Über Existenzkrisen und die Farbe des Erinnerns

2019 wurde die schwedische Autorin Ellen Mattson, die bereits seit Anfang der 1990er Jahre fiktionale Literatur schreibt, Mitglied der Schwedischen Akademie. Den svarta månens år (2021, Das Jahr des schwarzen Mondes) ist nun der erste Roman seit Übernahme der Position und entsprechend hoch sind vielleicht bei vielen die Erwartungen. Er handelt von David Svarthed, einem Mann mittleren Alters und Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität, der allerdings infolge einer Suspension wegen Fehlverhaltens und einer Kopfverletzung nach einem Unfall nicht mehr arbeitet. Der knapp 200 Seiten lange Roman wurde von den Rezensent*innen zwar hauptsächlich positiv aufgenommen, wegen der etwas zerfahrenen Plotstruktur teils aber auch kritisiert.

Insbesondere zu Beginn des Textes kommt der Universität eine gewichtige Rolle zu: Neben Fragen nach dem richtigen sozialen Umgang mit Studierenden werden die Bedingungen wissenschaftlichen Schreibens, der Schwund an Immatrikulationen in den Geisteswissenschaften und eine Hinwendung derselben zu den Digital Humanities thematisiert. Zwar gewinnt Den svarta månens år durch diese hochschulpolitischen Themen auch eine gesellschaftsengagierte Dimension, hauptsächlich handelt der Text jedoch von einer individuellen und existentiellen Krise des Protagonisten, die eng mit seinem Gesundheitszustand zusammenhängt.

Erschütterungen

Das zentrale Ereignis im Roman ist ein Sturz gleich am Anfang der Handlung: Auf dem vereisten Bürgersteig rutscht David aus, fällt, verletzt sich am Kopf und erleidet einen Gedächtnisverlust. Darüber hinaus beginnt er zu halluzinieren, stellt sich etwa Vögel und Fischschwärme vor, die sein Sehvermögen beeinträchtigen, und leidet an Schlaflosigkeit sowie an Sprachverwirrungen, die sich auch in der formalen Gestaltung des Romans kenntlich machen, denn der Text erzählt in weiten Teilen stark assoziativ. Davids Halluzinationen und der titelgebende dunkle Mond, zu dem er im Laufe der Handlung immer wieder hinaufblickt, bilden dabei Ankerpunkte in einer Erzählung, deren Plotstruktur – und hier kann den oben erwähnten kritischen Rezensionen widersprochen werden – gerade durch die Parallelisierung von Gedächtnisverlust und sprunghafter Erzähltechnik besticht.

Der Text beginnt als eine Art Kriminalroman, da der Protagonist bei seinem Sturz ein Buch verliert und annimmt, dass es ihm gestohlen wurde – das vermuten auch zwei Jugendliche, die ihm nach dem Sturz aufhelfen und gesehen haben wollen, dass er nicht von selbst gefallen, sondern von einem Paar niedergeschlagen wurde. Zusammen mit den beiden Jugendlichen macht David sich auf die Suche nach dem Buch und dem Paar, das den Jugendlichen durch eine außergewöhnliche Körpergröße aufgefallen ist. Durch einige zunächst etwas absurd und wenig realistisch wirkende Zufälle erhält der Protagonist Hinweise darauf, um wen es sich bei dem Paar handeln könnte. Diese scheinbaren Deus-ex-machina-Lösungen verfolgt er jedoch auffälligerweise nie, im weiteren Verlauf besteht der Roman stattdessen vielmehr aus einer Schilderung seines Alltags und psychischen Verfalls. Dabei wird das Genre des Krimis in einem Gespräch, das der Protagonist mit einer Bibliothekarin führt, aufgegriffen und poetologisch reflektiert, indem die Bibliothekarin kritisiert, dass der Handlungsverlauf von Krimis oft voraussehbar sei und die menschliche Psyche darin unterkomplex dargestellt werde. Auf diese Weise hebelt Mattson in ihrem Roman also typische Erzählstrukturen des Krimis aus, ironisiert sie und verweigert sich der Einordnung in das Genre.

Das Buch, das David sucht, wird im weiteren Verlauf als sprachliches und visuelles Zeichen lesbar, das auf kein spezifisches Wissen verweist, sondern mit diversen, wechselnden Bedeutungen geladen erscheint. Wegen seiner Gedächtnislücken erinnert David sich nämlich nicht an den Inhalt, wohl aber an den ansehnlichen roten Einband des Buches mit goldenen Verzierungen. In seiner Schlaflosigkeit und Sprachverwirrung führt ihn die Farbe Rot assoziativ in seine Kindheit. Als er sich ins Bett legt, erscheinen ihm im Dämmerzustand Bilder und Szenen vor dem inneren Auge:

Hans ögon fylldes med dödsdagg som också rann genom munnen och näsan, men en kraftig snarkning ryckte upp honom, bar bort honom i ett gudomligt töcken, det lyste något rött på trädgårdsbordet eller passerade kanske bara i form av ett klädesplagg snabbt förbi den smala dörrspringan, han hörde de torra kloten smälla och det var sant, de hade spelat krocket den dagen. Det kunde också vara en tillbringare med saft som samlade ljuset på trädgårdsbordet under hagtornsträdet.

Hade mamma något rött, det skulle han fråga Therese i morgon och hon skulle veta, hon mindes sådant han glömde, men det var inte nostalgi, hon hade bara ett mer utpräglat minne för detaljer. (S. 66)

Seine Augen füllten sich mit einem Todestau, der auch durch Mund und Nase rann, doch ein lautes Schnarchen ließ ihn auffahren, trug ihn fort in einen göttlichen Nebel, etwas Rotes leuchtete auf dem Gartentisch auf oder huschte vielleicht nur in Form eines Kleidungsstücks am schmalen Türschlitz vorbei, er hörte die trockenen Kugeln aneinanderprallen und es war richtig, sie hatten an diesem Tag Krocket gespielt. Es konnte auch eine Kanne mit Saft gewesen sein, die das Licht auf dem Gartentisch unter dem Weißdorn sammelte.

Hatte Mutter etwas Rotes, das wollte er morgen Therese fragen und sie würde es wissen, sie erinnerte sich an das, was er vergaß, doch nicht aus Nostalgie, sie hatte einfach ein besser ausgeprägtes Gedächtnis für Details.

Therese mit dem scharfen Verstand, die auf diese Weise auch als Kontrastfigur zum Protagonisten gelesen werden kann, ist seine Schwester. Diese jedoch kann ihm kaum weiterhelfen. Er selbst ist es, der, nachdem er einmal doch länger schlafen kann, die prinzipielle Mehrdeutigkeit der Farbe erkennt:

När han vaknade hade det börjat mörkna och han visste att det röda inte fanns och aldrig hade funnits, det som fanns var en isfläck som han halkat på utanför kaféet och en glömska som han kallat röd fast den lika gärna kunde kallas något annat, en saknad som kunde bero på vad som helst i det förflutna: en borttappad leksak eller en solnedgång i en gammal bilderbok eller känslan av övergivenhet när någon gick ifrån honom på kvällen. Han gav det namnet röd och lät det vaktas av två långa personer, men de fanns inte heller, det som fanns var isfläcken, marken där han föll, skakningen i hans hjärna [.] (S. 155)

Als er aufwachte wurde es allmählich dunkel und er wusste, dass es das Rote nicht gab und nie gegeben hat, das was existierte war Glatteis vor dem Café, wo er ausgerutscht war, und ein Erinnerungsverlust, den er als Rot bezeichnete, obwohl er genauso gut anders hätte heißen können, eine Sehnsucht, die auf allem Möglichen aus der Vergangenheit beruhen konnte: verlorenem Spielzeug, einem Sonnenuntergang in einem alten Bilderbuch oder dem Gefühl der Trennung, wenn jemand ihn abends verließ. Er gab dem den Namen Rot und ließ es von zwei großen Menschen überwachen, doch auch sie gab es nicht, sondern nur das Glatteis, die Stelle an der er fiel, die Erschütterung in seinem Hirn [.]

Medien des Erinnerns

Das Erinnern ist grundsätzlich ein zentrales Thema im Roman. Immer wieder schwanken die Reflexionen des Protagonisten zwischen dem Willen, sich selbständig an Vergangenes erinnern zu wollen, und der sich aufdrängenden, vom Protagonisten aber gern verdrängten Notwendigkeit, sich im Hier und Jetzt wegen des Hirnschadens behandeln lassen zu müssen. So werden zum einen die zeitliche Dimension des Erinnerns betont, zum anderen aber auch Abhängigkeitsverhältnisse und Beziehungen des Protagonisten zu anderen Figuren – den beiden Jugendlichen, die ihm bei der Suche nach dem großen Paar helfen, der Schwester oder etwa dem Arzt, der ihn behandelt.

Dabei geht es im Roman um ganz verschiedene Aspekte des Erinnerns. Kurz nachdem er an einem Hafen nach Hinweisen auf das erwähnte Paar sucht, diese Suche nur wenig später aber aufgrund der Kälte und der Nässe beendet, reflektiert der Protagonist etwa über die Bedingungen des Erinnerns: Ihm fällt auf, dass die wiederholte und intensive Beschäftigung mit einem spezifischen Ereignis hilfreich für ein langes Erinnern daran ist und dass seine eigene Vergesslichkeit auch darin begründet liegt, sich dem Erlebten gedanklich zu selten zu widmen.

Mit einer solchen Kognitionsarbeit verbunden ist im Roman auch das kulturelle Erinnern, das etwa thematisiert wird, wenn der Protagonist eine Veranstaltung zu einem wiederentdeckten Schiffswrack besucht oder wenn er bedauert, dass viele großartige Texte der Weltliteratur heute kaum mehr rezipiert werden. Spätestens als David einmal auf alte schwedische Gedichte stößt, die er aus seiner eigenen Schulzeit kennt und kurzerhand beschließt, die – noch immer lebende – Autorin zu besuchen, wird das Erinnern außerdem im Kontext des Alterns thematisiert. Die etwas dement und überfordert wirkende Poetin kann ihm auf seine Frage, weshalb sie aufgehört habe zu schreiben, schlichtweg nicht antworten. Sie redet teils wirr, kann die Realität nicht klar von ihrer Vorstellung trennen – und unterscheidet sich in ihrem Verhalten auf diese Weise nur marginal von David selbst.

Hier, insbesondere aber noch einmal in einer rätselhaften Passage zum Ende des Romans, wird die in Den svarta månens år immer wieder angedeutete Verschränkung von Erinnern, Schreiben und Literatur deutlich. Um das rote Buch doch noch zu finden, schleicht sich der Protagonist an einem Abend in das Magazin der Bibliothek, da er vermutet, es sei ihm vielleicht doch nicht beim Sturz abhandengekommen, sondern er habe es zuvor schon versehentlich gemeinsam mit geliehenen Büchern in den Rückgabekasten der Bibliothek geworfen. Im Magazin, das deutlich größer ist als von ihm erwartet, trifft er überraschenderweise auf verkleidete Besucher*innen eines – vermutlich von ihm imaginierten – Maskenballs. Die Atmosphäre dieser ausgelassenen Feier bewirkt bei David allerdings eine Zerstreuung – ein wenig wie Goethes Faust in den Walpurgisnachtszenen erscheint er verzaubert von dem traumartigen Geschehen und abgelenkt von seinem Vorhaben. Ob er das Buch findet, bleibt so auch unklar – ihm fällt eine Leerstelle in einem Regal auf; das Buch, das zuvor dort stand, wird während des Balls von einem Praktikanten gelesen, erfährt er etwas später am selben Abend. Da ist es ihm jedoch schlicht nicht mehr wichtig. In dem Moment, in dem er das Buch möglicherweise hätte finden und dessen Inhalt erfahren können, verliert es seinen Reiz und der Protagonist wendet sich wieder dem Bann des Maskenballs zu, der in seiner Rätselhaftigkeit und Phantastik dem konkreten, textuell konservierten und daher potentiell immer zugänglichen Wissen der Bücher im Magazin entgegensteht. Vielleicht ist Davids Desinteresse an dem Buch und damit an eindeutigem, unveränderlichem Wissen also auch als Lust am Phantasieren, am bewussten Erinnerungsverlust oder zumindest dem nur vagen Erinnern zu deuten, das Raum für allerhand Ideen lässt, die Gedächtnislücken zu füllen.

Gerade durch die vielen phantastischen und assoziativ erzählten Passagen, die oft poetische Sprache und die umfassenden Reflexionen des Protagonisten über das Erinnern und das Schreiben handelt es sich bei Den svarta månens år von Ellen Mattson um einen schönen und zugleich ungewöhnlichen Roman. Störend sind leider einige trivial und romantisch verklärend wirkende Reflexionen und Gespräche im Text, etwa wenn die erwähnte Bibliothekarin David erzählt, dass ihr Hund einmal entlaufen und sieben Stunden später wieder zurückgekehrt sei. Er solle deshalb darauf vertrauen, dass das verlorene Buch auftauchen werde, denn „också döda ting har en benägenhet att göra det, sa hon, som flintyxor som pressar sig själva upp ur jorden efter femtusen år och plötsligt ligger framför en på stigen eller skedar som kommer fram när man gräver i komposten. De var aldrig borta på riktigt.“ (S. 62, „auch tote Dinge neigen dazu, das zu tun, sagte sie, wie steinerne Pfeilspitzen, die sich nach fünftausend Jahren selbst aus der Erde pressen und plötzlich vor einem auf dem Weg liegen, oder Löffel, die zum Vorschein kommen, wenn man im Kompost gräbt. Sie waren niemals wirklich weg.“) Auf solche Passagen hätte Mattson verzichten können, doch auch wenn nicht alle Erwartungen erfüllt werden, handelt es sich bei Den svarta månens år zweifellos um ein ungewöhnliches und intensives Leseerlebnis.

Ellen Mattson: Den svarta månens år, Stockholm: Bonnier, 2021.

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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