht porträtiert sein könnte. Die Statue zeigt Boye nämlich als jugendliche Frau und hält häufig eine frische Blume in der Hand, die Vorbeigehende dort platzieren. Boye hat zudem in ihrem dystopischen Roman Kallocain (1940), der in Schweden kanonisch ist, ein geschlechterübergreifendes Mutterschaftsideal entwickelt, was den dritten Vers von unten zu erklären vermag. Als Anekdote sei hier zudem vermerkt, dass die Statue so lebendig wirkt, dass ihr Gesicht bei einem Stadtspaziergang mit Google Streetview ebenso verpixelt ist wie das anderer Passant*innen auf der Kungsportsavenyen.

Abbildung 4 Links: Karin Boye-Statue mit Blumen in Göteborg (Mattias Blomgren via Wikicommons); rechts: Screenshot der Google Streetview-Ansicht

Wer auf die Fragen jeweils antwortet, bleibt auf sinceyouasked.se unausgesprochen. Aus der dort zu findenden Liste der beteiligten Autor*innen geht nicht hervor, welcher Antworttext von wem stammt, und auf Pseudonyme wird verzichtet. Dadurch scheinen sich Fragende und Antwortende beim Schreiben zunächst auf Augenhöhe zu begegnen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch innerhalb des Schreibprojekts trotzdem eine gewisse Schieflage in der Autor*innenschaftskonzeption. Auf Instagram stellt der Account des Schreibprojekts nämlich seit November 2020 die Antwort-Autor*innen mit Porträtfotos sowie tagging vor und ordnet sie den Texten zu. Damit wird die Autor*innenschaft der Antwortenden gegenüber der der Fragenden gestärkt. Bei den Antwortenden handelt es sich überwiegend um junge Literaturschaffende, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Der Bekannteste unter ihnen ist der finnlandschwedische Autor Quynh Tran, der im Februar 2022 den renommierten finnischen Runeberg-Preis für seinen Debütroman Skugga och svalka entgegengenommen hat. Tran hat sich im selben Monat mit einem Antworttext an Since You Asked beteiligt. Die einseitige Stärkung der Autor*innenschaft ist darauf zurückzuführen, dass das Schreibprojekt während der Corona-Pandemie in eine neue Entwicklungsphase eingetreten ist, welche sich durch eine Spielelogik auszeichnet, bei der ein*e Antwort-Autor*in jeweils bestimmt, wer die nächste Frage beantworten soll. Mittels dieser Verkettung von Autor*innen versucht Since You Asked seitdem Aufmerksamkeit für das eigene Projekt auf Instagram zu generieren. Die Sichtbarmachung der Autor*innenschaft durch das tagging zielt nämlich darauf ab, dass die jeweiligen Followers von dem Projekt erfahren. Der Erfolg scheint jedoch mäßig, da @sinceyouasked.se aktuell nur 668 Personen folgen. Zum Vergleich: Alexander Fallo (@alexanderfallo), der seit 2012 auf Instagram aktive norwegische Shootingstar der #instapoetry, hat 21.1k Follower.

Abbildung 5 Screenshot von @sinceyouasked.se

Interessant an @sinceyouasked.se ist auch die Gestaltung der Texte, die sich von der Darstellung auf der Website sinceyouasked.se zunächst stark unterschieden hat. Während auf der Website alle Texte in einem gleichförmigen, relativ schlichten Format erscheinen, werden dieselben Texte auf Instagram gemäß den Konventionen des Genres #instapoetry von Beginn an visuell stark angereichert präsentiert. Auch hier gibt es jedoch eine gewisse Entwicklung zu beobachten: Anfänglich wird auf eine analoge Materialästhetik gesetzt, indem vor allem handschriftliche oder ausgedruckte Manuskripte der Antworten abfotografiert werden. Sowohl bei den Handschriften als auch den Ausdrucken ist dabei stets erkennbar, dass die Manuskripte des digitalen Schreibprojekts für das Foto auf Papier vorliegen. Diese nostalgische Geste hat @sinceyouasked.se nach und nach aufgegeben. Stattdessen werden die Texte vermehrt vor Farb- oder Bildhintergründen in Szene gesetzt. Seit Anfang des Jahres 2022 ist festzustellen, dass der Instagram-Account statt den Antworten die Fragen in den Fokus rückt, was mit Blick auf andere #instapoetry-Accounts ein Distinktionsmerkmal ist. Die Fragen werden dabei in einem uniformen Stil präsentiert, welcher die Website visuell zitiert, indem der auf @sinceyouasked.se zu sehende Textkasten gestalterisch dem Fragefenster von sinceyouasked.se entspricht. Für den Hintergrund werden weiterhin thematisch passende Bilder verwendet. Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, da sie die angesprochene Schieflage in der Autor*innenschaftskonzeption funktionalisiert. So wecken die im eigenen Feed oder im Explore-Feed auftauchenden Fragen nicht nur Neugier auf die Antworten. Sie stimulieren zugleich die Imagination, da sie die Lesenden auch dazu einladen, vor dem Lesen der Antworten über den jeweiligen Anlass einer Frage und die anonymen Frage-Autor*innen nachzudenken, ähnlich wie ich es oben anhand von Avenyns Frage vorgeführt habe.

Abbildung 6 Screenshot von @sinceyouasked.se

In welche Richtungen sich Since You Asked weiterentwickeln wird, bleibt aufgrund der bislang bewiesenen Flexibilität im literarischen Feld spannend. Inhaltlich sind die Fragen und Antworten zu divers, um hier bestimmte Tendenzen oder die Qualität der Texte umfassend beurteilen zu können. Die Stärke des Schreibprojekts ist jedoch ohnehin seine konzeptuelle Experimentierfreudigkeit. Eine umfassende Beurteilung des Projekts müsste die eingangs erwähnten Lesungen und Ausstellungen miteinbeziehen, was für diese Rezension nicht möglich gewesen ist. Erwähnt sei hier nur, dass sich aus Bildern auf sinceyouasked.se und @sinceyouasked.se schließen lässt, dass bei den Lesungen ein Overhead-Projektor zum Einsatz kommt – ähnlich nostalgisch wie das Papier auf Instagram wird also auf den analogen Vorläufer des Beamers gesetzt. Es sind solche konzeptuellen Details, mit denen dieser Kummerkasten letztlich Freude bereitet.

Since You Asked: Timelapse. Antologi 2020−2021. Eigenverlag, 2021.

sinceyouasked.se

@sinceyouasked.se

(Philipp Wagner)

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»House on fire«. Die Institution Theater, ihre Klassiker und der Klassismus – Nora an den Münchner Kammerspielen

Abbildung 1 Katharina Bach als Nora – Foto: Armin Smailovic

Wer braucht nach Corona noch das Theater? Offensichtlich hat sich das deutsche Publikum daran gewöhnt, sein Bedürfnis nach herausfordernden Geschichten und fröhlicher Unterhaltung, nach kultureller Sinnfülle und nach der Bestätigung, zum kulturtragenden Teil der Gesellschaft zu gehören, nicht mehr mit einem Besuch eines mal überhitzten, mal unterkühlten Schauspielhauses zu stillen, mit umständlicher Kartenbestellung, einem verfrühten Abendessen, dem lästigen Wechsel von Alltags- zu Abendgarderobe und einem Sessel, bei dem konstant die Ellenbogen der Nachbar:innen stören. Zumindest haben die Bühnen mit einem deutlichen Besucherschwund zu kämpfen: Die Publikumszahlen haben bisher nicht das Niveau aus der Zeit vor den verschiedenen Lockdowns erreicht. Und wenn erstmal eine antrainierte Routine ausgebremst ist, merkt man vielleicht, dass einem ohne Theater gar nichts fehlt und man auch vor dem heimischen Computer oder der CD-Anlage, durch Lesen oder Musizieren glücklich werden kann – so die wenig originelle Vermutung von Publikumsforschern und Kulturmanagementprofis.

Da die Bühnenkünste sich von anderen Präsentationsformen des Literarischen ganz grundsätzlich dadurch unterscheiden, dass sie non-print und nur in der Kopräsenz von Künstler:innen und Publikum funktionieren, liegt es nahe, dass die Theater verstärkt dieses Alleinstellungsmerkmal herausstreichen, um ihre früheren Liebhaber:innen an die Freuden zu erinnern, die nur sie vermitteln können. Sie bedienen sich solcher Methoden, die den Besucherinnen das Gefühl des Hier und Jetzt vermitteln, Methoden, die jedem einzelnen Zuschauer seine Anwesenheit bewusst und erfahrbar machen – und zwar jenseits der schmerzenden Knie in zu engen Sitzreihen: Das Publikum wird von der Bühne aus direkt angesprochen, Dinge (Papiere, Blumen, Luftballons) regnen über die Zuschauer:innen, in einem Medienmix werden mehrere Sinne auf einmal aktiviert, der Theaternebel kriecht in das Parkett hinunter, Schauspieler:innen durchbrechen die vierte Wand oder steigen von der Bühne herab und agieren einen Teil ihres Textes zwischen den Sesselreihen.

All diese Techniken der Immersion benutzen auch die Münchner Kammerspiele, wenn sie derzeit – also in der Spielzeit 2022/23 – Nora auf die Bühne bringen. Und hinzu kommt an einigen Abenden noch eine Rahmung des Bühnengeschehens durch eine Einführung zur Konzeption der Inszenierung vor der Aufführung und ein Publikumsgespräch mit einigen Schauspieler:innen nach der Aufführung. Letzteres soll als Zeichen gedeutet werden, dass das Theater sein Publikum ernst nimmt, mit ihm reflektieren und von ihm Anregungen aufnehmen will; das Publikum empfängt nicht nur die Segnungen der Kunst, sondern kommuniziert mit den Theaterschaffenden, die gerade aus der Maske kommen, auf ungeschminkter Augenhöhe. Und so sitze ich gegen 22:30 Uhr mit etwa 50 anderen Interessierten auf Stühlen im Foyer vor den Logentüren, warte auf die angekündigten Schauspieler:innen und bin gespannt, ob diese Vision wirklich wird.

* * *

Am 7.10.2022 hatte Nora Premiere im Jugendstil-Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele. Auf dem Programmzettel steht nicht einfach der zu erwartende Henrik Ibsen als Autor, sondern »Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch & Ivna Žic«. Ibsen figuriert hier als einer von vieren. Und tatsächlich kann man sich (nicht kritisch, sondern neugierig) fragen, wieviel Ibsen noch an diesem Abend zu sehen ist. Natürlich folgt das Bühnengeschehen nach wie vor der Handlung von Et Dukkehjem, Ibsens Drama aus dem Jahr 1879, das im Deutschen lange unter dem Namen seiner Protagonistin Nora aufgeführt wurde und erst seit einigen Jahren auch unter seinem eigentlichen Titel Ein Puppenheim zu haben ist. Und auch der Text folgt über weite Strecken der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Zu diesem Kern steuert Sivan Ben Yishai einen Prolog bei und Ivna Žic zwei Intermezzi. Gerhild Steinbuch greift dagegen in Ibsens Text ein und schreibt gerade dessen drei zentrale Szenen um: Noras Tarantellaprobe; das Gespräch, in dem Kristine Linde den Erpresser Krogstad überredet, seinen verhängnisvollen Brief zurückzufordern; und den Showdown des Dramas, Noras und Torvalds Auseinandersetzung, die damit endet, dass Nora das Puppenheim ihrer Ehe verlässt und die Wohnungstür »dröhnend« ins Schloss fällt. In der Inszenierung der Kammerspiele dagegen jagt sie das gesamte Haus in die Luft.

* * *

Die An- und Umbauarbeiten am Puppenhaus in den Kammerspielen verfolgen vor allem zwei Perspektiven. Einmal wird das Schauspielen als Existenzmodalität thematisiert, zum anderen sollen die sozialen Ränder der bürgerlichen Welt (von Nora? von Ibsen? des Theaters? des Publikums?) markiert werden, die, so unsichtbar sie sind, doch diese Welt ermöglichen. Die soziale Thematik macht die Bühnenbildnerin Viva Schudt erfahrbar, indem sie die Bühne mit der Fassade eines Hauses füllt, das auf dem Kopf steht.

Abbildung 2 Katharina Bach als Nora, Svetlana Belesova als Kristine Linde – Foto: Armin Smailovic

Diese Fassade ist schräg gestellt, sodass die Figuren zwischen den Fensterrahmen mehr oder weniger geschickt umherklettern können. Nun könnte man meinen, dass das soziale Oben und Unten auf den Kopf gestellt ist, doch das Bühnenbild ist komplexer als nur eine Umkehrung der Ordnung. Selbst in der verkehrten Welt bewegen sich die Figuren, die im Puppenheim zuhause sind, geschickt und schnell auf den verschiedenen Ebenen. Weder Torvald noch Dr. Rank noch die sozial abgestiegene, aber aus einem vermögenden Hause stammende Kristine Linde haben irgendwelche Schwierigkeiten, sich auf der Schräge zu bewegen; und selbst als Nora erfährt, dass sie erpresst wird und zusammenbricht, hängt sie zwar mit verrenkten Gliedern wie eine abgelegte Marionette zwischen den Fensterrahmen der Fassade, doch bleibt sie selbst in dieser Situation elegant, sie passt ins Design des Hauses. Noch im Zusammenbruch ist das Haus ihre Bühne, in der ihre Geschichte aufgeführt wird. Der Erpresser Krogstad dagegen, der von der Angst getrieben wird, auch noch aus dem Kleinbürgertum abzustürzen, kann sich bei seinen Auftritten kaum auf der Schräge des Hauses halten, er bewegt sich nicht durch die verkehrte Welt, er stolpert und rutscht.

Schon das Durchqueren des Bühnenraums zeigt also an, wessen Geschichte erzählt wird, und sei es auch die eines Scheiterns, und wer damit eine Existenzberechtigung auf der Bühne hat. Konsequenterweise ziehen die neuen Textteile des »Thrillers« die Nebenfiguren aus ihrer Marginalität ins Scheinwerferlicht. Ivna Žics zwei Intermezzi holen Noras drei Kinder aus ihrer Unsichtbarkeit. Sie zeigt sie als Erwachsene, die auf ihre Zeit unmittelbar nach Noras Abschied aus der Familie zurückblicken und ihre Mutter angreifen oder verteidigen. Ivar, der Älteste, wird dabei zum traumatisierten Gruselzwerg im Friesennerz, der direkt aus dem Horrorklassiker Wenn die Gondeln Trauer tragen gesprungen scheint (Don’t Look Now, 1973, Regie: Nicolas Roeg).

Sivan Ben Yishais Prolog gibt den anderen lebenden Requisiten in Ibsens Text eine Stimme. Dort sitzen die Schauspieler:innen der Kammerspiele um einen Tisch und spielen Schauspieler:innen, die den Zuschauern das Drama präsentieren. Dabei verschmelzen ihre theatralen und sozialen Rollen. Das Prekariat eines Komparsen, der den Stadtboten mit nur einer Sprechzeile spielt, ist etwa nicht zu unterscheiden vom Prekariat eben dieses Stadtboten (der bei Yishai sprachlich zum ‚Paketboten‘ aktualisiert wird). Das Hausmädchen der Helmers bzw. ihre Schauspielerin wird ganz eingespart und durch eine Stimme vom Band ersetzt, die allerdings immer wieder im Gespräch der ‚realen‘ Kolleg:innen interveniert. So antwortet die Stimme, als Noras Schauspielerin pathetisch darauf hinweist, dass sie doch »alle einer höheren Geschichte dienen«, lakonisch: »Ich diene Dir!« – und das wird an der dritten marginalisierten Figur besonders deutlich, dem Kindermädchen, das vor vielen Jahren ihr eigenes Kind und ihre eigene Geschichte aufgab, um Amme für Nora und dann deren Kinder zu sein. Freilich könnten sich Kindermädchen, Hausmädchen und Nora feministisch verbünden, doch Yishai stellt die Positionen gegeneinander: Wo kommen die unterprivilegierten Zuarbeitenden in den Problemen einer privilegierten Mittelklassefrau vor? Macht die Konzentration auf die Misogynie einer historisch vergangenen Ehekonstellation den damaligen wie heutigen Klassismus unsichtbar? Diese Fragen wendet Yishai geschickt von Ibsen und seiner konkreten Geschichte weg und auf deren Möglichkeitsbedingung – die Institution Theater – hin, indem die Figuren des Prologs dem Publikum einhämmern, dass die Hauptrolle nicht Nora oder eine der anderen dramatis personae spielt, sondern »das Haus«, dass es um »das Haus« gehe, dass »das Haus« im Mittelpunkt stehe, dass alle »dem Haus« dienen. Und »das Haus« meint in einer bestimmten Sprechweise eben das Theater. Es geht also nicht nur um die soziale Relevanz und moralische Zurechnungsfähigkeit von Ibsens Drama, sondern um die Institution Theater an sich. Das Theater ist das soziale Puppenhaus, in dem Noras Geschichte mit all ihren sozialen Marginalisierungen Sinn macht.

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Gerhild Steinbuch interveniert dreimal in Ibsens Text. 1) Noras Tarantellatanz wird zu einer düsteren Version des schwedischen Popklassikers SOS, in dem sie ihren Mann Torvald, aber auch ihren Verehrer Dr. Rank anklagt – »Where are those happy days? They seem so hard to find. I try to reach for you, but you have closed your mind« – und dann sogar Torvalds Rolle vorwegnimmt: »When you’re gone, how can I even try to go on?«. 2) Den Klassismus des Prologs nimmt die neue Fassung des Gesprächs zwischen Kristine Linde und Krogstad auf. Bei Ibsen beschließen die beiden, getrieben von einer edlen Mischung aus Mitleid und Pädagogik, das Ehepaar Helmer zur gegenseitigen Aufrichtigkeit zu zwingen – ein Kniff, mit dem Kristine Linde es hinbekommt, gleichzeitig Krogstad mit dem Gefühl der moralischen Überlegenheit zu ködern und die Helmers vor der sozialen Deklassierung zu bewahren. Bei Steinbuch dagegen artet das Gespräch zwischen Linde und Krogstad zu einer Orgie des Sozialneids aus, in der die beiden Absteiger die Helmers ans Messer liefern. 3) Den größten Bruch mit dem Original vollzieht aber Steinbuchs Showdown zwischen den Eheleuten Torvald und Nora Helmer. Ibsens Nora erkennt in ihrer Ehe ein Schauspiel, dessen Kostüm sie nun im dritten Akt desillusioniert ablegt. Auch wenn Ibsens Text sehr viel komplexer ist, so muss man seiner Nora doch größte Aufrichtigkeit zugestehen. Sie will hinaus in die Welt und die Gesellschaft kennenlernen, wie sie wirklich ist – ohne Maske, gleichsam nackt, »Ich nehme von Fremden nichts an«, sagt sie, als Torvald sie wenigstens finanziell unterstützen will. Der Kontrast zur Nora der Kammerspiele könnte größer nicht sein: Hier wird Noras Abrechnung zu einer Variation über die berühmten Zeilen aus Shakespeares As you like it: »All the world’s a stage / And all the men and women merely players.« Sie wirft Torvald nicht vor, dass er schauspielt, sondern dass er seine Rolle zu ernst nimmt und nicht zu einer anderen Rolle wechseln kann. Doch die Möglichkeit des Rollenwechsels wird nicht postmodern als Quelle der Freiheit gefeiert, sondern als conditio humana mehr recht als schlecht akzeptiert. Für Nora (und hier sind sowohl die Figur als auch Ibsens Klassiker gemeint) gibt es weder einen Ausweg in die Authentizität noch in die Originalität, weil die Überfülle an Inszenierungen bereits alles erledigt hat. Nora war schon Feministin, Rationalistin, Hysterikerin, Mörderin, Heilige … mal verließ sie Torvald, mal erschoss sie ihn, mal blieb sie und sang mit allen anderen Figuren »My Least Favorite Life«, mal legt sie nur eine Zigarettenpause von ihrer Ehe ein. Die Story ist erschöpft und kann sich nicht mehr erneuern, so die Nora der Kammerspiele. Was wäre angesichts einer solchen Diagnose anderes möglich als die Zerstörung des Klassikers. Entsprechend schlägt Nora nicht einfach die Wohnungstür zu, sondern jagt das gesamte Haus in die Luft. Die Explosion und der anschließende Brand werden in Dauerschleife auf der Leinwand hinter Nora gezeigt, solange sie ihren Monolog spricht. Da das Publikum aber aus dem Prolog weiß, dass es sich bei dem Haus sowohl um Torvalds und Noras Zuhause handelt, wie um das pars pro toto der Gesellschaft oder des Systems, vor allem aber um »das Haus«, die Kammerspiele, das Theater an sich, fliegt Nora und dem Publikum die gesamte Institution mit ihrem selbstbezüglichen Klassismus um die Ohren. Die Zerstörung wird zur Klass/en/ikerkritik.

Das Theater als Institution und die Klassiker sind ohne soziale Ausgrenzung nicht zu haben, alle sind ineinander verwoben und stützen und schützen einander; man scheint sie – so der Tenor des »Thrillers«, zu dem die Kammerspiele Nora gemacht haben – auch nur gemeinsam loszuwerden. Und doch birgt diese These bei aller Analogie ein Paradox: Die Zerstörung des Theaters wird mit Mitteln erreicht, die das Theater feiern: kreative Interaktion verschiedenster Gewerke, ein komplexes Bühnenbild, grandiose Schauspielkunst, die wunderbare Stimme von Katharina Bach, die zum Glück des Publikums gleich zweimal singen darf … Die Zerstörung des Theaters ist ein beglückender Moment theatraler Imagination und ohne das Theater nicht zu haben.

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So ausgerüstet sitze ich gegen 22:30 Uhr mit etwa 50 anderen Interessierten auf Stühlen im Foyer vor den Logentüren und warte auf das Publikumsgespräch, eine Gattung, die auf der Prämisse aufbaut, dass hier die stummen Zuschauer:innen zu Sprechenden werden und den Schauspieler:innen jenseits ihrer Rollen begegnen; hier – so der Gattungsvertrag – ist der Ort der Wahrheit, an dem alle in derselben Welt agieren und man ohne Schminke über das spricht, was man gerade gemeinsam hinter sich gebracht hat.

Da meldet sich zunächst ein älterer Herr, der findet, dass eigentlich keine der Figuren sympathisch war, ein Statement, das noch so manch ein:e andere:r aufnimmt; dann eine Dame mittleren Alters, die bekennt, dass sie vor dem Abend nochmal Ibsens Text gelesen hat, und nun darüber sprechen möchte, wie krank Torvalds Ehe- und Gendervorstellungen sind – wohlgemerkt die Vorstellungen, die sie in Ibsens Text gefunden hat; der ältere Herr meldet sich nochmals und merkt an, dass ihm die Musikeinspielung von SOS zu laut war; dann äußert sich eine Frau, die ebenfalls Schauspielerin ist, dahingehend, dass der Prolog doch recht platt war (auch wenn sie das sehr viel schöner sagt), woraufhin ein Literaturwissenschaftler sich bemüßigt fühlt, die Komödie zu verteidigen.

Was sollen die Schauspieler:innen zu solchen Gesprächsangeboten sagen? Ganz sicher nicht, was sie denken. Stattdessen markieren sie durch ihre zugewandte Körperhaltung, wie interessiert sie doch an den Kommentaren sind und wie überraschend doch jede Bemerkung ist und dass jede Äußerung einen bedenkenswerten Aspekt besitzt. Anders könnte es ja auch nicht sein, denn die Veranstaltung hat ja den Zweck, jede:n Einzelne:n an die Institution des Theaters (die man gerade in die Luft gesprengt hat) zu binden und zum weiteren fleißigen Theatergang zu ermutigen. Und so wird das Publikumsgespräch zu einem Epilog, der die eben gesehene Aufführung im Modus der Farce wiederholt: Eben predigte Nora noch, dass das Leben ein Schauspiel sei, in dem es keine Authentizität gibt, sondern jeder seine Rolle spielt, die man aber auch nicht zu ernst nehmen dürfe; und nun tun alle so, wie wenn man sich ohne Schminke und ohne Rolle gegenübersitzt. Das Publikumsgespräch zwingt die Schaupieler:innen weiterhin zu schauspielen; sie kommen aus der Maske, doch sind sie deshalb nicht maskenlos. Haben sie in ihren Rollen noch grandioses Theater geboten, so bestätigt dieser Versuch der Vermittlung eher die einleitend konstatierte Krise des Theaters. Zur Komödie fügt das Publikumsgespräch allerdings einen Akt hinzu. Deshalb wäre es schade, wenn man diesen ulkigen Epilog verpasst, den weder Yishai, Ibsen, Steinbuch oder Žic geschrieben haben – sondern das Publikum.

Nora. Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch & Ivna Žic

Premiere: 7.10.2022 an den Münchner Kammerspielen

In den Rollen: Katharina Bach, Svetlana Belesova, Vincent Redetzki, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper und Katharina Schuberts Stimme im Prolog

Regie: Felicitas Bruckner

(Joachim Schiedermair)

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