Dämonie und Leerstellen

Selten scheint einer literarischen Form eine so kurze Lebenszeit beschieden gewesen zu sein wie der sogenannten SMS-Novelle. Angeblich in Japan um die Jahrtausendwende entstanden, erlebte sie ihren Höhepunkt kurz nach 2010, als ›Simsen‹ zu einer Alltagspraxis geworden war und weltweit 6,1 Trillionen Kurznachrichten verschickt wurden. Mit SMSpress entstand 2010 in Skandinavien sogar ein eigener ›Verlag‹, der sich auf die Distribution von SMS-Novellen in Dänemark, Norwegen und Schweden spezialisierte. Die unauflösliche Verkopplung der literarischen Form mit der auf 160 Textzeichen beschränkten SMS-Technologie erwies sich indes als fatal, als ›Simsen‹ (im Englischen bezeichnenderweise: ›texting‹) in den 2010er Jahren zunehmend von Messengerdiensten und von Postings in den euphemistisch ›sozial‹ genannten Medien verdrängt wurde, die neben Text auch Bild und Ton einbinden konnten.

Die SMS-Novelle

Obwohl Autoren und Autorinnen wie Peter Adolphsen, Merete Pryds Helle oder Svend Åge Madsen sich an der SMS-Novelle versuchten, blieb sie in Dänemark unter dem Radar der Literaturkritik und wissenschaft. Was für ein ästhetisches Potential der SMS-Novelle jedoch innewohnt(e), ist in Steen Langstrups unlängst veröffentlichter Novellensammlung SMS zu erkennen. Auf 104 Seiten werden hier fünf SMS-Novellen abgedruckt, die der Autor ursprünglich zwischen 2011 und 2021 veröffentlicht hat und die jetzt als Buch pünktlich zum dreißigjährigen Jubiläum der SMS-Technologie erschienen.

Die buchförmige Veröffentlichung geht allerdings mit einem Medienwechsel mit weitreichenden ästhetischen Implikationen einher: Während eine SMS-Novelle sich in Form von Kurznachrichten entfaltet, über deren Zusendungszeitpunkt und -frequenz auf das eigene Handy der Leser oder die Leserin keine Kontrolle hat (und auf die er oder sie sogar antworten könnte), werden die Kurznachrichten in der Novellensammlung SMS in Sprechblasen auf Seiten mit viel weißem Raum angeordnet und die Rezeptionsgeschwindigkeit so ganz dem Leser oder der Leserin überlassen. Reminiszenzen an den Briefroman des 18. Jh.s oder den Emailroman des ausgehenden 20. Jh.s werden durch die buchförmige Veröffentlichung zwar evoziert, lassen jedoch eher die medialästhetischen Besonderheiten einer SMS-Novelle übersehen, als dass sie dazu beitrügen, diese zu erhellen. Denn während ein Briefroman oder Emailroman mediale Emulationen sind, d.h. fiktive Briefe oder Emails im Medium des Buches nachgeahmt werden, besteht eine SMS-Novelle aus einer Abfolge ›echter‹ Kurznachrichten, die auf dem eigenen Handy eintreffen. In einer Zeit, in der das Handy zum beständigen Begleiter geworden ist, vermag die SMS-Novelle es so, auf die Alltagswirklichkeit des Lesers oder der Leserin in einer Weise auszugreifen, wie es dem Medium Buch nicht möglich ist.

»Morgen sollst Du sterben«

Der dänische Autor Steen Langstrup ist seit seinem Debüt 1995 in vielen populären Genres produktiv gewesen. Vor allem als Verfasser von Horror- und Kriminalliteratur hat er sich einen Namen erschrieben. Mehrere seiner Bücher sind auch ins Deutsche übersetzt worden (weitere Übersetzungen erfolgten ins Norwegische, Schwedische, Finnische und Englische); zwei seiner Romane wurden obendrein in Dänemark verfilmt. In seinen SMS-Novellen bleibt er zwar genremäßig auf bekanntem Terrain, lotet aber zugleich geschickt die Spannungs- und Horrormöglichkeiten aus, die diese Literaturform medialästhetisch bietet. In »I morgen skal du dø« (Morgen sollst du sterben) von 2012 z.B. beginnt die Geschichte mit sieben Kurznachrichten von einem anonymen Absender, die den Leser oder die Leserin über zwei Tage verteilt erreichen. Mit Kurznachrichten wie »Jeg fulgte efter dig til morgen. Så du mig ikke?« (Ich folgte dir morgens. Hast Du mich nicht gesehen?) oder »Jeg har skygget dig hver eneste dag den sidste uge« (31; Ich habe dich jeden einzelnen Tag letzte Woche beschattet) wird der Leser oder die Leserin scheinbar selbst als Opfer eines Stalkers adressiert. Erst die achte Kurznachricht von einer ›Emma‹, die ankündigt, zur Polizei zu gehen, wenn die Kurznachrichten nicht aufhörten, lässt erkennen, dass das Handy des Lesers oder der Leserin nicht der Adressat der Kurznachrichten war, sondern diese Teil einer fiktionalen SMS-Novelle sind, in der die fiktive ›Emma‹ schließlich tot in ihrer Kopenhagener Wohnung aufgefunden werden wird, nachdem ihr kurz vorher per SMS der Tod angekündigt worden war.

»I morgen skal du dø« ist nicht nur eine Novelle aus Kurznachrichten, sondern autoreflexiv auch über Kurznachrichten: Die Bedrohlichkeit des Geschehens speist sich nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass Kurznachrichten in Zeiten, in denen das Handy unser permanenter Begleiter ist, das Stalker-
Medium par excellence sind – dem sich auch der Leser oder die Leserin im Rezeptionsakt aussetzt. Gleichzeitig arbeitet die Novelle – zumindest in ihrer ursprünglichen SMS-Form – wirkungsästhetisch mit dem bereits thematisierten Mangel an Mediendifferenz zwischen fiktiver und nicht-fiktiver Kommunikation, mit dem Verwischen von Fiktion und Alltagswirklichkeit. Wie erfolgreich diese ästhetische Strategie war, lässt sich nicht zuletzt dem Umstand entnehmen, dass mindestens drei irritierte Leser und Leserinnen nach dem Erhalt der ersten Kurznachrichten Anzeigen bei der Polizei wegen Stalking erstatteten. Nachdem diese Anzeigen sogar zum Thema in Danmarks Radio geworden waren, schaltete SMSpress dem Kauf der SMS-Novelle eine Warnung vor, um daran zu erinnern, dass die bald auf dem Handy eintreffenden Kurznachrichten fiktiver Natur seien.

»El Daemon«

Technologie, die in dämonische Bedrohung umschlägt, statt dem Menschen zu dienen, ist bekanntermaßen ein beliebtes Thema in Horrorliteratur, und eine von Technologie abhängige literarische Form wie die SMS-Novelle lädt dazu ein, dieses Potential autoreflexiv auszunutzen. In »El Daemon«, Langstrups erster SMS-Novelle von 2011, wird Alex immer wieder von seinem plötzlich verstorbenen Freund Ali per Kurznachricht kontaktiert. Ali ist angeblich »fanget et eller andet sted i det mobile netværk« (15; irgendwo im mobilen Netzwerk gefangen). Von hier aus verschickt ›El Daemon‹ Kurznachrichten, wonach der Empfänger oder die Empfängerin jetzt ihm gehöre und er sich die Seele nehme, während der Körper tot zurückbleibe. Selbst das Ausschalten des Handys sowie die Entfernung von Batterie und SIM-Karte helfen nicht gegen den drohenden dämonischen Übergriff aus dem Zwischenreich des mobilen Netzwerkes (mit ›Daemon‹ werden nicht von ungefähr in UNIX- und ähnlichen Systemen im Hintergrund laufende Prozesse bezeichnet). Über die Kontaktliste des Handys verbreitet sich die Kurznachricht von El Daemon »Du er min nu. Din sjæl tilhører mig. Jeg ringer, når jeg vil have den« (28; Du bist jetzt mein. Deine Seele gehört mir. Ich rufe an, wenn ich sie haben will) wie ein Virus weiter – als letzte Kurznachricht der SMS-Novelle auch auf das Handy des Lesers oder der Leserin. Das Medium der Kurznachricht wird so als Seuche pathologisiert, die phantastischerweise alle technischen – und diegetischen – Schranken zu überwinden versteht, und der Mobilfunk als ein transzendent-dämonischer Parallelkosmos entworfen, der seine Nutzer und Nutzerinnen verschlingt.

2017 hat Langstrup »El Daemon« übrigens zu einer ›normalen‹ Novelle umgearbeitet, die auf dem Umweg über die englische Übersetzung (!) auch 2019 auf Deutsch als Extratext in Langstrups Die Insel (dänischer Originaltitel: Ø, 2017) erschienen ist. Der Vergleich macht deutlich, wie ungleich wirkungsvoller die SMS-Novelle die Thematik der dämonisch-übergriffigen Technik umzusetzen vermag. Denn zum einen wird sie selbst mit Hilfe dieser Technik realisiert, die damit dem Leser oder der Leserin als reale, nicht ›nur‹ fiktive gegenübertritt. Zum anderen ist El Daemons finale Kurznachricht »Du bist jetzt mein. Deine Seele gehört mir. Ich rufe an, wenn ich sie haben will« eben nicht wie in der gedruckten Novelle an eine Fokalisierungsinstanz wie Alex’ neueingeführte ältere Schwester Karla gerichtet, sondern direkt an den Leser oder die Leserin, die diesen Text auf ihren Handys erhalten. 

Leerstellen

Widmet Langstrup sich in seinen ersten beiden SMS-Novellen vor allem der potentiellen Dämonie des SMS-Kosmos, verschiebt sich der Schwerpunkt in seinen letzten drei Novellen zusehends auf eine ästhetische Erkundung des Leerstellenpotentials von SMS-Novellen. Kommunikation per SMS ist per se eine reduzierte, nicht nur in Bezug auf den Textumfang, sondern auch in Hinblick auf den Mangel an gleichermaßen narrativer wie räumlicher Kontextualisierung der kurzen Textmitteilungen. In »Pakken« (Das Paket) von 2014 müssen sich der Leser und die Leserin so durch Kurznachrichten von verschiedenen Absendern und Absenderinnen die Handlung erschließen, die in der Zündung einer Bombe auf dem in Kopenhagen stattfindenden European Song Contest per verschickter SMS kulminiert (auch hier entfaltet das Medium der Kurznachricht also schließlich seine zerstörerische Wirkung). In »Hjem til jul« (Zu Weihnachten nach Hause) aus dem gleichen Jahr entsteht die Spannung aus der nur fragmenthaften Informationsvergabe durch die Kurznachrichten, die eine Ärztin an ihren Vater aus ihrem geheimen Auslandseinsatz schreibt – bis sie schließlich zu Weihnachten als Zombie im Garten des Vaters erscheint. Und in »Læg nu smukt din hånd i min« (Leg jetzt schön Deine Hand in meine), Langstrups letzter SMS-Novelle von 2021, erfährt man erst nach und nach, dass die Kurznachrichten schreibende Thilde vor drei Jahren auf dem Weg zur weihnachtlichen Familienfeier bei einem Unfall umgekommen ist und erst durch die Hilfe der clairvoyanten Großtante Mimi aus ihrem Zwischenreich erlöst wird.

Der Schwanengesang der SMS-Novelle?

Die Zweitverwertung von Langstrups SMS-Novellen in Buchform (illustriert mit einem Umschlag mit Zombiemotiv, dessen Bezug zum Inhalt trotz der ›Zombienovelle‹ »Hjem til jul« unklar ist) hinterlässt eine gewisse Melancholie. In der Zusammenschau der Novellen wird nicht nur deutlich, dass die innovativsten Texte Langstrups, in denen er die medialästhetischen Möglichkeiten der damals neuen literarischen Form der SMS-Novelle erforschte, gleich nach 2011 entstanden sind, sondern auch, dass die Buchform für eine SMS-Novelle zwar ein mediales Format ist, das sie aus ihrer technologischen Abhängigkeit sowie Bedingtheit herauslöst und in eine historisch stabilere Form überführt, zugleich aber ihr ursprüngliches ästhetisches Potential stark reduziert. Noch sind die Langstrup’schen SMS-Novellen zwar über SMSpress als ›echte‹ SMS-Novellen abrufbar, doch wie lange noch? 

Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre ist unübersehbar, dass die Digitalisierung zwar experimentelle literarische Formen wie die SMS-Novelle, Blogs mit Literatur, eBooks mit ihren spezifischen hypertextuellen Vernetzungsmöglichkeiten oder augmented reading, d.h. die Ergänzung des gedruckten Textes durch im Netz zur Verfügung gestellte digitale Inhalte, hervorgebracht hat. Mehr als eine Randexistenz hat sich indes keine dieser neuen experimentellen Formen auf dem Buchmarkt sichern können. Die enge Verkopplung von Technik und ›Content‹ führt zudem unabdingbar dazu, dass digitalen Formaten eine Flüchtigkeit und Transitorik eingeschrieben ist, die in diesem Ausmaß aus der buchförmigen Literatur unbekannt ist. Die hypertextuelle Website zum Buch, die eben noch durch einen Link oder QR-Code angesteuert werden konnte, ist morgen schon nicht mehr aufrufbar; der mit einem Content Management System (CMS) realisierte literarische Blog muss wegen Sicherheitsproblemen des CMS abgeschaltet werden; der programmierte Code einer Abenteuererzählung in Zusammenspiel von Text und Bild auf dem Bildschirm erweist sich beim nächsten Update des Betriebssystems als nicht mehr lesbar. Und ironischerweise werden im World Wide Web mit seiner Verheißung von Grenzenlosigkeit gerade digitale literarische Formen häufig technologisch durch nationale Grenzzäune eingehegt: Wer Langstrups SMS-Novellen in ihrer ursprünglichen medialen Form erleben möchte, braucht dafür zwingend einen skandinavischen Handyvertrag. Ebenso ist ein hochgelobtes Werk wie C.Y. Frostholms Kalender for natten (Kalender für die Nacht), das Frostholm zusammen mit dem Illustrator Simon Bodh Nielsen 2016 für eine ›Lektüre‹ auf dem iPad realisiert hatte, nur über ein Apple-Konto für den dänischen Appstore zu installieren.

Die Literaturwissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren vor allem für jene digitalen Formate interessiert, die den Lesern und Leserinnen – anders als die herkömmliche Literatur – explizit interaktive, non-lineare, netzwerkartige Lektüreräume eröffnen. Die SMS-Novelle ist entsprechend wenig in den Fokus gekommen. Dass sie sich medial wie thematisch bevorzugt an Jugendliche und junge Erwachsene als digital natives mit entsprechender Intensivnutzung von Handys richtet(e), mag ebenfalls zu diesem Mangel an Interesse beigetragen haben. Während die Linguistik sich ausführlich den Kurznachrichten mit ihrer spezifischen, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszillierenden Sprache (z.B. ›4u‹ für ›for you‹, Akronymen wie ›LOL‹ oder der Erweiterung des Zeichensatzes durch Emoticons wie ›:-)‹) gewidmet hat, ist die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit SMS-Novellen ein Desiderat. Steen Langstrups SMS-Novellen lassen jedoch erkennen, dass so eine Auseinandersetzung lohnend sein kann.

Steen Langstrup: SMS, 2 Feet Entertainment, 2022.

(Stephan Michael Schröder)

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