Das prachtvolle Gebäude der Kopenhagener Oper sieht auf einmal so verletzlich aus. Die Hälfte des Daches liegt am Boden und der leere Konzertsaal offenbart sich. Was ist hier geschehen, dass die Menschen die Kulturstätte derart verfallen ließen? Trotz der düsteren Untergangsstimmung ist im selben Bild eine Hand zu sehen. Sie schreibt. Oder zeichnet. Ihre schaffende Kraft steht in starkem Kontrast zu dem überwältigenden Bild der halb zerstörten Oper (vgl. Abb. 2). Durch Text wird diese Szenerie nicht ergänzt. Christian Skovgaards Efter København (2022) beinhaltet lediglich 77 Sätze, und diese sind auf den knapp 200 Seiten spärlich verteilt. Diese Graphic Novel verlässt sich auf die Kraft der dreifarbigen Illustrationen des von Pestwolken geplagten Kopenhagen, das doch nicht so menschenleer ist, wie es zunächst wirkt.
Skovgaard, Grafikdesigner mit Erfahrung im Architekturbereich, lässt sich von zwei Werken aus dem späten 19. Jahrhundert inspirieren, Richard Jeffries’ After London (1885) und John Ruskins The Storm Cloud of the Nineteenth Century (1884), in denen die Autoren vor der Luftverschmutzung des viktorianischen Englands warnen. Aus den Essays des Malers, Kunsthistorikers und Schriftstellers Ruskin entlehnte Skovgaard sogar ganze Sätze, die einen Großteil des Prologs ausmachen. Abgesehen von der post-apokalyptischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts kommuniziert Efter København auch mit den Zukunftsvisionen der darauffolgenden Jahrhundertwende. Gleichzeitig mit der Graphic Novel veröffentlichte Skovgaard Postkarten, auf denen die verfallenen Sehenswürdigkeiten der Erzählung abgebildet sind. Diese erinnern an die Anfang des 20. Jahrhunderts u.a. von Jean-Marc Côté gezeichneten Postkarten, die das Leben im Jahr 2000 imaginierten. Die Motive bildeten unterschiedliche Gesellschaftsbereiche ab und wurden zunächst in der Weltausstellung 1900 in Paris gezeigt.
Efter København besteht aus drei Teilen. Im Prolog folgt der Text einem anderen Erzählstrang als das Bild. Dadurch wird eine Spannung aufgebaut, die erst im Hauptteil des Buches aufgelöst wird. Während in den textuellen Ausführungen die derzeitigen Wetterzustände mit jenen vor der Katastrophe in Verbindung gebracht werden, finden wir im Text keine Erklärung oder Begleitung der Geschehnisse auf den Bildern. Dort begegnen wir zum ersten Mal der düsteren Realität des verpesteten Kopenhagen, in dem ein Großteil der menschlichen Bevölkerung in einen präzivilisatorischen Zustand verfallen zu sein scheint. Zwei Personen, die Hauptfiguren des Prologs, ernähren sich von selbstangebautem Getreide und sind allgegenwärtigen Gefahren ausgesetzt. Sei es vonseiten der Wölfe, Vögel oder anderer Mitmenschen. Bei einem Überfall kommt eine der beiden Figuren ums Leben. Der zweiten Person gelingt es, zu flüchten und die Polizei aufzusuchen. Es kommt jedoch zu einem Gerichtsverfahren, bei dem sie möglicherweise aufgrund des illegalen Getreideanbaus zu Strafarbeiten verurteilt, gar als Sklavin verkauft wird. Der Prolog endet mit dem Ausbruch eines Feuers, vor dem die Strafarbeiter:innen zu flüchten vermögen. Im letzten Bild sehen wir die Hauptfigur an der Spitze des Turms der Vor Frelsers Kirke stehen.
Der Prolog erscheint mit seinen religiösen Anspielungen (die Aussaat, verheerende Brände und Besteigung des Kirchturmes) und den eingeführten Motiven kohärent mit dem weiteren Verlauf der Geschichte. Bereits hier sehen wir Bilder des zerstörten Kopenhagens, dessen bekannteste Gebäude in den Illustrationen nummeriert sind. Efter København ähneltmit seinen fehlenden Seitenzahlen der Karte einer Stadt, bei der uns die Zahlen von einer verfallenen Sehenswürdigkeit zur nächsten führen.1 Zugleich illustrieren die Ruinen das Ausmaß der Katastrophe, deren Ursachen als »pestvinden« (S. 30; Pestwind) und »pestskyen« (S. 2; Pestwolke) beschrieben werden. Ihr Ursprung bleibt allerdings im Dunkeln: »Blege sol, pestsyge græs, blinde menneske [sic!]. Hvis man til slut spørger om en tænkelig årsag til disse begivenheder eller en
mening med dem, kan der ikke gives nogen.« (S. 49; Fahle Sonne, verpestetes Gras, blinde Menschen. Fragt man schließlich nach einer möglichen Ursache dieser Geschehnisse oder nach ihrer Bedeutung, kann keine gegeben werden.)
In Kontrast zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen und infrastrukturellen Verfall steht die wuchernde Pflanzenwelt. Im Prolog eingeführt, wird das Vorkommen der nicht selten im Vordergrund der Bilder stehenden Gewächse immer häufiger. Dadurch wird eine direkte Verbindung zur ersten Inspirationsquelle für Efter København hergestellt, Richard Jeffries’ After London (1885). Dort fallen besonders die ausufernden Schilderungen der üppigen Pflanzenwelt an jenem Ort auf, an dem Jahre zuvor London lag. Kopenhagen liegt jedoch nicht wie London unter Wasser. Hier sind die das Stadtbild prägenden Gebäude weiterhin erkennbar, bloß ihrer Funktion entleert. In Efter København entspricht der Zyklus der in den Flammen sterbenden, jedoch wiederauflebenden Pflanzen dem der menschlichen Zivilisation. Obgleich jegliche Institutionen und die kulturellen sowie politischen Zentren zerstört sind, wird der Mensch nicht ausgelöscht. Der post-gesellschaftliche Mensch ist auf die Bildung kleinerer Gemeinschaften angewiesen, wie die Gruppierung der an prähistorische Lebensformen erinnernden Personen (vgl. S. 25–26), oder die im gemeinsamen Haushalt lebenden C und E, die die Hauptfiguren des Buches im weiteren Verlauf darstellen.
Der Übergang vom Prolog zum Hauptteil des Buches ist fließend. Zwar trennen sie vier leere lila gefärbte Seiten, diese erinnern jedoch weniger an einen Schnitt, sondern geben Zeit, um vom Gipfel der Vor Frelsers Kirke hinunter zum nächsten Bild zu kommen. Die Haupterzählung beginnt nämlich mit einem Samen, dessen Entwicklung hin zu einer verdorrten (verpesteten?) Pflanze wir in 14 kleinen Bildern mitverfolgen können. Diesmal besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Text und Bild. Nach den Abbildungen aller Wachstumsstadien der Pflanze lesen wir: »… Jeg kan huske disse plantetegninger, fra dengang vi var små. Giver du dem til mig nu?« (S. 62; … Ich erinnere mich an die Pflanzenzeichnungen, von früher, als wir klein waren. Gibst du sie mir jetzt?) Im Vergleich zu den textuellen Ausführungen im Prolog, die ausschließlich Wetterzustände schildern, haben wir es hier mit einem Dialog zwischen den Hauptfiguren E und C zu tun. Ihr ganzes Leben verbrachten sie unweit Kopenhagens. E will zum ersten Mal die Innenstadt sehen und verlässt das Haus. Aus ihren Dialogen, die mithilfe eines nicht näher nicht definierten Mediums stattfinden, erfahren wir, dass C sich um E sorgt und deshalb selbst nach Kopenhagen wandert, um sie aufzusuchen. C bindet sein eigenes Tagebuch, in das wir im weiteren Verlauf immer mehr Einblicke gewinnen und das immer stärker an das Buch Efter København selbst erinnert.
Auf insgesamt sechs Doppelseiten sehen wir Cs Hand mal mit Stift, mal ohne. Wir nehmen seine Perspektive ein und erleben das (Auf-)Zeichnen seiner Erlebnisse mit: »Landskabet bliver goldere, jo tættere jeg kommer på byen.« (S. 110; Je näher ich der Stadt komme, desto unfruchtbarer wird die Landschaft.) Abgesehen von der Beobachtung eines malerischen Blickes werden wir mit Cs Zweifeln konfrontiert: »Var det forkert at rejse hertil?« (S. 122; War es falsch, hierher zu kommen?) Mithilfe der Kombination der Ich-Perspektive und der Standortbestimmung »hertil« werden die Lesenden selbst nach Kopenhagen befördert und dazu aufgefordert, Cs Dilemma mitzuerleben. In Kopenhagen wird C vor den aufkommenden Pestwolken von einem alten Mann gerettet, der ihm von der Zeit vor der Katastrophe erzählt. Sein Aussehen, das an Darstellungen von Gottvater erinnert, und seine erzählerische Autorität werden durch die Illustration verstärkt, in der er in übermäßiger Größe und scheinbar oberhalb der Geschehnisse dargestellt wird (Abb. 1). Auf der nächsten Doppelseite mit Cs Hand hält diese keinen Stift mehr, sondern zeigt auf ein X. Dies sei der Ort, an dem der alte Mann zuletzt eine junge Frau, vermutlich E, gesehen habe: »Derefter sender han mig af sted.« (S. 162; Danach schickt er mich weg.) Der alte Mann scheint nicht nur erzählerische Autorität zu besitzen, wodurch er zu einem Wissensspeicher aus der Zeit vor der Pest wird. Er ist zugleich imstande, C an einen Ort zu »senden«, an dem er E auffinden kann. Kurz darauf stellt sich jedoch heraus, dass die Suche nach E kein glückliches Ende in Form eines Wiedersehens haben wird. E macht nämlich klar, dass für sie kein Weg zurück existiert und sie keine Rettung benötigt:
C: Jeg kom for at redde dig! (S. 177)
E: Så kom du forgæves. Jeg kom her efter København, men også for at skabe noget nyt – på egen hånd. (S. 179)
C: Ich bin hergekommen, um dich zu retten!
E: Dann kamst du umsonst. Ich kam wegen Kopenhagen her, aber auch, um etwas Neues zu schaffen – selbstständig.
Das »efter«2 im Titel des Buches bekommt abgesehen von der zeitlichen Bedeutung auch eine örtliche. E ist sich im Klaren darüber, dass das Kopenhagen, wie sie es aus Stadtführern kannte, nicht mehr vorhanden ist. Sie ging jedoch mit der Absicht dorthin, etwas Neues zu schaffen. Mit diesem Gespräch von C und E endet das Tagebuch. Auf der letzten Doppelseite mit Cs Hand ist nun das geschlossene Buch im Ganzen zu sehen. Dass C nicht mehr die Kontrolle über die geschilderten Ereignisse hat, wird auf zwei Doppelseiten am Ende von Efter København deutlich. Zunächst sehen wir ihn in der Mitte des Bildes. Zu beiden Seiten liegt der Wohnkomplex 8tallet, vor ihm breiten sich die Felder aus. Wolken über den Feldern bedecken einen Teil des Himmels und C blickt nach vorne. Die Illustration ist eine direkte Anspielung auf Caspar David Friedrichs Ölgemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818), wodurch eine Verbindung zur Romantik hergestellt wird. Die zweite Doppelseite zeigt dasselbe Motiv, nun allerdings ohne C. Die Wolken haben diesmal etwas mehr Struktur und erinnern zum Teil an Lebewesen, deren Ursprung keineswegs als rein menschlich bezeichnet werden kann. An Cs Stelle liegt sein Tagebuch auf dem Boden. Von einem Windstoß aufgeschlagen, bekommen wir einen letzten Einblick ins Tagebuch. Anhand der Größe der Bilder und deren Zusammensetzung erkennen wir, dass hier jene Doppelseite zu sehen ist, auf der der Lebenszyklus einer Pflanze geschildert wurde. Es sind die Bilder, mit denen der Hauptteil von Efter København beginnt (vgl. S. 61–62). Die Lesenden werden mit den Fragen zurückgelassen, ob Efter København selbst das aufgefundene Tagebuch ist und für wen die Erinnerungen und Beobachtungen aufgezeichnet wurden.
Das Tagebuch bekommt im Epilog ein neues Publikum und somit ein weiteres Leben. Es wird von einem Mann aufgesammelt und zu E gebracht. Es Rolle und selbstgewählte Aufgabe wird auf den letzten Seiten verbildlicht. Sie scheint, zusammen mit einer Gruppe von Ruinenbewohner:innen, handwerklichen Tätigkeiten und dem Sammeln von Büchern nachzugehen. »På egen hånd” (S. 179; eigenmächtig) hat nicht nur eine metaphorische Bedeutung: auf eigene Faust Kopenhagen zu entdecken und allein zurechtzukommen. Es ist gleichzeitig auch der Wunsch, etwas mit den Händen zu erschaffen und auf diese Art und Weise ein neues System zu etablieren, in dem Autonomie und Selbstversorgung die imperative Funktion übernehmen. Efter København hebt das langwierige und anspruchsvolle Do-it-yourself-Prinzip auf zwei Ebenen hervor. Erstens thematisiert es Bemühungen, eine neue Gesellschaftsform aufzubauen. Zweitens verdeutlicht es die materielle Entstehung des Tagebuches, die aus Cs Buchbinderfähigkeiten resultiert. Wir sind Zeug:innen seines Illustrierens, das durch die wiederholte Darstellung seiner stifthaltenden Hand unterstrichen wird. Wir gewinnen nicht nur den Eindruck, dass wir anhand des genauen Stadtplans am Anfang des Hauptteils Kopenhagen erkunden (S. 67–68), sondern dass die Stadt vor unseren Augen in Tagebuchform gerade erst geschrieben und gezeichnet wird. Letzen Endes gibt Efter København nicht vor – und darin liegt die Einzigartigkeit der Graphic Novel – in welcher Reihenfolge die Bilder innerhalb einer (Doppel-)Seite gelesen werden sollen. Die Lesenden werden dazu aufgefordert, die für sie schlüssigste Bilderabfolge zu wählen oder mit der Gleichzeitigkeit zurecht zu kommen. Diese Gleichzeitigkeit der Geschehnisse hat etwas Unmittelbares und Drängendes, das gerade für die post-apokalyptische Ökoliteratur ein geeigneter Modus operandi zu sein scheint.
Skovgaard, Christian: Efter København. Kopenhagen: Forlæns, 2022.
(Anton Matejicka)
1 Für bessere Übersicht wurde von mir eine Seitennummerierung vorgenommen. Sie beginnt auf der Seite mit einer Blumenzeichnung und dem Schriftzug: »Prolog«. ↩
2 Dt. nach (zeitlich); wegen, aufgrund ↩