Wer bin ich und wenn ja, was ist mein Leben?

In einem Video auf Youtube kann man sehen, wie Jonas Hassen Khemiri scherzhaft bemerkt, er habe mit seinem neuen Roman ein lang ersehntes Ziel erreicht: ein so dickes Buch zu schreiben, dass der Titel horizontal auf den Buchrücken gesetzt werden kann. Khemiris Roman Systrarna (Die Schwestern) über die drei Schwestern Anastasia, Evelyn und Ina nimmt mit seinen gut 700 Seiten im Bücherregal dementsprechend einigen Raum ein, ist aber auch in manch anderer Hinsicht ein großer Roman. Mit stilistisch eleganten, manchmal über fast eine Seite dahinfließenden Sätzen breitet Khemiri in 137 Kapiteln ein 35 Jahre und drei Kontinente umspannendes Familienpanorama aus, das sich vielleicht am besten als Mashup aus Paul Austers postmoderner New-York-Trilogie und den Monumentalromanen des Russischen Realismus charakterisieren lässt.

Aus dem breitgefächerten intertextuellen Netzwerk von Systrarna ragt allerdings ein Text heraus, der sich schon wegen seines Genres keinem der beiden Pole so recht zuordnen lässt: Anton Tschechows im Titel des Romans anklingendes Drama Drei Schwestern. Der Klassiker, der mit seiner ungewöhnlichen Dramaturgie als einer der innovativsten europäischen Theatertexte um 1900 gilt, wird im Roman selbst an zentraler Stelle von einer der Schwestern, Evelyn, zur Aufführung gebracht. Verbindungen zu Drei Schwestern lassen sich aber auch abseits davon viele herstellen, von der Figurenkonstellation bis zu der prominenten Position des abwesenden Vaters, von den Motiven der Sehnsucht und des Wartens auf ein wirkliches Ankommen bis zum Ringen um eine eigene Handlungsmacht. Noch deutlicher jedoch als inhaltlich scheint das Theaterstück Khemiri formal inspiriert zu haben. Denn er überträgt Tschechows Technik des undramatischen Dramas ohne Zielspannung gewissermaßen auf den Roman. Viele Handlungsstränge werden in Systrarna lediglich angerissen, verlaufen oder überlappen sich auf ähnlich unzusammenhängende Weise wie Tschechows lange, häufig ins kommunikative Nichts führende Monologe. So entsteht weniger eine lineare Geschichte als ein flächiges Panorama aus oft nur lose verbundenen und mit großem räumlichen oder zeitlichen Abstand stattfindenden Episoden ohne tatsächlichen Fluchtpunkt. Dieses Fehlen einer eigenen zusammenhängenden Lebensgeschichte wird im Roman selbst regelmäßig thematisiert und dabei von den Figuren stets als Manko empfunden. So heißt es z.B. über das Leben der jüngsten der drei Schwestern Anastasia:

„Om allt hade varit en bok så hade saker kunnat göra mer logiska, språkkursen i Tunis hade lett till något konkret, något mer än ett krossat hjärta och några snabbt bortglömda verbböjningar, något mer än ett besök hos ett medium som hon aldrig återvände till. Men Anastasias liv var ingen bok, långt därifrån, hennes liv var bara ett antal slumpmässigt sammansatta scener och ibland, vid väldigt sällsynta tillfällen, hade hon känt att allt hade mening, att hennes liv hade en plats i ett större narrativ, att hon hängde ihop med det förflutna och den ofrånkomliga framtiden, men sen när drogerna lämnade kroppen var hon tillbaka i sin egen kropp och alltings slumpmässighet.“ (564)

(Wenn das Ganze ein Buch gewesen wäre, so hätten die Dinge mehr Sinn ergeben, der Sprachkurs in Tunis hätte zu etwas Konkretem geführt, zu mehr als einem gebrochenen Herzen und ein paar schnell wieder vergessenen Konjugationen, zu mehr als einem Besuch bei einem Medium, das sie niemals mehr aufsuchen würde. Aber Anastasias Leben war kein Buch, ganz im Gegenteil, ihr Leben bestand nur aus einer Reihe zufällig zusammengesetzter Szenen, und manchmal, ganz selten, hatte sie das Gefühl, als hätte alles hätte einen Sinn, als wäre ihr Leben Teil einer größeren Erzählung, als wäre sie mit der Vergangenheit und der unvermeidbaren Zukunft verbunden, aber später, wenn die Drogen den Körper wieder verließen, war sie zurück in ihrem eigen Körper und der allgemeinen Zufälligkeit.)

Große Fragen

Hilft der Verweis auf Tschechow dabei, den Roman formal zu fassen, bleibt eine kurze und dem ausufernden Text gerecht werdende inhaltliche Annäherung kompliziert. Im Laufe des Romans treten so viele Figuren auf, die schnell wieder verschwinden, verlaufen so viele Nebenhandlungen und Konflikte im Sande, geschehen so viele unwahrscheinliche und absurde Dinge, dass es schwerfällt, einen roten Faden auszumachen. Abstrakt, allerdings auch unspezifisch formuliert, ließe sich vielleicht sagen, dass es in Systrarna um die Zeit geht und um das Gefühl, dass sie mit fortschreitendem Alter immer schneller vergeht. Daran anknüpfend stellt der Text fast zwangsläufig die großen Fragen nach der Herkunft und Bestimmung des Lebenswegs, nach Sinnstiftung und (erreichten) Zielen.

Solche anthropologischen Grundfragen bergen immer die Gefahr, in Klischees und Banalitäten zu münden. In Systrarna geschieht dies zum Glück nicht. Sie werden nie platt oder schwer, sondern stets mit einer gewissen Leichtigkeit und Humor verhandelt, ohne dass der Text seine Tiefsinnigkeit verlieren würde. Dies gelingt auch deshalb so vorzüglich, weil der Roman, wie bei Khemiri üblich, eine feine, zum Ende verstärkt in den Vordergrund drängende selbstreflexive Ebene enthält, die alle Antworten und Erkenntnisse sofort wieder in Zweifel zieht. Auf ihr spiegeln sich die existenziellen Fragen der Handlung als metapoetische Diskussion. Wie konstruiert sich das eigene Ich durch Sprache? Ist es angesichts der Undurchdringlichkeit des eigenen Ichs und Schicksal nicht müßig, das Leben als (logische) Erzählung zu begreifen? Und wenn man es trotzdem tut: Wo endet meine und wo beginnen fremde Lebensgeschichten, wie beeinflussen und verändern sie sich je nach Perspektive? Und wer ist überhaupt dafür geeignet, eine solche Geschichte zu entwerfen und zu erzählen?

Der Fluch

Wechselt man von diesem abstrakten Niveau auf die Plotebene, scheint es sinnvoll, zunächst den Moment zu suchen, an dem die Geschichte um die drei Mikkolaschwestern einsetzt. Eine Aufgabe, die in diesem Text mit seinen vielen Rückblenden, Vorausschauen und parallelen Handlungen gar nicht so leicht zu bewältigen ist. Getreu der Tatsache, dass sich kausallogische Verbindungen oft erst im Nachhinein erkennen lassen, bringt das Ende des Romans zumindest etwas Licht in das verwirrende Dunkel. Dort wird erzählt, dass die Geschichte mit Selima, der Tante der Schwestern, und einem Fluch beginnt: Das, was ihr am meisten liebt, wird euch genommen werden.

Auch wenn das Romanende anderes andeutet, taucht der von Selima ausgesprochene Fluch im Verlauf der Ereignisse allerdings zu selten auf, um als Leitmotiv oder handlungstreibendes Element dienen zu können. Wenn man möchte, kann man ihn aber zumindest als Hintergrundrauschen wahrnehmen, zum Beispiel, wenn die Ehen von Evelyn und später auch von Ina scheitern, wenn Anastasia sich wegen einer Kleinigkeit von der Liebe ihres Lebens Daniela verabschiedet, wenn die Mutter der Mikkolaschwestern stirbt, oder wenn sich die drei selbst für lange Zeit aus den Augen verlieren und es ihnen misslingt, die Wurzeln ihrer Familiengeschichte in New York zu recherchieren. Aber auch in Randepisoden, z.B. wenn Anastasias Basketballteam trotz ihrer Klasse stets im entscheidenden Moment versagt, wenn Evelyn durch ihre Schauspielausbildung, die sie erst nicht wollte, und dann nicht beendet, ihre beste Freundin verliert, oder wenn Ina trotz ihrer Disziplin und ihres Durchhaltevermögens das Glück in ihrem Beruf verwehrt bleibt.

Verflucht hat Selima ihre Schwester, als diese in den 1970er Jahren ihre Identität gestohlen und aus Tunesien nach Europa aufgebrochen ist, um dort als falsche Selima das Leben zu führen, das die echte Selima immer hatte führen wollen. Vom Ende des Romans aus gedacht steht also am Anfang eine Migrationsgeschichte, die allerdings (wegen des Fluches?) anders verläuft als erwartet. Die falsche Selima findet zwar eine neue Heimat in Schweden, zieht in ein Wohnviertel des schwedischen Millionenprojekts, heiratet, bekommt drei Töchter, aber sie stürzt auch in zahlreiche psychische Krisen, findet in Schweden nie wirklich eine Heimat und verliert zudem ihren Mann. Und auch zu Ina, Evelyn und Anastasia gestaltet sich ihr Verhältnis bis zu ihrem Tod, ungefähr in der Mitte des Romans, äußerst kompliziert, ist gleichzeitig geprägt von tiefer Zuneigung und bitteren Vorwürfen. Blickt man genau hin, übernimmt der Fluch in diesem im Großen und Ganzen unglücklichen Leben lediglich den Platz einer Erklärungsstrategie. Er mystifiziert die Schicksalsschläge und kaschiert auf diese Art sowohl die eigenen Fehler wie auch das Versagen der schwedischen Migrationspolitik und das Scheitern des Millionenprojekts.

Postmodernes Verwirrspiel

Am Anfang steht aber auch, so erzählt es wiederum der Beginn des Romans, eine Party am Silvesterabend des Jahres 1999: „And so it was told att historien om Mikkolasystrarna började den sista december, på milleniets sista dag” (11; And so it was told, dass die Geschichte der Mikkolaschwestern am letzten Dezember, am letzten Tag des Jahrtausends begann), lautet der erste märchenhafte Teilsatz des Romans, von dem aus sich das Geflecht unterschiedlicher Lebensgeschichten entspinnt. Von hier aus betrachtet werden Roman und Handlung weniger durch den Fluch als durch eine vierte Hauptfigur zusammengehalten: Jonas Khemiri, der sich um die Leben der drei Schwestern herum und in sie hineinschreibt und dabei zugleich seine eigene Geschichte erzählt.

Das Leben treibt Jonas nicht nur zu denselben Orten wie die Schwestern, nach New York, zum Sprachkurs nach Tunesien, in eine deutsche Kleinstadt, wie sie sind auch er und seine zwei Brüder als Halbtunesier in Drakenberg im Stockholmer Stadtteil Södermalm aufgewachsen. Je mehr sich die Prallelen und Querverbindungen zwischen Jonas’ Leben und dem der Schwestern häufen, desto merkwürdiger und unwahrscheinlicher wirken sie. Jonas als Erzähler scheint dies selbst zu bemerken, wenn er sie gegen Ende des Romans sogar noch auf biologische Füße stellt und andeutet, sein Vater habe eine Beziehung mit der Mutter der Mikkolaschwestern gehabt und sie könnten Halbgeschwister sein.

Abseits seines Lebens mit, für und durch die Schwestern führt Jonas auch ein Leben als Schriftsteller, das in groben Zügen Khemiris eigener Karriere gleicht. So erfahren wir z.B. von seinem ersten großen Erfolg im Jahr 2003 mit Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker), davon, dass er verschiedene, erfolgreiche Theaterstücke geschrieben hat, 2015 mit Allt jag inte minns (Alles was ich nicht erinnere) einen teilweise in Berlin spielenden Roman veröffentlicht hat und im Jahr 2021, ein Jahr verspätet durch die Auswirkungen der Coronapandemie, mit seiner Familie nach New York zog, um dort als Cullman Fellow in der renommierten New York Public Library einen Roman zu schreiben, nämlich eben jenen monumentalen Roman Systrarna:

„Jag skriver dessa ord i januari 2022, jag sitter i mitt rum på New York Public Library, en ny våg av covid har lett till nya restriktioner, alla har fortfarande munskydd, i tunnelbanan, inomhus, i skolan. Biblioteket är stängt för allmänheten idag, det är bara jag och några säkerhetsvakter här.“ (577)

(Ich schreibe diese Worte im Januar 2022, ich sitze in meinem Zimmer in der New York Public Library, eine neue Coronawelle hat zu neuen Restriktionen geführt, alle tragen immer noch Masken, in der U-Bahn, in Innenräumen, in der Schule. Die Bibliothek ist heute für die Allgemeinheit geschlossen, es sind nur ich und einige Sicherheitsleute hier.)

Diese in den Roman eingewobenen biografischen Elemente überziehen den übrigen Text mit einem Schleier der Unsicherheit, werfen die Fragen auf, was ist Khemiri tatsächlich passiert und was ist nur erfunden. Verstärkt wird diese provokative Situation für den Leser noch dadurch, dass Jonas auch private Dinge verrät, die nicht immer so leicht zu verifizieren sind wie die Meilensteine von Khemiris Autorenkarriere. So berichtet Jonas z.B., wie er seine Frau Diane kennenlernte, von psychischen Problemen, die ihn in eine Therapie gezwungen haben, vom frühen Tod seiner besten Freundin, davon, dass er Vater zweier Söhne und Bruder eines Schauspielers ist, vom komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, etc.

Seinen Höhepunkt findet das Spiel mit dem Rezeptionsverhalten der Leser im vorletzten Teil des Romans. Hier kommt es in New York zu einer Art Showdown zwischen Jonas und Evelyn, die im Laufe des Romans mehr und mehr ins Zentrum der Handlung drängt. Mit dieser zunehmenden Konzentration auf Evelyn etabliert sich eine neue oder nun zumindest deutlicher sichtbare auktoriale Erzählinstanz, die sich zwischen den realen Autor Jonas Hassen Khemiri und den fiktiven schreibenden Ich-Erzähler Jonas schiebt. Aus dem berichtenden Ich wird nun plötzlich ein recht aufdringliches Er, das Evelyn mit E-Mails bedrängt:

„Den 20 juni 2020 fick Evelyn ett underligt mail från en man som hon hade varit ytligt bekant med när hon var barn, han påstod att de var gamla vänner, han berättade att han hade ägnat hela sitt liv åt att försöka förstå sitt liv genom Evelyn och hennes systrar […]“ (631).

(Am 20. Juni 2020 bekam Evelyn eine merkwürdige E-Mail von einem Mann, mit dem sie als Kind flüchtig bekannt gewesen war, er behauptete, sie wären alt Freunde, er erzählte, er habe sein ganzes Leben damit verbracht, sein Leben durch das von Evelyn und ihren Schwestern zu verstehen […])

Dieser erzählerische Perspektiv- und Autoritätswechsel hat für Jonas wie für die Leser entscheidende Konsequenzen. Denn er stellt innerhalb der Diegese den Wahrheitsgehalt des bisher Gelesenen und speziell die von Jonas stets betonte enge Beziehung zu Evelyn in Frage. Glaubt man Evelyn, so entstammt Vieles, was Jonas über sie erzählt, nur Jonas’ Fantasie:

„Han tar det som ett skämt, men hon hade inte menat det som ett skämt. Istället börjar han prata om den gången när de såg ett Jas-plan krascha på Långholmen. Hon skakar på huvudet. / Inte en chans, säger hon. Det här minns jag tydligt. Jag var på Långholmen själv. Och sen skällde Ina ut mig för att jag hade lovat att stå på andra sidan Västerbron. / Jag var också där, säger han. / Det kanske du var, men vi var inte där ihop. Och om du var där såg du mig på avstånd och inbillade dig att du var där med mig. Det kanske är det som du har gjort hela livet, tittat på oss från utsidan och hoppats att du var med oss så mycket att det blev sant.“ (697)

(Er fasst das als Scherz auf, aber sie hat das nicht als Scherz gemeint. Stattdessen beginnt er davon zu reden, wie sie einmal einen Jetabsturz auf Långholmen gesehen hätten. Sie schüttelt den Kopf. / Keine Chance, sagt sie. Daran erinnere ich mich deutlich. Ich war selbst auf Långholmen. Und später schimpfte Ina mit mir, weil ich versprochen hatte, auf der anderen Seite der Västerbron zu stehen. / Ich war auch da, sagt er. / Vielleicht warst du das, aber wir waren da nicht zusammen. Wenn du da gewesen bist, dann hast du mich von weitem gesehen und dir eingebildet, dass du mit mir zusammen da wärst. Vielleicht hast du das dein ganzes Leben getan, uns von außen beobachtet und gehofft, dass du bei uns wärst, so sehr, dass es wahr wurde.)

Das, was innerhalb der Diegese wahr und was nur erfunden ist, bleibt so bis zum Ende des Romans zweifelhaft. Trotzdem bringt der letzte Teil des Romans und die enger werdende Beziehung zwischen Jonas und Evelyn etwas Klarheit in das Verwirrspiel, eine Klarheit allerdings, die nur innerhalb der Fiktion gilt und so die Möbiusschleife des schreibenden geschriebenen Ichs noch enger zieht. Die heterogene Form des Romans mit seinen vielen losen Enden wird innerhalb der Diegese nämlich als ein von Jonas vervollständigtes Monologprojekt von Evelyn erklärt, in dem sie zunächst einfach ihre Familiengeschichte erzählen wollte, das sich aber mit der Zeit verändert hat:

„Först ville jag berätta min historia, säger hon. Sen blev min historia kopplad till mina systrars historia, och våra föräldrars historia, och sen tänkte jag att det skulle handla om förbannelsen, och sen skyskraporna och sen förstod jag att hela monologen måste kretsa kring tid, så nu håller jag på att strukturera om allt material i sju delar, och varje del täcker en kortare och kortare tidsperiod, ett år ned till en minut, målet är att monologen ska reflektera känslan av att tiden går snabbare och snabbare när vi åldras.“ (699)

(Zuerst will ich meine Geschichte erzählen, sagt sie. Dann wird meine Geschichte mit den Geschichten meiner Schwestern verbunden, und mit der Geschichte unserer Eltern, und dann habe ich gedacht, dass es um den Fluch gehen müsste, und dann die Skyscraper, und dann verstand ich, dass der ganze Monolog um die Zeit kreisen musste, und jetzt strukturiere ich das ganze Material in sieben Teile um, und jeder Teil deckt eine kürzere Zeitspanne ab, von einem Jahr bis zu einer Minute, der Monolog soll das Gefühl reflektieren, dass die Zeit schneller und schneller vergeht, wenn wir altern.)

Jonas hat diese Form, das zeigt der fertige Roman Systrarna, übernommen oder, auch das deutet Evelyn an, gestohlen und zu eigen gemacht – genauso wie er sich das Leben der Schwestern zu eigen gemacht und versucht hat, sich in die Leben der Schwestern hineinzuschreiben und Wände zwischen Realität und Fantasie einzureißen. Dass durch diese Übernahme zwangsläufig eine andere Geschichte der Mikkolaschwestern entsteht, als sie Evelyn erzählen wollte, gesteht auch Jonas ein: „texten handlar ju mer om min bild av er än om era riktiga jag, säger han.“ (709; Der Text handelt eben mehr von einem Bild von euch als von euren richtigen Ichs, sagt er).

Als würde in diesem großen, virtuosen Roman nicht schon genug verhandelt, schreibt sich Khemiri mit dieser Frage nach den Rechten einer ausgedachten Figur auf ironische Weise in die typischen Debatten der Migrations- und Autofiktionsliteratur um Repräsentation und Persönlichkeitsrechte ein. Anders als andere sehr erfolgreiche skandinavische Autorinnen und Autoren der letzten Jahre diskutiert Khemiri diese Fragen allerdings in einem für ihn typischen spielerischen Rahmen mit vielen doppelten Böden. Und das gelingt ihm auch noch auf eine so elegante und feinfühlige Weise, dass der Text trotz aller postmoderner Verschachtelungen pure Unterhaltung und jede Menge Lesevergnügen bietet. Kurz, Khemiri ist mit Systrarna ein Roman gelungen, dem man gerne einen größeren Platz im Bücherregal einräumt.

(Patrick Ledderose, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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