(Ver-)Fallstudie einer Großstadt

Das prachtvolle Gebäude der Kopenhagener Oper sieht auf einmal so verletzlich aus. Die Hälfte des Daches liegt am Boden und der leere Konzertsaal offenbart sich. Was ist hier geschehen, dass die Menschen die Kulturstätte derart verfallen ließen? Trotz der düsteren Untergangsstimmung ist im selben Bild eine Hand zu sehen. Sie schreibt. Oder zeichnet. Ihre schaffende Kraft steht in starkem Kontrast zu dem überwältigenden Bild der halb zerstörten Oper (vgl. Abb. 2). Durch Text wird diese Szenerie nicht ergänzt. Christian Skovgaards Efter København (2022) beinhaltet lediglich 77 Sätze, und diese sind auf den knapp 200 Seiten spärlich verteilt. Diese Graphic Novel verlässt sich auf die Kraft der dreifarbigen Illustrationen des von Pestwolken geplagten Kopenhagen, das doch nicht so menschenleer ist, wie es zunächst wirkt.

Skovgaard, Grafikdesigner mit Erfahrung im Architekturbereich, lässt sich von zwei Werken aus dem späten 19. Jahrhundert inspirieren, Richard Jeffries’ After London (1885) und John Ruskins The Storm Cloud of the Nineteenth Century (1884), in denen die Autoren vor der Luftverschmutzung des viktorianischen Englands warnen. Aus den Essays des Malers, Kunsthistorikers und Schriftstellers Ruskin entlehnte Skovgaard sogar ganze Sätze, die einen Großteil des Prologs ausmachen. Abgesehen von der post-apokalyptischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts kommuniziert Efter København auch mit den Zukunftsvisionen der darauffolgenden Jahrhundertwende. Gleichzeitig mit der Graphic Novel veröffentlichte Skovgaard Postkarten, auf denen die verfallenen Sehenswürdigkeiten der Erzählung abgebildet sind. Diese erinnern an die Anfang des 20. Jahrhunderts u.a. von Jean-Marc Côté gezeichneten Postkarten, die das Leben im Jahr 2000 imaginierten. Die Motive bildeten unterschiedliche Gesellschaftsbereiche ab und wurden zunächst in der Weltausstellung 1900 in Paris gezeigt.

Efter København besteht aus drei Teilen. Im Prolog folgt der Text einem anderen Erzählstrang als das Bild. Dadurch wird eine Spannung aufgebaut, die erst im Hauptteil des Buches aufgelöst wird. Während in den textuellen Ausführungen die derzeitigen Wetterzustände mit jenen vor der Katastrophe in Verbindung gebracht werden, finden wir im Text keine Erklärung oder Begleitung der Geschehnisse auf den Bildern. Dort begegnen wir zum ersten Mal der düsteren Realität des verpesteten Kopenhagen, in dem ein Großteil der menschlichen Bevölkerung in einen präzivilisatorischen Zustand verfallen zu sein scheint. Zwei Personen, die Hauptfiguren des Prologs, ernähren sich von selbstangebautem Getreide und sind allgegenwärtigen Gefahren ausgesetzt. Sei es vonseiten der Wölfe, Vögel oder anderer Mitmenschen. Bei einem Überfall kommt eine der beiden Figuren ums Leben. Der zweiten Person gelingt es, zu flüchten und die Polizei aufzusuchen. Es kommt jedoch zu einem Gerichtsverfahren, bei dem sie möglicherweise aufgrund des illegalen Getreideanbaus zu Strafarbeiten verurteilt, gar als Sklavin verkauft wird. Der Prolog endet mit dem Ausbruch eines Feuers, vor dem die Strafarbeiter:innen zu flüchten vermögen. Im letzten Bild sehen wir die Hauptfigur an der Spitze des Turms der Vor Frelsers Kirke stehen.

Der Prolog erscheint mit seinen religiösen Anspielungen (die Aussaat, verheerende Brände und Besteigung des Kirchturmes) und den eingeführten Motiven kohärent mit dem weiteren Verlauf der Geschichte. Bereits hier sehen wir Bilder des zerstörten Kopenhagens, dessen bekannteste Gebäude in den Illustrationen nummeriert sind. Efter København ähneltmit seinen fehlenden Seitenzahlen der Karte einer Stadt, bei der uns die Zahlen von einer verfallenen Sehenswürdigkeit zur nächsten führen.1 Zugleich illustrieren die Ruinen das Ausmaß der Katastrophe, deren Ursachen als »pestvinden« (S. 30; Pestwind) und »pestskyen« (S. 2; Pestwolke) beschrieben werden. Ihr Ursprung bleibt allerdings im Dunkeln: »Blege sol, pestsyge græs, blinde menneske [sic!]. Hvis man til slut spørger om en tænkelig årsag til disse begivenheder eller en
mening med dem, kan der ikke gives nogen.« (S. 49; Fahle Sonne, verpestetes Gras, blinde Menschen. Fragt man schließlich nach einer möglichen Ursache dieser Geschehnisse oder nach ihrer Bedeutung, kann keine gegeben werden.)

In Kontrast zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen und infrastrukturellen Verfall steht die wuchernde Pflanzenwelt. Im Prolog eingeführt, wird das Vorkommen der nicht selten im Vordergrund der Bilder stehenden Gewächse immer häufiger. Dadurch wird eine direkte Verbindung zur ersten Inspirationsquelle für Efter København hergestellt, Richard Jeffries’ After London (1885). Dort fallen besonders die ausufernden Schilderungen der üppigen Pflanzenwelt an jenem Ort auf, an dem Jahre zuvor London lag. Kopenhagen liegt jedoch nicht wie London unter Wasser. Hier sind die das Stadtbild prägenden Gebäude weiterhin erkennbar, bloß ihrer Funktion entleert. In Efter København entspricht der Zyklus der in den Flammen sterbenden, jedoch wiederauflebenden Pflanzen dem der menschlichen Zivilisation. Obgleich jegliche Institutionen und die kulturellen sowie politischen Zentren zerstört sind, wird der Mensch nicht ausgelöscht. Der post-gesellschaftliche Mensch ist auf die Bildung kleinerer Gemeinschaften angewiesen, wie die Gruppierung der an prähistorische Lebensformen erinnernden Personen (vgl. S. 25–26), oder die im gemeinsamen Haushalt lebenden C und E, die die Hauptfiguren des Buches im weiteren Verlauf darstellen.

Der Übergang vom Prolog zum Hauptteil des Buches ist fließend. Zwar trennen sie vier leere lila gefärbte Seiten, diese erinnern jedoch weniger an einen Schnitt, sondern geben Zeit, um vom Gipfel der Vor Frelsers Kirke hinunter zum nächsten Bild zu kommen. Die Haupterzählung beginnt nämlich mit einem Samen, dessen Entwicklung hin zu einer verdorrten (verpesteten?) Pflanze wir in 14 kleinen Bildern mitverfolgen können. Diesmal besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Text und Bild. Nach den Abbildungen aller Wachstumsstadien der Pflanze lesen wir: »… Jeg kan huske disse plantetegninger, fra dengang vi var små. Giver du dem til mig nu?« (S. 62; … Ich erinnere mich an die Pflanzenzeichnungen, von früher, als wir klein waren. Gibst du sie mir jetzt?) Im Vergleich zu den textuellen Ausführungen im Prolog, die ausschließlich Wetterzustände schildern, haben wir es hier mit einem Dialog zwischen den Hauptfiguren E und C zu tun. Ihr ganzes Leben verbrachten sie unweit Kopenhagens. E will zum ersten Mal die Innenstadt sehen und verlässt das Haus. Aus ihren Dialogen, die mithilfe eines nicht näher nicht definierten Mediums stattfinden, erfahren wir, dass C sich um E sorgt und deshalb selbst nach Kopenhagen wandert, um sie aufzusuchen. C bindet sein eigenes Tagebuch, in das wir im weiteren Verlauf immer mehr Einblicke gewinnen und das immer stärker an das Buch Efter København selbst erinnert.

Abbildung 1

Auf insgesamt sechs Doppelseiten sehen wir Cs Hand mal mit Stift, mal ohne. Wir nehmen seine Perspektive ein und erleben das (Auf-)Zeichnen seiner Erlebnisse mit: »Landskabet bliver goldere, jo tættere jeg kommer på byen.« (S. 110; Je näher ich der Stadt komme, desto unfruchtbarer wird die Landschaft.) Abgesehen von der Beobachtung eines malerischen Blickes werden wir mit Cs Zweifeln konfrontiert: »Var det forkert at rejse hertil?« (S. 122; War es falsch, hierher zu kommen?) Mithilfe der Kombination der Ich-Perspektive und der Standortbestimmung »hertil« werden die Lesenden selbst nach Kopenhagen befördert und dazu aufgefordert, Cs Dilemma mitzuerleben. In Kopenhagen wird C vor den aufkommenden Pestwolken von einem alten Mann gerettet, der ihm von der Zeit vor der Katastrophe erzählt. Sein Aussehen, das an Darstellungen von Gottvater erinnert, und seine erzählerische Autorität werden durch die Illustration verstärkt, in der er in übermäßiger Größe und scheinbar oberhalb der Geschehnisse dargestellt wird (Abb. 1). Auf der nächsten Doppelseite mit Cs Hand hält diese keinen Stift mehr, sondern zeigt auf ein X. Dies sei der Ort, an dem der alte Mann zuletzt eine junge Frau, vermutlich E, gesehen habe: »Derefter sender han mig af sted.« (S. 162; Danach schickt er mich weg.) Der alte Mann scheint nicht nur erzählerische Autorität zu besitzen, wodurch er zu einem Wissensspeicher aus der Zeit vor der Pest wird. Er ist zugleich imstande, C an einen Ort zu »senden«, an dem er E auffinden kann. Kurz darauf stellt sich jedoch heraus, dass die Suche nach E kein glückliches Ende in Form eines Wiedersehens haben wird. E macht nämlich klar, dass für sie kein Weg zurück existiert und sie keine Rettung benötigt:

C: Jeg kom for at redde dig! (S. 177)

E: Så kom du forgæves. Jeg kom her efter København, men også for at skabe noget nyt – på egen hånd. (S. 179)

C: Ich bin hergekommen, um dich zu retten!

E: Dann kamst du umsonst. Ich kam wegen Kopenhagen her, aber auch, um etwas Neues zu schaffen – selbstständig.

Das »efter«2 im Titel des Buches bekommt abgesehen von der zeitlichen Bedeutung auch eine örtliche. E ist sich im Klaren darüber, dass das Kopenhagen, wie sie es aus Stadtführern kannte, nicht mehr vorhanden ist. Sie ging jedoch mit der Absicht dorthin, etwas Neues zu schaffen. Mit diesem Gespräch von C und E endet das Tagebuch. Auf der letzten Doppelseite mit Cs Hand ist nun das geschlossene Buch im Ganzen zu sehen. Dass C nicht mehr die Kontrolle über die geschilderten Ereignisse hat, wird auf zwei Doppelseiten am Ende von Efter København deutlich. Zunächst sehen wir ihn in der Mitte des Bildes. Zu beiden Seiten liegt der Wohnkomplex 8tallet, vor ihm breiten sich die Felder aus. Wolken über den Feldern bedecken einen Teil des Himmels und C blickt nach vorne. Die Illustration ist eine direkte Anspielung auf Caspar David Friedrichs Ölgemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818), wodurch eine Verbindung zur Romantik hergestellt wird. Die zweite Doppelseite zeigt dasselbe Motiv, nun allerdings ohne C. Die Wolken haben diesmal etwas mehr Struktur und erinnern zum Teil an Lebewesen, deren Ursprung keineswegs als rein menschlich bezeichnet werden kann. An Cs Stelle liegt sein Tagebuch auf dem Boden. Von einem Windstoß aufgeschlagen, bekommen wir einen letzten Einblick ins Tagebuch. Anhand der Größe der Bilder und deren Zusammensetzung erkennen wir, dass hier jene Doppelseite zu sehen ist, auf der der Lebenszyklus einer Pflanze geschildert wurde. Es sind die Bilder, mit denen der Hauptteil von Efter København beginnt (vgl. S. 61–62). Die Lesenden werden mit den Fragen zurückgelassen, ob Efter København selbst das aufgefundene Tagebuch ist und für wen die Erinnerungen und Beobachtungen aufgezeichnet wurden.

Abbildung 2

Das Tagebuch bekommt im Epilog ein neues Publikum und somit ein weiteres Leben. Es wird von einem Mann aufgesammelt und zu E gebracht. Es Rolle und selbstgewählte Aufgabe wird auf den letzten Seiten verbildlicht. Sie scheint, zusammen mit einer Gruppe von Ruinenbewohner:innen, handwerklichen Tätigkeiten und dem Sammeln von Büchern nachzugehen. »På egen hånd” (S. 179; eigenmächtig) hat nicht nur eine metaphorische Bedeutung: auf eigene Faust Kopenhagen zu entdecken und allein zurechtzukommen. Es ist gleichzeitig auch der Wunsch, etwas mit den Händen zu erschaffen und auf diese Art und Weise ein neues System zu etablieren, in dem Autonomie und Selbstversorgung die imperative Funktion übernehmen. Efter København hebt das langwierige und anspruchsvolle Do-it-yourself-Prinzip auf zwei Ebenen hervor. Erstens thematisiert es Bemühungen, eine neue Gesellschaftsform aufzubauen. Zweitens verdeutlicht es die materielle Entstehung des Tagebuches, die aus Cs Buchbinderfähigkeiten resultiert. Wir sind Zeug:innen seines Illustrierens, das durch die wiederholte Darstellung seiner stifthaltenden Hand unterstrichen wird. Wir gewinnen nicht nur den Eindruck, dass wir anhand des genauen Stadtplans am Anfang des Hauptteils Kopenhagen erkunden (S. 67–68), sondern dass die Stadt vor unseren Augen in Tagebuchform gerade erst geschrieben und gezeichnet wird. Letzen Endes gibt Efter København nicht vor – und darin liegt die Einzigartigkeit der Graphic Novel – in welcher Reihenfolge die Bilder innerhalb einer (Doppel-)Seite gelesen werden sollen. Die Lesenden werden dazu aufgefordert, die für sie schlüssigste Bilderabfolge zu wählen oder mit der Gleichzeitigkeit zurecht zu kommen. Diese Gleichzeitigkeit der Geschehnisse hat etwas Unmittelbares und Drängendes, das gerade für die post-apokalyptische Ökoliteratur ein geeigneter Modus operandi zu sein scheint.

Skovgaard, Christian: Efter København. Kopenhagen: Forlæns, 2022.

(Anton Matejicka)


1 Für bessere Übersicht wurde von mir eine Seitennummerierung vorgenommen. Sie beginnt auf der Seite mit einer Blumenzeichnung und dem Schriftzug: »Prolog«.

2 Dt. nach (zeitlich); wegen, aufgrund

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Dämonie und Leerstellen

Selten scheint einer literarischen Form eine so kurze Lebenszeit beschieden gewesen zu sein wie der sogenannten SMS-Novelle. Angeblich in Japan um die Jahrtausendwende entstanden, erlebte sie ihren Höhepunkt kurz nach 2010, als ›Simsen‹ zu einer Alltagspraxis geworden war und weltweit 6,1 Trillionen Kurznachrichten verschickt wurden. Mit SMSpress entstand 2010 in Skandinavien sogar ein eigener ›Verlag‹, der sich auf die Distribution von SMS-Novellen in Dänemark, Norwegen und Schweden spezialisierte. Die unauflösliche Verkopplung der literarischen Form mit der auf 160 Textzeichen beschränkten SMS-Technologie erwies sich indes als fatal, als ›Simsen‹ (im Englischen bezeichnenderweise: ›texting‹) in den 2010er Jahren zunehmend von Messengerdiensten und von Postings in den euphemistisch ›sozial‹ genannten Medien verdrängt wurde, die neben Text auch Bild und Ton einbinden konnten.

Die SMS-Novelle

Obwohl Autoren und Autorinnen wie Peter Adolphsen, Merete Pryds Helle oder Svend Åge Madsen sich an der SMS-Novelle versuchten, blieb sie in Dänemark unter dem Radar der Literaturkritik und wissenschaft. Was für ein ästhetisches Potential der SMS-Novelle jedoch innewohnt(e), ist in Steen Langstrups unlängst veröffentlichter Novellensammlung SMS zu erkennen. Auf 104 Seiten werden hier fünf SMS-Novellen abgedruckt, die der Autor ursprünglich zwischen 2011 und 2021 veröffentlicht hat und die jetzt als Buch pünktlich zum dreißigjährigen Jubiläum der SMS-Technologie erschienen.

Die buchförmige Veröffentlichung geht allerdings mit einem Medienwechsel mit weitreichenden ästhetischen Implikationen einher: Während eine SMS-Novelle sich in Form von Kurznachrichten entfaltet, über deren Zusendungszeitpunkt und -frequenz auf das eigene Handy der Leser oder die Leserin keine Kontrolle hat (und auf die er oder sie sogar antworten könnte), werden die Kurznachrichten in der Novellensammlung SMS in Sprechblasen auf Seiten mit viel weißem Raum angeordnet und die Rezeptionsgeschwindigkeit so ganz dem Leser oder der Leserin überlassen. Reminiszenzen an den Briefroman des 18. Jh.s oder den Emailroman des ausgehenden 20. Jh.s werden durch die buchförmige Veröffentlichung zwar evoziert, lassen jedoch eher die medialästhetischen Besonderheiten einer SMS-Novelle übersehen, als dass sie dazu beitrügen, diese zu erhellen. Denn während ein Briefroman oder Emailroman mediale Emulationen sind, d.h. fiktive Briefe oder Emails im Medium des Buches nachgeahmt werden, besteht eine SMS-Novelle aus einer Abfolge ›echter‹ Kurznachrichten, die auf dem eigenen Handy eintreffen. In einer Zeit, in der das Handy zum beständigen Begleiter geworden ist, vermag die SMS-Novelle es so, auf die Alltagswirklichkeit des Lesers oder der Leserin in einer Weise auszugreifen, wie es dem Medium Buch nicht möglich ist.

»Morgen sollst Du sterben«

Der dänische Autor Steen Langstrup ist seit seinem Debüt 1995 in vielen populären Genres produktiv gewesen. Vor allem als Verfasser von Horror- und Kriminalliteratur hat er sich einen Namen erschrieben. Mehrere seiner Bücher sind auch ins Deutsche übersetzt worden (weitere Übersetzungen erfolgten ins Norwegische, Schwedische, Finnische und Englische); zwei seiner Romane wurden obendrein in Dänemark verfilmt. In seinen SMS-Novellen bleibt er zwar genremäßig auf bekanntem Terrain, lotet aber zugleich geschickt die Spannungs- und Horrormöglichkeiten aus, die diese Literaturform medialästhetisch bietet. In »I morgen skal du dø« (Morgen sollst du sterben) von 2012 z.B. beginnt die Geschichte mit sieben Kurznachrichten von einem anonymen Absender, die den Leser oder die Leserin über zwei Tage verteilt erreichen. Mit Kurznachrichten wie »Jeg fulgte efter dig til morgen. Så du mig ikke?« (Ich folgte dir morgens. Hast Du mich nicht gesehen?) oder »Jeg har skygget dig hver eneste dag den sidste uge« (31; Ich habe dich jeden einzelnen Tag letzte Woche beschattet) wird der Leser oder die Leserin scheinbar selbst als Opfer eines Stalkers adressiert. Erst die achte Kurznachricht von einer ›Emma‹, die ankündigt, zur Polizei zu gehen, wenn die Kurznachrichten nicht aufhörten, lässt erkennen, dass das Handy des Lesers oder der Leserin nicht der Adressat der Kurznachrichten war, sondern diese Teil einer fiktionalen SMS-Novelle sind, in der die fiktive ›Emma‹ schließlich tot in ihrer Kopenhagener Wohnung aufgefunden werden wird, nachdem ihr kurz vorher per SMS der Tod angekündigt worden war.

»I morgen skal du dø« ist nicht nur eine Novelle aus Kurznachrichten, sondern autoreflexiv auch über Kurznachrichten: Die Bedrohlichkeit des Geschehens speist sich nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass Kurznachrichten in Zeiten, in denen das Handy unser permanenter Begleiter ist, das Stalker-
Medium par excellence sind – dem sich auch der Leser oder die Leserin im Rezeptionsakt aussetzt. Gleichzeitig arbeitet die Novelle – zumindest in ihrer ursprünglichen SMS-Form – wirkungsästhetisch mit dem bereits thematisierten Mangel an Mediendifferenz zwischen fiktiver und nicht-fiktiver Kommunikation, mit dem Verwischen von Fiktion und Alltagswirklichkeit. Wie erfolgreich diese ästhetische Strategie war, lässt sich nicht zuletzt dem Umstand entnehmen, dass mindestens drei irritierte Leser und Leserinnen nach dem Erhalt der ersten Kurznachrichten Anzeigen bei der Polizei wegen Stalking erstatteten. Nachdem diese Anzeigen sogar zum Thema in Danmarks Radio geworden waren, schaltete SMSpress dem Kauf der SMS-Novelle eine Warnung vor, um daran zu erinnern, dass die bald auf dem Handy eintreffenden Kurznachrichten fiktiver Natur seien.

»El Daemon«

Technologie, die in dämonische Bedrohung umschlägt, statt dem Menschen zu dienen, ist bekanntermaßen ein beliebtes Thema in Horrorliteratur, und eine von Technologie abhängige literarische Form wie die SMS-Novelle lädt dazu ein, dieses Potential autoreflexiv auszunutzen. In »El Daemon«, Langstrups erster SMS-Novelle von 2011, wird Alex immer wieder von seinem plötzlich verstorbenen Freund Ali per Kurznachricht kontaktiert. Ali ist angeblich »fanget et eller andet sted i det mobile netværk« (15; irgendwo im mobilen Netzwerk gefangen). Von hier aus verschickt ›El Daemon‹ Kurznachrichten, wonach der Empfänger oder die Empfängerin jetzt ihm gehöre und er sich die Seele nehme, während der Körper tot zurückbleibe. Selbst das Ausschalten des Handys sowie die Entfernung von Batterie und SIM-Karte helfen nicht gegen den drohenden dämonischen Übergriff aus dem Zwischenreich des mobilen Netzwerkes (mit ›Daemon‹ werden nicht von ungefähr in UNIX- und ähnlichen Systemen im Hintergrund laufende Prozesse bezeichnet). Über die Kontaktliste des Handys verbreitet sich die Kurznachricht von El Daemon »Du er min nu. Din sjæl tilhører mig. Jeg ringer, når jeg vil have den« (28; Du bist jetzt mein. Deine Seele gehört mir. Ich rufe an, wenn ich sie haben will) wie ein Virus weiter – als letzte Kurznachricht der SMS-Novelle auch auf das Handy des Lesers oder der Leserin. Das Medium der Kurznachricht wird so als Seuche pathologisiert, die phantastischerweise alle technischen – und diegetischen – Schranken zu überwinden versteht, und der Mobilfunk als ein transzendent-dämonischer Parallelkosmos entworfen, der seine Nutzer und Nutzerinnen verschlingt.

2017 hat Langstrup »El Daemon« übrigens zu einer ›normalen‹ Novelle umgearbeitet, die auf dem Umweg über die englische Übersetzung (!) auch 2019 auf Deutsch als Extratext in Langstrups Die Insel (dänischer Originaltitel: Ø, 2017) erschienen ist. Der Vergleich macht deutlich, wie ungleich wirkungsvoller die SMS-Novelle die Thematik der dämonisch-übergriffigen Technik umzusetzen vermag. Denn zum einen wird sie selbst mit Hilfe dieser Technik realisiert, die damit dem Leser oder der Leserin als reale, nicht ›nur‹ fiktive gegenübertritt. Zum anderen ist El Daemons finale Kurznachricht »Du bist jetzt mein. Deine Seele gehört mir. Ich rufe an, wenn ich sie haben will« eben nicht wie in der gedruckten Novelle an eine Fokalisierungsinstanz wie Alex’ neueingeführte ältere Schwester Karla gerichtet, sondern direkt an den Leser oder die Leserin, die diesen Text auf ihren Handys erhalten. 

Leerstellen

Widmet Langstrup sich in seinen ersten beiden SMS-Novellen vor allem der potentiellen Dämonie des SMS-Kosmos, verschiebt sich der Schwerpunkt in seinen letzten drei Novellen zusehends auf eine ästhetische Erkundung des Leerstellenpotentials von SMS-Novellen. Kommunikation per SMS ist per se eine reduzierte, nicht nur in Bezug auf den Textumfang, sondern auch in Hinblick auf den Mangel an gleichermaßen narrativer wie räumlicher Kontextualisierung der kurzen Textmitteilungen. In »Pakken« (Das Paket) von 2014 müssen sich der Leser und die Leserin so durch Kurznachrichten von verschiedenen Absendern und Absenderinnen die Handlung erschließen, die in der Zündung einer Bombe auf dem in Kopenhagen stattfindenden European Song Contest per verschickter SMS kulminiert (auch hier entfaltet das Medium der Kurznachricht also schließlich seine zerstörerische Wirkung). In »Hjem til jul« (Zu Weihnachten nach Hause) aus dem gleichen Jahr entsteht die Spannung aus der nur fragmenthaften Informationsvergabe durch die Kurznachrichten, die eine Ärztin an ihren Vater aus ihrem geheimen Auslandseinsatz schreibt – bis sie schließlich zu Weihnachten als Zombie im Garten des Vaters erscheint. Und in »Læg nu smukt din hånd i min« (Leg jetzt schön Deine Hand in meine), Langstrups letzter SMS-Novelle von 2021, erfährt man erst nach und nach, dass die Kurznachrichten schreibende Thilde vor drei Jahren auf dem Weg zur weihnachtlichen Familienfeier bei einem Unfall umgekommen ist und erst durch die Hilfe der clairvoyanten Großtante Mimi aus ihrem Zwischenreich erlöst wird.

Der Schwanengesang der SMS-Novelle?

Die Zweitverwertung von Langstrups SMS-Novellen in Buchform (illustriert mit einem Umschlag mit Zombiemotiv, dessen Bezug zum Inhalt trotz der ›Zombienovelle‹ »Hjem til jul« unklar ist) hinterlässt eine gewisse Melancholie. In der Zusammenschau der Novellen wird nicht nur deutlich, dass die innovativsten Texte Langstrups, in denen er die medialästhetischen Möglichkeiten der damals neuen literarischen Form der SMS-Novelle erforschte, gleich nach 2011 entstanden sind, sondern auch, dass die Buchform für eine SMS-Novelle zwar ein mediales Format ist, das sie aus ihrer technologischen Abhängigkeit sowie Bedingtheit herauslöst und in eine historisch stabilere Form überführt, zugleich aber ihr ursprüngliches ästhetisches Potential stark reduziert. Noch sind die Langstrup’schen SMS-Novellen zwar über SMSpress als ›echte‹ SMS-Novellen abrufbar, doch wie lange noch? 

Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre ist unübersehbar, dass die Digitalisierung zwar experimentelle literarische Formen wie die SMS-Novelle, Blogs mit Literatur, eBooks mit ihren spezifischen hypertextuellen Vernetzungsmöglichkeiten oder augmented reading, d.h. die Ergänzung des gedruckten Textes durch im Netz zur Verfügung gestellte digitale Inhalte, hervorgebracht hat. Mehr als eine Randexistenz hat sich indes keine dieser neuen experimentellen Formen auf dem Buchmarkt sichern können. Die enge Verkopplung von Technik und ›Content‹ führt zudem unabdingbar dazu, dass digitalen Formaten eine Flüchtigkeit und Transitorik eingeschrieben ist, die in diesem Ausmaß aus der buchförmigen Literatur unbekannt ist. Die hypertextuelle Website zum Buch, die eben noch durch einen Link oder QR-Code angesteuert werden konnte, ist morgen schon nicht mehr aufrufbar; der mit einem Content Management System (CMS) realisierte literarische Blog muss wegen Sicherheitsproblemen des CMS abgeschaltet werden; der programmierte Code einer Abenteuererzählung in Zusammenspiel von Text und Bild auf dem Bildschirm erweist sich beim nächsten Update des Betriebssystems als nicht mehr lesbar. Und ironischerweise werden im World Wide Web mit seiner Verheißung von Grenzenlosigkeit gerade digitale literarische Formen häufig technologisch durch nationale Grenzzäune eingehegt: Wer Langstrups SMS-Novellen in ihrer ursprünglichen medialen Form erleben möchte, braucht dafür zwingend einen skandinavischen Handyvertrag. Ebenso ist ein hochgelobtes Werk wie C.Y. Frostholms Kalender for natten (Kalender für die Nacht), das Frostholm zusammen mit dem Illustrator Simon Bodh Nielsen 2016 für eine ›Lektüre‹ auf dem iPad realisiert hatte, nur über ein Apple-Konto für den dänischen Appstore zu installieren.

Die Literaturwissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren vor allem für jene digitalen Formate interessiert, die den Lesern und Leserinnen – anders als die herkömmliche Literatur – explizit interaktive, non-lineare, netzwerkartige Lektüreräume eröffnen. Die SMS-Novelle ist entsprechend wenig in den Fokus gekommen. Dass sie sich medial wie thematisch bevorzugt an Jugendliche und junge Erwachsene als digital natives mit entsprechender Intensivnutzung von Handys richtet(e), mag ebenfalls zu diesem Mangel an Interesse beigetragen haben. Während die Linguistik sich ausführlich den Kurznachrichten mit ihrer spezifischen, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszillierenden Sprache (z.B. ›4u‹ für ›for you‹, Akronymen wie ›LOL‹ oder der Erweiterung des Zeichensatzes durch Emoticons wie ›:-)‹) gewidmet hat, ist die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit SMS-Novellen ein Desiderat. Steen Langstrups SMS-Novellen lassen jedoch erkennen, dass so eine Auseinandersetzung lohnend sein kann.

Steen Langstrup: SMS, 2 Feet Entertainment, 2022.

(Stephan Michael Schröder)

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Mit Milch im Ohr: Literatur als Podcast

Die Art, wie Literatur rezipiert wird, verändert sich. War bis vor einigen Jahren die Rezeption literarischer Texte noch eng mit dem gedruckten Buch verknüpft, erleben andere Formate aktuell einen markanten Aufschwung. Diesem wird nicht selten mit kulturpessimistischen Reaktionen begegnet. Waren es zunächst die E-Books, die das Diktum vom ‚Ende der Literatur‘ auf den Plan riefen, so ist es heute das seit Jahrzehnten etablierte Format Hörbuch, das aufgrund seiner neuen digitalen Verfügbarkeit in den letzten Jahren einen immer größeren Popularitätszuwachs verzeichnen konnte und gleichzeitig besorgte Kritiker*innen dazu veranlasste, den Niedergang der allgemeinen Lesekompetenz und den endgültigen Verlust jeglicher literarischer Qualität zu prophezeien. Fakt ist jedoch, dass der Trend zum Hören von Literatur in Audiobook-Form ungebrochen ist, auch in Skandinavien. Dort sind es vor allem die beliebten Streamingdienste im Abomodell, die den Vormarsch der akustisch vermittelten Texte vorantreiben. 

Auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie das Hörbuch kann das Format Podcast zurückblicken. Auch wenn bereits in den 2000er Jahren eine erste Erfolgswelle der per RSS-Feed zu abonnierenden Sendungen über das Internet schwappte, wuchs deren Popularität im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts noch einmal kräftig an. Nahezu jedes vorstellbare Thema scheint mittlerweile von einem Podcast oder wenigstens von einzelnen Folgen der Internet-Sendereihen abgedeckt zu werden, und auch literarische Texte lassen sich in diesem Medium finden. 

Nicht zu übersehen ist, dass das Sprechen über Literatur eine weitaus stärkere Stellung auf dem Podcast-Markt einnimmt als literarische Texte selbst. Ob von den etablierten Medienhäusern produziert oder von literaturinteressierten Laien, ob tiefgründige Analysen oder das Teilen persönlicher Leseerfahrungen: Im Netz finden sich vielfältige Schattierungen des Konzepts Literaturpodcast. Das Hauptaugenmerk liegt dabei augenscheinlich auf dem Präsentieren und Diskutieren verschiedenster Texte, seien es Neuerscheinungen oder Klassiker, und dem Informieren über oder Sprechen mit Schriftsteller*innen unterschiedlichster Etabliertheitsgrade. Derartige Formate entsprechen den gängigsten und beliebtesten Spielarten des Podcast-Mediums. 

Im Gegensatz dazu scheint das Präsentieren literarischer Texte auf dem direkten Wege ein weitaus marginaleres Phänomen in der Welt der Podcasts zu sein. Die Ausnahmen verdienen allerdings eine nähere Betrachtung, weil sie nicht nur Rückschlüsse auf Literaturvermittlungsstrategien, sondern auch auf die medialen Spielregeln von Podcasts erlauben. Der norwegische Kolon forlag podcast for ny litteratur (Verlag Kolon – Podcast für neue Literatur) stellt eine solche Ausnahme dar. Diese Sendereihe, die über alle herkömmlichen Plattformen zu beziehen ist, vermittelt Literaturinteressierten seit Ende 2019 in teils unregelmäßigen Abständen Textauszüge, die von den Autor*innen selbst gelesen werden, oder bietet Kostproben aus den Hörbuch-Versionen der Verlagstitel. An dieser Zusammensetzung lassen sich bereits unterschiedliche Zielsetzungen ablesen, die mit einem solchen Format vonseiten des Verlags verfolgt werden. Zum einen werden Informationen über Neuerscheinungen aus dem Verlagsprogramm automatisch an die Abonnierenden gesendet, und die bewusst ausgewählten Textausschnitte erfüllen eine ähnliche Funktion wie die klassische Leseprobe. Neben dem Bewerben der analogen oder digitalen Buchform wird zum anderen, im Falle der Hörbuch-Auszüge, für das akustisch vermittelte Format geworben. In jenen Fällen, in denen die Autor*innen selbst lesen, wird zusätzlich die vermeintliche (Ver-)Bindung des Publikums zu diesen gestärkt und im Sinne der Literaturvermittlung geschickt genutzt. Als eine Übergangsform zwischen autor*innenferner Literaturrezeption und dem multimodalen Erlebnis einer Autor*innenlesung wird das Interesse der Zuhörenden durch den Eindruck, die Schriftsteller*innen persönlich zu erleben, geweckt. Die Tatsache, dass die Darbietungsleistungen der Autor*innen manchmal hinter denen ausgebildeter Sprecher*innen zurückbleiben, wird durch die Nähe vermittelnde Ansprache der Zuhörer*innen ausgeglichen. Gleichzeitig verleiht das Trendmedium Podcast dem Verlag eine schicke, aber dennoch seriöse Aura.

Auffällig und gleichzeitig wenig überraschend ist, dass viele dieser literarischen Podcast-Formate Kinder der Covid-Pandemie zu sein scheinen. Während die Online-Sendungen im Allgemeinen in der Zeit sozialer Isolation nochmals massiv an Popularität gewannen, mussten viele Institutionen Wege finden, wie sie ihr Publikum durch Formen des asynchron-asyntopen Erlebens erreichen konnten. Wenige dieser Projekte hielten sich jedoch über die pandemische Hochphase hinaus; das Erscheinen neuer Folgen versiegte in vielen Fällen im Laufe der Jahre 2020 oder 2021. Litt. etwa, ein Podcast des norwegischen Verlags Oktober, operierte mit einem ähnlichen Konzept wie Kolon. »Her får du litt fra våre bøker rett på øret, lest av forfatterne selv« (Hier bekommst du ein bisschen was von unseren Büchern direkt ins Ohr, gelesen von den Autor*innen selbst) heißt es in der Beschreibung, die damit auf die doppelte Bedeutung von litt als Kurzform für ‚litteratur‘ oder im Sinne von ‚ein bisschen‘ hindeutet. Zwischen November 2020 und Juli 2021 wurden insgesamt 13 Folgen publiziert, die die Zehn-Minuten-Marke nicht überschreiten und jeweils kurze Textausschnitte aus den Neuerscheinungen des Verlags darbieten. Manche werden mit einer knappen inhaltlich-thematischen Zusammenfassung des Texts eingeleitet, andere stehen für sich. Doch die letzten Folgen deuten bereits auf ein abnehmendes Interesse vonseiten der Produzent*innen hin: Zwei der vier Episoden aus dem Juli 2021 sind fehlerhaft und nur wenige Sekunden lang, die anderen beiden weisen nur noch eine Länge von ein bis zwei Minuten auf und wurden ohne Intro produziert. Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Format – literarische Texte, in Auszügen eingelesen – nicht die gewünschten Effekte als Marketinginstrument mit sich brachte. Gestärkt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass derselbe Verlag im Mai 2021 mit einer neuen Podcast-Serie antrat: Akkurat dette, akkurat nå setzt wiederum auf das beliebte dialogische Sprechen über Literatur, das der prominente Chefredakteur des Verlags, Geir Gulliksen, gleich selbst in die Hand nimmt. 

Haben literarische Texte also keine Chance im Medium Podcast? Mag sein, dass das Hörbuch-Streaming die Domäne der Texte bleibt, während Hintergründe, Interpretationsansätze und literarische Debatten von den leicht zugänglichen Sendereihen abgedeckt werden. Die Antwort darauf wird immer auch von den Hörgewohnheiten des Publikums abhängen, gleichzeitig tut die technische Seite des Podcast-Streamings ihr Übriges: Dadurch, dass die einzelnen Folgen automatisch nacheinander abgespielt werden und Podcasts häufig neben dem Ausführen anderer Tätigkeiten rezipiert werden, führt das rasche Aufeinanderfolgen von nicht kontextualisierten Texthäppchen mitunter zu verwirrenden, gar unangenehmen Hörerlebnissen.

Abbildung 1 Cover-Bild einer Folge von Lyden av MELK

Womöglich verläuft die Trennlinie aber nicht zwischen den verschiedenen Medienformaten, sondern zwischen den
unterschiedlichen Zielsetzungen und daraus resultierenden Herangehensweisen: Marketing auf der einen Seite und Textzentriertheit samt Hörer*innen-Orientierung auf der anderen. Die Sendung Lyden av MELK (Der Klang von MELK), die zwischen März 2020 und Dezember 2021 vom norwegischen Mikroverlag littMELK bespielt wurde, sendete in zwei ihrer drei Staffeln Texte, die entweder für die queere Kulturzeitschrift MELK oder für den Podcast verfasst worden waren und jeweils von den Autor*innen selbst eingelesen wurden. Die somit nicht primär auf den Verkauf von (Hör-)Büchern ausgelegten Episoden sind überdies qualitätsvoll produziert und mitunter aufwändig gestaltet, wie im Falle eines vertonten Gedichts und eines Kurzhörspiels. Im Sendungs-Teaser deutet die MELK-Mitgründerin Martine Næss Johansen diese hörer*innenorientierte Ausrichtung bereits an: »Hei! Så fint at du vil ha MELK i øret. […] Grunnen til at vi legger ut disse lydopptakene nå er at vi vil gjøre dem mer tilgjengelig for deg som lytter. Du fortjener å høre godt skrevne skeive narrativ. Du fortjener å høre dine egne historier […].« (Hallo! Schön, dass du MELK [dt. ‚Milch‘] im Ohr haben möchtest. […] Der Grund, warum wir diese Aufnahmen jetzt veröffentlichen, ist, dass wir sie für dich als Hörer*in zugänglicher machen wollen. Du verdienst es, gut geschriebene queere Narrative zu hören. Du verdienst es, deine eigenen Geschichten zu hören […]). Auch wenn die gut gemachten Folgen von Lyden av MELK, die vollständige Texte vermitteln und stimmige Musikelemente enthalten, genussvolles Literaturhören ermöglichen: Selbst dieses Format fand nach 16 Folgen sein Ende.

Literatur in Podcastform bleibt insgesamt ein Randphänomen, auch experimentelle Formen wie Podcast-Romane scheinen in Skandinavien noch keine Ableger gefunden zu haben. Die kurze Laufzeit der Versuche vonseiten größerer und kleinerer Verlage, die Online-Sendungen als Plattform für literarische Texte zu nutzen, zeigen: Die Bedürfnisse von Podcast-Hörer*innen sind allem Anschein nach anders gelagert. Gleichzeitig handelt es sich um ein simpel zu bespielendes Medium, das – ganz ähnlich wie Books-on-Demand-Konzepte – allen für die Veröffentlichung eigener Texte offensteht und grundsätzlich unterschiedliche Formexperimente ermöglicht. Womöglich lassen sich in Zukunft neben Instagram-Romanen auch literarische Experimente auf Podcast-Basis beobachten.

(Jay Geier)

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