Mehr als true crime: Gewalt und Sprache

Det hvorom man ikke kan tie, om det må man tale, om det har man pligt til at tale, om det har man talepligt. (Niels Frank: Livet I troperne, S. 36; Das Leben in den Tropen)

Worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man reden, darüber ist man verpflichtet zu reden, darüber hat man Redepflicht.

Auf den ersten Blick wirkt Fanden tage dig (Der Teufel soll dich holen) wie eine der true crime-stories, die gerade eine mediale Konjunktur erleben. Der Text berichtet in romanähnlicher Form von dem Mord eines 62-jährigen Mannes an seiner ein Jahr jüngeren Ehefrau, knapp drei Monate nachdem sie ihn nach 30-jähriger Ehe verlassen hatte. Die Tat geschah vor den Augen der beiden Söhne des Paares und weiterer Familienmitglieder, die sich eingefunden hatten, um Möbel und Gegenstände aus dem gemeinsamen Haushalt zu holen, eine mit dem Ehemann verabredete Haushaltsteilung nach der Trennung. Der Mann verweigerte den Einlass und trat plötzlich mit einem abgesägten Jagdgewehr aus der Haustür, drohte den Anwesenden und schoss die in Panik flüchtende Frau gezielt in den Rücken. Sie verstarb unmittelbar darauf, und der Mann wurde noch am Tatort verhaftet und ein Jahr später in einem Gerichtsverfahren zu der Höchststrafe von 14 Jahren Haft verurteilt.

In Dänemark sind diese Tatsachen bekannt, lange bevor das Buch erscheint. Die Presse hat ausführlich davon berichtet, nicht nur, weil ein brutales Gewaltverbrechen beliebter Stoff v.a. der Boulevardmedien ist, sondern auch, weil es sich bei der Ermordeten um die Schwester Elin des bekannten Schriftstellers Niels Frank handelt, der jetzt sein Buch über die erschütternden Ereignisse vorlegt. Nun ist Frank nicht als Krimiautor, sondern als formbewusster Lyriker, Essayist und ehemaliger Leiter der Autorenschule in Kopenhagen bekannt, der durch eine ganze Reihe von renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist. Er debütierte 1985 mit der symbolistischen Gedichtsammlung Øjeblikket (Der Augenblick), entwickelte aber im Folgenden aus einer entleerten Symbolik eine avantgardistische Ästhetik. Seine Dichtung ist sprachreflexiv und experimentell, seine poetologischen Essays (z.B. in Yucatán, 1993) enthalten Reflexionen über Bildkunst, Musik und Literatur. Auch mit Gattungsfragen hat sich der Autor wiederholt auseinandergesetzt und z.B. in Livet i troperne (1998; Das Leben in den Tropen) die Grenzen des Aphorismus ausgelotet. Es stellt sich also die Frage, wie dieser sprach- und formbewusste Autor mit der Gewaltthematik, aber auch mit der persönlichen Betroffenheit umgeht. Seine ausdrückliche Absicht formuliert er im Text selbst: Er will die Wahrheit erzählen, keinen Krimiplot entwerfen, so ehrlich, klar und nüchtern wie möglich schreiben und vor allem will er „ikke lave kunst på Elins død“ (242; keine Kunst aus Elins Tod machen).

Da derartige formale Überlegungen der Schreibarbeit zugrunde lagen, ist es legitim, den Bericht – wie es im Untertitel heißt – trotz der Trauer und der Befangenheit des Urhebers als literarischen Text zu beurteilen. Laut Selbstaussage des Autors ist er auf der Grundlage von Hunderten von Notizzetteln entstanden, die er in der Zeit nach dem Mord und während der Gerichtsverhandlung niedergeschrieben hat, um den Fall zu dokumentieren. Der daraus entstandene Text ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil schildert ein Weihnachtsfest bei der Schwester und dem Schwager in Jütland, wo sich die psychische Gewalt des Ehemannes deutlich zeigt, und die Ehefrau beschließt, ihn, nach mehreren vergeblichen Versuchen, endlich zu verlassen. Nach der Flucht aus dem gemeinsamen Haus versteckt sie sich an wechselnden Adressen, u.a. in einem Frauenhaus (»krisecenter«), bis sie ihr eigenes kleines Haus beziehen kann, doch immer noch in Angst davor, verfolgt und bedroht zu werden. Sie reicht die Scheidung ein und fordert eine Haushaltsteilung, bei der es dann zum Mord kommt. Die Tat selbst wird in der Chronologie zunächst ausgespart, weil der Autor, aus dessen Perspektive erzählt wird, nicht zugegen war.

Im zweiten Teil des Textes wird dann darüber ausführlich im Rückblick von verschiedenen beteiligten Personen berichtet. Dieser Teil ist der Dokumentation der Tat selbst, der Ermittlungsarbeit und den Reaktionen auf die Tat gewidmet, der persönlichen des Autors und Ich-Erzählers, aber auch der psychischen Reaktionen der Familienangehörigen und Augenzeugen. Der dritte Teil dann erzählt von der Gerichtsverhandlung, der Anklage, der Beweisaufnahme, den Zeugenaussagen, dem Plädoyer des Verteidigers und schließlich der Verurteilung. Der Blickwinkel des Berichts liegt immer bei dem Ich-Erzähler, aber es gibt viele Zitate von wörtlichen Repliken anderer Personen, die kursiv gekennzeichnet und damit als dokumentarisch markiert sind.

Trotz dieser dokumentarischen Elemente und des erklärten Bemühens um Wahrhaftigkeit ist der Bericht durch Einseitigkeit und Subjektivität geprägt. Schon der Titel lässt erkennen, dass es mit der Nüchternheit nicht weit her ist. Die Verwünschung und die Anrufung des Teufels lassen starke Gefühle und eine einseitige Haltung erkennen. Der Text ist höchst subjektiv und sensibel, man könnte ihn aber auch kritisch als selbstbezogen und vielleicht sogar larmoyant bezeichnen. Der Autor räumt denn auch freimütig ein: »Men jeg ser det i mordets lys, jeg ved det. Jeg ser alting i det lys« (159; Aber ich sehe es im Licht des Mordes. Ich sehe alles in dem Licht). Gerechtfertigt ist diese Befangenheit durch die Tatsache, dass die Argumentation nicht dem Nachweis der Schuld dient, an der es keinen Zweifel gibt, sondern der Darstellung der mannigfaltigen Implikationen der Gewalttat: wie sie sich angekündigt hatte und möglicherweise hätte vermieden werden können, welche psychischen Auswirkungen sie hat, wie die Ermittlungsarbeit und die juristische Aufarbeitung zu beurteilen ist und welche ungelösten Probleme sie hinterlässt. Aus diesem Bestreben heraus ist ein Text entstanden, der mindestens drei bemerkenswerte Aspekte hat.

Zum ersten ist es ein sehr persönlicher Text, dessen Fundament die Erinnerung an die getötete Schwester Elin darstellt. Sie tritt als eine an ihrem Arbeitsplatz und bei Familie und Freunden geschätzte, äußerst liebenswerte und selbstlose Persönlichkeit hervor, die in diesem Erinnerungsbuch mit dem Feingefühl und der Zuneigung charakterisiert wird, die ihr in ihrer Ehe versagt blieben. Posthum erhält sie dadurch die Aufmerksamkeit, die ihr als Mensch zukommt und auf die sie im Leben verzichten musste. Das sensible und doch unaufgeregte Porträt Elins, ihres ausgeprägten Familiensinns, ihrer Sorge für andere und ihrer Güte, macht eine der Stärken des Textes aus.

Zum zweiten ist der Bericht eine Auslotung der psychischen Folgen des Verbrechens für die Familie, zu der auch der Autor gehört. Als Schriftsteller ist es naheliegend für ihn, dass er das Schreiben benutzt, um die verstörende Tat zu bewältigen. Nachdem er zunächst ungeordnete Aufzeichnungen gemacht hatte, stützt er sich nun auf die Schrift, um die Tatsachen und seine Gedanken zu ordnen, um die Wahrheit zu ermitteln und – insofern das überhaupt möglich ist – Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen: »bogen [begyndte] at antage karakter af beskyttelsesrum. På en sær måde skærmede skriften mig mod hændelserne« (241; Das Buch begann den Charakter eines Schutzraumes anzunehmen. Auf eine merkwürdige Weise schirmte die Schrift mich vor den Ereignissen ab). Insofern handelt es sich um ein Therapiebuch.

Generell spielt die Frage der therapeutischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten eine große Rolle im Text. Der (etwas zu lange) Mittelteil der Studie beschreibt in vielen Wiederholungsschleifen die Reaktionen auf die Tat und die psychischen Probleme der verschiedenen Familienmitglieder als Folge davon. Die beiden Söhne, die in gewissem Sinne Mutter und Vater gleichzeitig verlieren, und andere Augenzeugen des Mordes haben diverse Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und müssen sich in therapeutische Behandlung begeben. Sie leiden dauerhaft unter den Erlebnissen, so dass die Gewalt neben den direkten Auswirkungen auch ernsthafte indirekte Folgen hat. In diesem Zusammenhang spricht Frank von einem Versagen der Sprache, von körperlichen Reaktionen und von einer Übermacht der Gefühle, die einer Machtlosigkeit gleichkommen: »I virkeligheden kan jeg nok slet ikke tale om, hvordan det føles. At det er umuligt at tale om det må være en del af magtesløsheden« (268; In Wirklichkeit kann ich wohl gar nicht darüber sprechen, wie es sich anfühlt. Dass es unmöglich ist, darüber zu sprechen, ist Teil der Machtlosigkeit).

Und doch ist es die Sprache, die Frank einen wichtigen Einfallswinkel, ein Instrument bei der Aufarbeitung des Mordes bietet.  Denn seine Aufmerksamkeit für die Sprache erlaubt es ihm, wichtige Elemente des Gewaltverbrechens selbst, aber auch seiner polizeilichen und juristischen Verfolgung herauszuarbeiten. In diesem Sinne bietet die Buchveröffentlichung – zum dritten – Anlass zu kritischen Überlegungen bezüglich der Arbeit der Behörden, der Polizei und der Justiz. Es beginnt mit dem mangelnden Eingreifen der Polizei, als die Situation bei der geplanten Haushaltsteilung zu eskalieren beginnt. In einem Telefonat, das im Übrigen das gesamte Ereignis einschließlich des Mordes in einer offenen Notrufleitung dokumentiert, bezeichnen die zu Hilfe gerufenen Polizisten die Lage zunächst als »husspektakel« (Familienstreitigkeit, wörtlich: häusliches Schauspiel!), zu dem sie nicht jedes Mal ausrücken könnten. Es setzt sich fort mit einer »mentalerklæring« (einem psychiatrischen Gutachten), das von einer Befragung der Angehörigen absieht und sich lediglich auf vier 45-minütige Interviews mit Standardfragen von professionellen Gutachtern bezieht, die zu dem Ergebnis kommen, der Täter sei nicht »sindssyg« (geisteskrank), und die keine Aussagen dazu machen, welch große Gefahr der Familie zufolge weiterhin von ihm ausgeht. Die Angst der Familie steht in keinem Verhältnis zu den Kategorien der Rechtspsychiatrie, die die Fragen nach der Bedeutung und den Konsequenzen der Bezeichnungen ›Psychopath‹, ›gefährlich‹ oder ›gestört‹ ausklammern.

Am wichtigsten sind solche allgemeinen Überlegungen zur Thematik des Frauenmordes oder Femizids. Frank zieht Studien und Forschungsergebnisse heran, gründet seine Wertungen aber wiederum auf eigene Beobachtungen der Sprache- und des Sprachgebrauchs. Eine genaue Repräsentation der Sprache des Täters offenbart seine narzisstischen Züge und entlarvt eine tief gestörte Persönlichkeit. Seine wiederholten direkten und indirekten Drohungen hätten als Warnung der späteren Gewalttat verstanden werden müssen. Die oft unsichtbar bleibende psychische Gewalt, die Formen wie Beschimpfen, Herabsetzen, Verspotten, Bloßstellen und Drohen annehmen kann, stellt nicht selten eine Vorstufe späterer physischer Gewalt dar und muss deswegen ernst genommen und als justiziabel eingestuft werden.

Auch die Sprache des Verteidigers wird unter die Lupe genommen. Zwar erfüllt er bei seinem Plädoyer die Aufgabe des Rechtsbeistandes für den Angeklagten, doch für die Familie ist seine Darstellung schmerzhaft, wenn er durch seine Wortwahl die Gewaltsituation verzerrt darstellt und das Verhältnis zwischen Täter und Opfer verdreht. Selbst unsere Alltagssprache bedarf der sorgfältigen Prüfung. Die häufig benutzte Formulierung einer ›Familientragödie‹ ist unangemessen und verfälschend, denn anstatt die Gewalttat mit der klaren Wortwahl als Tötungsdelikt oder Mord zu bezeichnen, wird durch die Umschreibung die Schuldfrage uneindeutig, auf mehrere Parteien verteilt und als unvermeidlich, da schicksalshaft, bewertet.

Vor allem durch sein sprachsensibles Vorgehen kann Niels Frank nicht nur über eine sehr verstörende persönliche Geschichte berichten, sondern auch auf einige generelle Aspekte dieses Femizids aufmerksam machen, die in der Zukunft sprachliche, praktische und evt. sogar juristische Konsequenzen haben könnten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Femizide statistisch gesehen meist in der Zeitspanne bis zu drei Monaten nach der Trennung geschehen; ein Wissen davon hätte womöglich diesen Mord verhindern können. Der Text ist daher weniger als spannende true crime-story denn als »brugsbog« (Debattenbeitrag) zum Thema oft unterschätzter psychische Gewalt zu lesen.  

Niels Frank: Fanden tage dig. Beretning om et kvindedrab, Gyldendal, 2022.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Prekär am Ende der Welt

Stark bestrahlte Räumlichkeiten leuchten uns entgegen. Raum im Raum im Raum… Das Licht ist so grell, dass nicht mehr erkennbar ist, was sich im Zentrum all dieser Räume befindet. Die einzigen klar definierten Elemente stehen in der Mitte des Covers: „Viggo Bjerring“ und „Verdenshjertet“. Nach der Novellensammlung Balancekatten („Die Balancekatze“) und dem Kurzroman QWERTY (beide 2016) erschien bei Ekbátana Viggo Bjerrings Debütroman Verdenshjertet (2021; „Das Weltenherz“), in dem wir das Leben des in prekären Arbeitsverhältnissen gefangenen 32-jährigen Mads im Kopenhagen einer nahen Zukunft verfolgen.

Eines Tages findet Mads auf der Online-Plattform EasyJobs einen gut bezahlten Auftrag, der darin besteht, einen Kriminalroman zu redigieren. Dieser wird zum Bestseller und die Auftraggeberin Ane Svendsen bietet Mads an, eine Fortsetzung zu verfassen. Ane Svendsen, eine Literaturagentin, wie sich herausstellt, benötigt für den zweiten Band lediglich 80 Seiten, die dem Text eine menschliche Prägung verleihen. Der Rest des Romans wird von einem Algorithmus verfasst. Mads reist um der Inspiration willen nach Berlin, wo er die ersten unerklärlichen Erfahrungen macht. Per Post erhält er ein mysteriöses Foto, das in der ehemaligen NSA-Abhörstation vor Jahrzehnten aufgenommen wurde. Entschlossen, den auf dem Foto abgebildeten Ort aufzusuchen, begibt er sich in den Grunewald. In den Ruinen der ehemaligen Station bemerkt er einen regelmäßigen Schlag, der an ein Herz erinnert. In der Dunkelheit kann sich Mads nicht mehr auf sein Sehvermögen und das Foto in seiner Tasche verlassen. Die einzige Orientierungshilfe bieten ihm die mechanischen und verführerischen Rhythmen des schlagenden Herzens. So wie Marlow in Joseph Conrads Heart of Darkness (1899), vom Trommelschlag berauscht, einem Zustand der abgestumpften Sinneswahrnehmung und Schläfrigkeit verfällt, tappt Mads im Dunkeln und geht den ohrenbetäubenden Geräuschen nach. Während Marlow, vom mythologischen Bild des Mr. Kurtz angetrieben, sich diesem immer weiter nähert und ihn schließlich machtlos im Gras liegend vorfindet, fällt Mads in Ohnmacht und wacht erst zwei Wochen später in seiner Berliner Wohnung auf. Was in dieser Zeit geschah, bleibt sowohl ihm als auch den Lesenden verborgen.

Als Mads seinen Laptop aufklappt, bemerkt er, dass er in diesen zwei Wochen bei seinem Romanprojekt vorangekommen sein muss. Die neuen Passagen („fremmedteksten“ S. 149 – „der fremde Text“) erscheinen ihm jedoch merkwürdig. Er erinnert sich nicht daran, sie geschrieben zu haben, obwohl darin, wenn auch deutlich dramatisiert, seine innersten Kindheitserinnerungen und Traumata geschildert werden. In diesen Passagen erfahren wir unter anderem, dass Mads höchstwahrscheinlich im jungen Alter seine Mutter verlor. Durch die höchst persönlichen Schilderungen aus Mads’ Leben, der hier trotz der berechtigten Zweifel als Urheber der Passagen gelten soll, wird eine starke Identifizierung der Leser:innen mit ihm hervorgerufen. Die Sprache wird poetischer, plötzlich wird im Präsens erzählt, und wir beobachten den jungen Ich-Erzähler aus unmittelbarer Nähe. Nach diesem stilistischen Wechsel befinden sich die Lesenden in derselben Position wie Mads: im Unklaren darüber, wer was wann schrieb. Wer, wenn nicht Mads selbst, könnte imstande sein, seine persönlichsten Erinnerungen wiederzugeben? Die verlorene Kontrolle über das eigene Gedächtnis wird dadurch verstärkt, dass sich Mads an ein Lied seiner Kindheit nicht mehr erinnern kann, das seine Mutter in einem Urlaub sang.

Abgesehen von der Traumabewältigung und der Frage der Autor:innenschaft stehen Geräusche und Musik im Zentrum des Buches. In Hinblick auf das Auditive wird eine deutliche Entwicklung im „fremden Text“ vollzogen. Am Anfang ist vom monotonen Klingeln des Festnetztelefons zu lesen, das der Ich-Erzähler durch laute Musik übertönen will. Diese Monotonie ist von den rhythmischen Herzschlägen aus dem Teufelsberg nicht weit entfernt: „Telefonen svarer igen: Ringetonen forandrer sig. Lyden bliver højere og mere aggressiv, hurtigere. Den har ringet mindst 20 gange nu.” (S. 147 – „Das Telefon klingelt wieder. Der Klingelton verändert sich. Das Geräusch wird lauter und aggressiver, schneller. Es hat jetzt mindestens schon 20 Mal geklingelt.“) Wie schon das Herz übt auch das ununterbrochene und immer stärker werdende Klingeln des Telefons eine starke Anziehungskraft auf den Ich-Erzähler aus. Er hebt ab und gibt den Hörer an seinen Vater. Mads’ Vater wird per Telefon mitgeteilt, dass seine Frau bei einem Autounfall starb.

In den darauffolgenden Passagen offenbart sich die Musik als Mittel zur Erkenntnis. Im letzten Abschnitt des „fremden Textes“ lesen wir vom Besuch des Ich-Erzählers, jetzt im Teenageralter, in einer Kirche. Der Organist spielt Buxtehudes Toccata in d-Moll und es wird anschaulich, welch berührende Kraft diese Musik für den Ich-Erzähler hat:

Jeg lukker øjnene, og nu kan jeg se de lange tonerækker for mig. Som en guirlande der roterer og skifter farve. Nu spilles der for fuldt udtræk. Tonerne bevæger sig gennem alle registre. Orgelets brus, det kan vælte én omkuld ligesom Vesterhavets bølger. (S. 169)

Ich schließe die Augen und kann jetzt die langen Tonabfolgen vor mir sehen. Wie eine rotierende Girlande, die ihre Farbe wechselt. Jetzt wird mit voller Kraft gespielt. Die Töne bewegen sich durch alle Register. Das Orgelbrausen, das kann einen umstürzen wie die Wellen der Nordsee.

Geräusche werden zu Musik. Die Monotonie und die zweckgerichtete Instrumentalisierung des klingelnden Telefons werden durch Farben und eine ziellose Bewegung „durch alle Register“ ersetzt. Zwar ist die Bedrohung der Nordseewellen präsent, die Einsicht jedoch, zu der der Ich-Erzähler gelangt, ist nicht mehr zu übersehen:

Musikken er himmel og helvede. Musikken er virkelig, det kan være svært at forstå. Musikken strømmer gennem mig, musikken trækker vejret gennem mig. Og nu, i et trolddomssekund, blæser musikken også en tanke ind i mig: at et menneske er et forsvindingspunkt. Et sted hvor universet forenes på én bestemt måde, der kun finder sted den ene gang. (S. 167-168)

Die Musik ist Himmel und Hölle. Die Musik ist wirklich, das kann schwer sein, zu verstehen. Die Musik strömt durch mich hindurch, die Musik atmet durch mich. Und jetzt, im Moment der Verzauberung, bläst die Musik einen Gedanken in mich hinein: dass der Mensch ein Fluchtpunkt ist. Ein Ort, an dem sich das Universum auf eine bestimmte Art und Weise vereint, so wie es nur dieses eine Mal stattfindet.

Die Erkenntnis, der Mensch sei ein Fluchtpunkt, macht die Tragik des Verlustes mit dem Begriff aus der Perspektivenlehre anschaulich. Die Einsicht des jungen Ich-Erzählers, dass kein Mensch wiederholt werden kann, widerspricht dem Coping-Mechanismus seines Vaters maßgeblich. Dieser ist nach dem Tod seiner Frau davon besessen, einen perfekten Kreis zu zeichnen, und glaubt, dass sie bald wiederkommen wird. Zum Misserfolg und dem Sich-In-Kreisen-Drehen verurteilt, flüchtet sich der Vater in eine eigene Welt, aus der er nicht mehr hinausfindet. Nach dem penibel aufgebauten dramaturgischen Höhepunkt der Kirchenszene wird die genremäßige Vermischung vervollständigt. Der Ich-Erzähler besteigt 46 von den 47 Stufen zur Orgel und greift nach einer Waffe in seiner Tasche. Der Organist spielt mittlerweile nicht mehr, die beiden schauen sich an. Der Ausgang dieser Szene bleibt uns verborgen.

Nach dem Lesen der neuen Seiten bleiben Mads bedeutendere Selbstreflexionen verwehrt, und auf die spannungsgeladenen, höchst persönlichen Passagen des „fremden Textes“ folgen Schilderungen aus Berlin. Die allgemeineren gesellschaftskritischen Beobachtungen lassen jedoch die Originalität und Schärfe der vorherigen Seiten vermissen:

De få, der havde taget klimaproblemet alvorligt i begyndelsen af årtusindet, havde troet, at det også betød, at kapitalismens tid var forbi. Men fremtiden var en rodebutik, havde det vist sig, og kun få havde forudset økokapitalismen, som de fleste partier i dag bekendte sig til. (S. 203)

Die Wenigen, die das Klimaproblem zu Beginn des Jahrtausends ernst nahmen, hatten geglaubt, dass das auch bedeuten würde, die Zeit des Kapitalismus wäre vorbei. Die Zukunft jedoch war ein Chaos, wie sich herausstellte, und nur die Wenigsten hatten den Ökokapitalismus vorausgesehen, zu dem sich heute die meisten Parteien bekannten.

Nach den mysteriösen Berlin-Erfahrungen trifft Mads die Literaturagentin Ane Svendsen und den Wissenschaftler und Kardiologen Magnus Svendsen in Dänemark. Magnus erläutert seine Hypothese, dass die Erde, wie sie gegenwärtig erlebt wird, eine von unseren Nachkommen gestartete Simulation ist. Ein endgültiger Beweis dafür sei ein Herz, das sich im Keller unter Svendsens Villa befindet. Dass es um die Simulation schlecht bestellt ist, merke man an den immer häufiger auftretenden ‚Glitches‘ und an der schlechter werdenden Verfassung des Weltenherzens. Die einzige Lösung sei, das Wissen um die Simulation wieder „aus dem Bewusstsein zu verbannen“ und somit die simulierte Welt zu retten. Die Menschen, die von der Simulation wissen – Ane und Magnus Svendsen sowie Mads – müssen, so Magnus’ Aufforderung, den Freitod wählen. Ane begeht daraufhin Selbstmord, Magnus stirbt unter tragischen Umständen, Mads weigert sich jedoch, diese Aufopferung zu vollziehen. Das Ende des Buches ist erneut von Bildern geprägt, die das Gefühl einer Katastrophe zu vermitteln vermögen:

Jeg drejede op ad Nørrebrogade. Overalt blev jeg mødt af det samme syn. Mennesker ubevægelige som mannequindukker. Børn, teenagere, voksne og gamle. Fodgængere, cyklister, bilister. Kvinder og mænd, brune og hvide. Alt og alle var stivnet i en vilkårlig positur. (…) Jeg bevægede mig gennem dette voksmuseum uden at røre ved noget. (S. 257)

Ich bog auf die Nørrebrogade ab. Überall bot sich derselbe Anblick. Menschen unbeweglich wie Schaufensterpuppen. Kinder, Teenager, Erwachsene und Alte. Fußgänger, Fahrradfahrer, Autofahrer. Frauen und Männer, Braune und Weiße. Alles und alle waren erstarrt in einer willkürlichen Pose. (…) Ich bewegte mich durch dieses Wachsmuseum, ohne etwas anzufassen.

Aufgrund der völligen Unbeweglichkeit von Mads’ Umgebung fällt den Lesenden sogar eine einfache Fortbewegung zu Fuß stark auf. Trotz des Ernstes der Situation in sich ruhend und mit der erstarrten Welt rund um ihn konfrontiert, fällt Mads endlich der gesamte Liedtext, den seine Mutter sang, ein. Mitten in dieser an ein Foto erinnernden Szene nähern wir uns ein letztes Mal Mads. Er scheint von den Urheber:innen der Simulation vergessen worden zu sein.

Durch die Idee, die Existenz sei eine pure Simulation, wird die Frage der Autor:innenschaft auf die Spitze getrieben. Das Buchcover scheint die Verschachtelung von Verdenshjertet wiederzugeben. Text im Text im Text. Diese Verschachtelung führt uns vor Augen, dass Mads sich im Unklaren darüber ist, welchen Text er selbst verfasst hat und welcher möglicherweise von einem Algorithmus stammt. Zwar leidet die Dramaturgie von Verdenshjertet unter dem Sprung vom „fremden Text“ zurück in Mads’ Realität. Doch verdeutlicht Viggo Bjerring auf überzeugende Art und Weise, dass es im digitalen Zeitalter längst nicht mehr selbstverständlich ist, den Ursprung eines Textes auf eine oder mehrere klar definierte Verfasser:ininstanzen zurückzuführen. Das Buch kann im letzten Drittel mithilfe der Schilderungen eines nahenden Endes der Simulation eine Untergangsstimmung vermitteln. Das erstarrte Kopenhagen ähnelt einer auf einem Foto festgehaltenen Szene: „Nu var der intet, der bevægede sig mere. Kun mit hjerte der slog helt normalt. En god rytme, et fast taktslag.“ (S. 258 – „Jetzt bewegte sich nichts mehr. Nur mein Herz, das ganz normal schlug. Ein guter Rhythmus, ein stetiger Takt.“)

Viggo Bjerring: Verdenshjertet, Valby: Ekbátana, 2021.

(Anton Matejicka, Universität Wien)

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»Insta-Bücher« und digitale Kurzerzählungen: Von Alexander Kielland Krags @dbmo_2020 zu @pokketstories

Norwegens erster Instagram-Roman

Im Jahr 2020 veröffentlichte Alexander Kielland Krag mit Dette blir mellom oss (Das bleibt unter uns) seinen ersten Jugendroman, der parallel dazu auch als erster norwegischer Roman auf Instagram erschien. Sowohl Kielland als auch Krag sind wohlbekannte Namen in der norwegischen Literatur. Im Jahr 1880 veröffentlichte Alexander Kielland (1849–1906) seinen ersten Roman Garman & Worse und wurde schnell zu einem der bekanntesten norwegischen Autoren. Gemeinsam mit Henrik Ibsen, Bjørnstjerne Bjørnson und Jonas Lie wurde er von seinem Verlagshaus Gyldendal zu einem »der vier Grossen« (De fire store) gekürt, eine PR-Strategie, die noch heute als Bezeichnung weiterlebt. 

Vilhelm Krag (1871–1933) veröffentlichte sein erstes Gedicht »Fandango« im Jahr 1890 und positionierte sich damit gegen die realistische Literatur von Autoren wie Alexander Kielland. Im Store Norske Leksikon (Großes norwegisches Lexikon) schreibt der Literaturwissenschaftlicher Henning Howlid Wærp: »Da Vilhelm Krag debuterte som dikter, var det som en markant ny stemme i norsk lyrikk som ble møtt med skepsis i forlagene, men som ble omfavnet av unge lesere.«

(Vilhelm Krag debütierte als Dichter mit einer markant neuen Stimme in der norwegischen Lyrik, die von den Verlagen mit Skepsis betrachtet, aber von jungen Leser:innen mit Begeisterung empfangen wurde.)

Fast 150 Jahre später veröffentlichte also Kiellands Ururenkel und Krags Urenkel mit Dette blir mellom oss seinen ersten Roman und Norwegens ersten Instagram-Roman – wie Kielland in einem realistischen Stil bei Gyldendal, aber wie Krag mit »einer markant neuen [aber ganz anderen] Stimme,« die dieses Mal vorwiegend auf Begeisterung traf. »Norwegens erster Instagram-Roman« ist mehr als eine neue PR-Strategie. Mit ihm überschreiten Kielland Krag und Gyldendal die Grenzen des traditionellen Buchmediums, schaffen neue Leseerfahrungen und – so zumindest die Hoffnung des Verlags – erreichen ein neues Lesepublikum. 

In Dette blir mellom oss beginnt der 17-jährige Felix nach einem Umzug von Stavanger nach Oslo auf einer neuen Schule. Gleich zu Beginn freundet er sich mit Philip an und verliebt sich in Nicolai. Ob Nicolai die gleichen Gefühle für Felix hat, ist unklar. Genauso ist Felix unsicher, was und wieviel er seinen neuen Freunden erzählen soll. Damit berührt Dette blir mellom oss sowohl typische Jugendbuch-Themen wie Freundschaft, das erste Verliebtsein, Sexualität, Auseinandersetzung mit Normen und Erwartungen und Identitätssuche als auch das seltener behandelte Thema Homosexualität.

In gedruckter Buchform besteht Dette blir mellom oss aus kurzen Texten von maximal etwas mehr als einer halben Seite. Dieses Kurzformat ist eine logische Konsequenz der digitalen Instagram-Version, für die der Text geschrieben wurde. Auf dem Instagram-Kanal @dbmo_2020 wurden ab dem 6. Mai 2020 ein paar Seiten zusammengefasst zu 38 Kapiteln in den Stories veröffentlicht. Als Highlights sind sie entgegen der oft erfahrenen Kurzlebigkeit von sozialen Medien bis heute verfügbar (allerdings auf @pokketstories, mehr dazu später).

@dbmo_2020 bedient sich der vielfältigen Möglichkeiten des digitalen Formates, um ein multimodales Leseereignis zu schaffen, das das Buchformat nicht leisten kann. Da Instagram im Gegensatz zum Buchmedium vorrangig ein Bild- und kein Textmedium ist, ist die visuelle und – je nach Format des Postings – auditive Dimension wichtig, sowohl um den Erwartungen der Lesenden entgegenzukommen als auch um den ‚Spielregeln‘ und Funktionsweisen des Mediums gerecht zu werden. In diesem Sinne werden die Textabschnitte mit Bildern, Videos und Ton ergänzt. Ankündigungen von Seiten des Verlages, ausgewählte Zitate und Portraits der Hauptfiguren sind zusätzlich als Bild auf dem Feed veröffentlicht. 

Die visuelle Ausformung des Instagram-Romans führt damit zu einer anderen Leseführung. Die Geschichte von Dette blir mellom oss ist aus Felix‘ Perspektive erzählt. In der Instagram-Version wird diese Innenperspektive jedoch mit einer Außenperspektive ergänzt, zum Beispiel wenn der Text mit einem Bild von Felix kombiniert wird. Diese visuelle Komponente ist streng genommen nicht notwendig, der Text spricht für sich und die zahlreichen Leerstellen, die sowohl durch die rigorose Auswahl von als auch durch die kurzen Texte selbst entstehen, machen den Jugendroman ebenso für erwachsene Leser interessant. Gleichzeitig muss man jedoch anerkennen, dass nicht alle eine solche ‚Lesefreiheit‘ als literarische Qualität wertschätzen. Die Stärke der Doppelpublikation von Dette blir mellom oss liegt darin, Wahlmöglichkeiten anzubieten und damit auch Gruppen zu erreichen, die wenig oder gar nicht täglich lesen.

Die Reaktionen auf Dette blir mellom oss und @dbmo_2020 waren erwartungsgemäß vielfältig und positiv. Die Buchkritiken beziehen sich verständlicherweise vor allem auf die gedruckte Version – diese war Anfang Mai im Unterschied zur Instagram-Version gleich als Volltext verfügbar. Zur digitalen Version nennt Gyldendal auf seiner Homepage ein paar eindrucksvolle Zahlen: 9000 Follower nach zwei Wochen, die der Geschichte durchschnittlich fünf Minuten ihres Tages widmen; sieben von zehn Followern sind unter 34. Für die Buchversion konnte Gyldendal darüber hinaus überdurchschnittlich hohe Verkaufs- und Ausleihzahlen für einen Jugendbuchroman verzeichnen. Im Jahr 2021 gewann Kielland Krag Trollkrittet, den Debütant:innenpreis der Vereinigung norwegischer Kinder- und Jugendbuchautor:innen (Norske Barne- og Ungdomsbokforfattere), und war für den Bokbloggerprisen (Buchbloggerpreis) und den Debütant:innenpreis für Kinder- und Jugendliteratur des norwegischen Kulturministeriums nominiert. Im selben Jahr hat das digitale Format von Dette blir mellom oss außerdem den Fast Company’s World Changing Ideas-Preis in der Kategorie »Medien und Unterhaltung« gewonnen, gefolgt von der Auszeichnung DOGA-merket der Stiftelsen Design og arkitektur Norge (Stiftung Design und Architektur Norwegen).

Mitte August 2021 wird auf @dbmo_2020 angekündigt, dass Kielland Krag in wenigen Tagen seinen zweiten Roman veröffentlicht: Litt redd, bare (Nur ein bisschen Angst). Auch dieses Mal wählt Kielland Krag ein Thema, dass sowohl relevant als auch wenig beachtet ist. Der 17-jährige Cornelius erlebt plötzlich einen Panikanfall. Zunächst verunsichern ihn die Symptome, danach auch die Frage, wie er mit Angst umgehen soll, und, nicht zuletzt, wie und mit wem er darüber sprechen kann. Deshalb zieht Cornelius sich immer mehr vor seinen besten Freunden zurück, die allerdings ahnen, dass es dafür einen Grund gibt, den Cornelius versucht zu verdecken.

Stilistisch erinnert Litt redd, bare mit kurzen Textabschnitten an Dette blir mellom oss. Auf @dbmo_2020 wurden dieses Mal aber nur Auszüge veröffentlicht, im Feed, in den Stories und als Reels. Wo Dette blir bare mellom oss die Lesenden trotz der kurzen Textabschnitte in eine zusammenhängende, sich entwickelnde Geschichte hineinzieht, stockt Litt redd, bare teilweise durch ausführliche metaphorische Gefühls- und Situationsschilderungen wie in dem folgendem Beispiel: »Jeg bruker tårer som bensin – løper helt hjem uten å bli sliten. Kommer inn i gangen med orkan i kroppen og slenger døren hardt igjen bak meg.« (184, Ich verwende Tränen wie Benzin – laufe bis ganz nach Hause, ohne müde zu werden. Komme in den Flur mit einem Orkan im Körper und schmeiße die Tür hinter mir zu.) Für Litt redd, bare gewann Kielland Krag Uprisen, einen von Jugendlichen gewählten Preis für das Jugendbuch des Jahres. Außerdem war er für den Kinder- und Jugendliteraturpreis des norwegischen Kulturministeriums nominiert. Im Gegensatz zum Debütroman ist die Aufmerksamkeit aber gering und auf @dbmo_2020 wird es ruhig.

Kollektives Instagram-lesen und ‚neues‘ Schreiben

Ein Kanal in den sozialen Medien, der nicht bespielt wird, funktioniert nicht, da er kein Engagement der Follower generiert und damit der Logik der sozialen Medien widerspricht. Am 16. November 2022 kündigte Gyldendal auf @dbmo_2020 überraschend an, dass sie gerade auf Wunsch der Follower an einem neuen Konzept arbeiten. Der Kanal wird in diesem Zusammenhang seinen Namen von @dbmo_2020 zu @pokketstories ändern. Das Konzept: »Les og opplev bøker, kortfortellinger, originale historier direkte i feeden din.« (Post vom 16. November 2022, Lies und erlebe Bücher, Kurzerzählungen, originale Geschichten direkt in deinem Feed.) Kurze Zeit später ist @dbmo_2020 nicht mehr suchbar, und am 24. November 2022 erscheint in den Stories von @pokketstories die Kurzerzählung Igjen (Wieder) von Kielland Krag über ein zufälliges Wiedersehen nach dem Ende einer Beziehung mit einer angekündigten Lesedauer von vier Minuten. Am Tag darauf folgt die Kurzerzählung Det svarte speilet (Der schwarze Spiegel) von Ingeborg Aasbrenn, Lehrerin und Lehrbuchautorin, über das Sehen und Nicht-Sehen des eigenen Ichs mit einer angekündigten Lesedauer von einer Minute. In welche Richtung @pokketstories sich bewegen wird, ist damit zunächst unklar. Fünf Tage später, am 30. November 2022, kommt immerhin eine vorläufige Aufklärung: Sowohl Kielland Krag als auch Aasbrenn sind Jurymitglieder eines von @pokketstories arrangierten Schreibwettbewerbs (www.kortfortellinger.no) für Oberstufenschüler:innen. Die Schüler:innen sind dazu aufgerufen, Beiträge einzusenden, die @pokketstories als kortfortellinger (Kurzerzählungen) definiert: »[D]igital litteratur som leses raskt. Hastighet og rytme styres av en liten mengde tekst per side som man tæpper seg gjennom.« (Digitale Literatur, die schnell gelesen wird. Geschwindigkeit und Rhythmus werden gesteuert von einer kleinen Menge Text pro Seite, durch den man sich hindurchklickt.) Ein eigens entwickeltes Schreibprogramm soll dabei unterstützen, für dieses Format zu schreiben. @pokketstories wird einige Wettbewerbsbeiträge zukünftig in den Stories teilen.

Abbildung 1 Material von @dbmo_2020 auf @pokketstories
Abbildung 2 @pokketstories

Damit erweitert der Kanal den Begriff ‚Social Media Engagement‘, und Literatur wird zum Ausdruck digitaler Kreativät. Bei @dbmo_2020 stand das kollektive Lesen eines Romans in den sozialen Netzwerken im Vordergrund, bei dem die Kommentar- und Like-Funktion das Teilen von und Teilhaben an Leseerfahrungen für alle ermöglicht. @pokketstories hingegen scheint zumindest vorläufig auf einen größeren Beitrag der ‚Community‘ zu setzen, bei der sich die Rollen von Lesenden zu Schreibenden verschieben. Das neue Konzept wird von einer neuen Graphik unterstützt. Die textbasierten Posts, die Jørgen Brynhildsvoll für @dbmo_2020 designt hat, sind von einer klaren Linie mit zwei deutlich unterschiedlichen Farben geprägt, wie schwarz und weiß. Die neue Graphik hingegen ist spielerischer und bunter indem sie mehrere Farben wie grün, lila und schwarz in verschiedenen Nuancen in einem Post kombiniert, wodurch die geplante inhaltliche Vielfältigkeit unterstrichen wird. Das Material von @dbmo_2020 ist bisher aber weiterhin auf @pokketstories verfügbar.

In den nächsten Jahren kommen hoffentlich weitere Instagram-Bücher hinzu. Der Ausgangspunkt von @dbmo_2020 beziehungsweise @pokketstories war der Versuch, Jugendliche durch kurze tägliche Abschnitte für die Lektüre eines Romans zu gewinnen. Auf kurze eigenständige Texte trifft man dahingegen regelmäßig. Dass Webseiten immer öfter Verweise auf die Lesedauer eines Artikels enthalten um den Leser:innen einen Überblick zu geben, kann in Hinblick auf die variierenden Längen hilfreich sein. Bei Instagram ist die Lese- beziehungsweise Textlänge aufgrund plattformspezifischer Restriktionen aber bereits begrenzt. Inwieweit die Angabe von Lesezeiten in Bezug auf kortfortellinger und das lesefördernde Ziel des Kanals sinnvoll ist, lässt sich daher diskutieren.

Allein der Neugierde halber wird es sich aber lohnen mitzuverfolgen, wie sich @pokketstories weiterentwickelt und welche neuen digitale Medien und Kanäle Verlage in den nächsten Jahren wählen, um Literatur zu veröffentlichen und zu vermitteln, und wie diese das Literaturverständnis und das Leseverhalten mitgestalten. Mit Dette blir mellom oss/ @dbmo_2020 haben Kielland Krag und Gyldendal bereits gezeigt, wie fruchtbar neugedachte Formen von Literatur sein können.

Kielland Krag, Alexander: Dette blir mellom oss. Oslo: Gyldendal, 2020.

@dbmo_2020

@pokketstories

(Hannah Tischmann)

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