»Insta-Bücher« und digitale Kurzerzählungen: Von Alexander Kielland Krags @dbmo_2020 zu @pokketstories

Norwegens erster Instagram-Roman

Im Jahr 2020 veröffentlichte Alexander Kielland Krag mit Dette blir mellom oss (Das bleibt unter uns) seinen ersten Jugendroman, der parallel dazu auch als erster norwegischer Roman auf Instagram erschien. Sowohl Kielland als auch Krag sind wohlbekannte Namen in der norwegischen Literatur. Im Jahr 1880 veröffentlichte Alexander Kielland (1849–1906) seinen ersten Roman Garman & Worse und wurde schnell zu einem der bekanntesten norwegischen Autoren. Gemeinsam mit Henrik Ibsen, Bjørnstjerne Bjørnson und Jonas Lie wurde er von seinem Verlagshaus Gyldendal zu einem »der vier Grossen« (De fire store) gekürt, eine PR-Strategie, die noch heute als Bezeichnung weiterlebt. 

Vilhelm Krag (1871–1933) veröffentlichte sein erstes Gedicht »Fandango« im Jahr 1890 und positionierte sich damit gegen die realistische Literatur von Autoren wie Alexander Kielland. Im Store Norske Leksikon (Großes norwegisches Lexikon) schreibt der Literaturwissenschaftlicher Henning Howlid Wærp: »Da Vilhelm Krag debuterte som dikter, var det som en markant ny stemme i norsk lyrikk som ble møtt med skepsis i forlagene, men som ble omfavnet av unge lesere.«

(Vilhelm Krag debütierte als Dichter mit einer markant neuen Stimme in der norwegischen Lyrik, die von den Verlagen mit Skepsis betrachtet, aber von jungen Leser:innen mit Begeisterung empfangen wurde.)

Fast 150 Jahre später veröffentlichte also Kiellands Ururenkel und Krags Urenkel mit Dette blir mellom oss seinen ersten Roman und Norwegens ersten Instagram-Roman – wie Kielland in einem realistischen Stil bei Gyldendal, aber wie Krag mit »einer markant neuen [aber ganz anderen] Stimme,« die dieses Mal vorwiegend auf Begeisterung traf. »Norwegens erster Instagram-Roman« ist mehr als eine neue PR-Strategie. Mit ihm überschreiten Kielland Krag und Gyldendal die Grenzen des traditionellen Buchmediums, schaffen neue Leseerfahrungen und – so zumindest die Hoffnung des Verlags – erreichen ein neues Lesepublikum. 

In Dette blir mellom oss beginnt der 17-jährige Felix nach einem Umzug von Stavanger nach Oslo auf einer neuen Schule. Gleich zu Beginn freundet er sich mit Philip an und verliebt sich in Nicolai. Ob Nicolai die gleichen Gefühle für Felix hat, ist unklar. Genauso ist Felix unsicher, was und wieviel er seinen neuen Freunden erzählen soll. Damit berührt Dette blir mellom oss sowohl typische Jugendbuch-Themen wie Freundschaft, das erste Verliebtsein, Sexualität, Auseinandersetzung mit Normen und Erwartungen und Identitätssuche als auch das seltener behandelte Thema Homosexualität.

In gedruckter Buchform besteht Dette blir mellom oss aus kurzen Texten von maximal etwas mehr als einer halben Seite. Dieses Kurzformat ist eine logische Konsequenz der digitalen Instagram-Version, für die der Text geschrieben wurde. Auf dem Instagram-Kanal @dbmo_2020 wurden ab dem 6. Mai 2020 ein paar Seiten zusammengefasst zu 38 Kapiteln in den Stories veröffentlicht. Als Highlights sind sie entgegen der oft erfahrenen Kurzlebigkeit von sozialen Medien bis heute verfügbar (allerdings auf @pokketstories, mehr dazu später).

@dbmo_2020 bedient sich der vielfältigen Möglichkeiten des digitalen Formates, um ein multimodales Leseereignis zu schaffen, das das Buchformat nicht leisten kann. Da Instagram im Gegensatz zum Buchmedium vorrangig ein Bild- und kein Textmedium ist, ist die visuelle und – je nach Format des Postings – auditive Dimension wichtig, sowohl um den Erwartungen der Lesenden entgegenzukommen als auch um den ‚Spielregeln‘ und Funktionsweisen des Mediums gerecht zu werden. In diesem Sinne werden die Textabschnitte mit Bildern, Videos und Ton ergänzt. Ankündigungen von Seiten des Verlages, ausgewählte Zitate und Portraits der Hauptfiguren sind zusätzlich als Bild auf dem Feed veröffentlicht. 

Die visuelle Ausformung des Instagram-Romans führt damit zu einer anderen Leseführung. Die Geschichte von Dette blir mellom oss ist aus Felix‘ Perspektive erzählt. In der Instagram-Version wird diese Innenperspektive jedoch mit einer Außenperspektive ergänzt, zum Beispiel wenn der Text mit einem Bild von Felix kombiniert wird. Diese visuelle Komponente ist streng genommen nicht notwendig, der Text spricht für sich und die zahlreichen Leerstellen, die sowohl durch die rigorose Auswahl von als auch durch die kurzen Texte selbst entstehen, machen den Jugendroman ebenso für erwachsene Leser interessant. Gleichzeitig muss man jedoch anerkennen, dass nicht alle eine solche ‚Lesefreiheit‘ als literarische Qualität wertschätzen. Die Stärke der Doppelpublikation von Dette blir mellom oss liegt darin, Wahlmöglichkeiten anzubieten und damit auch Gruppen zu erreichen, die wenig oder gar nicht täglich lesen.

Die Reaktionen auf Dette blir mellom oss und @dbmo_2020 waren erwartungsgemäß vielfältig und positiv. Die Buchkritiken beziehen sich verständlicherweise vor allem auf die gedruckte Version – diese war Anfang Mai im Unterschied zur Instagram-Version gleich als Volltext verfügbar. Zur digitalen Version nennt Gyldendal auf seiner Homepage ein paar eindrucksvolle Zahlen: 9000 Follower nach zwei Wochen, die der Geschichte durchschnittlich fünf Minuten ihres Tages widmen; sieben von zehn Followern sind unter 34. Für die Buchversion konnte Gyldendal darüber hinaus überdurchschnittlich hohe Verkaufs- und Ausleihzahlen für einen Jugendbuchroman verzeichnen. Im Jahr 2021 gewann Kielland Krag Trollkrittet, den Debütant:innenpreis der Vereinigung norwegischer Kinder- und Jugendbuchautor:innen (Norske Barne- og Ungdomsbokforfattere), und war für den Bokbloggerprisen (Buchbloggerpreis) und den Debütant:innenpreis für Kinder- und Jugendliteratur des norwegischen Kulturministeriums nominiert. Im selben Jahr hat das digitale Format von Dette blir mellom oss außerdem den Fast Company’s World Changing Ideas-Preis in der Kategorie »Medien und Unterhaltung« gewonnen, gefolgt von der Auszeichnung DOGA-merket der Stiftelsen Design og arkitektur Norge (Stiftung Design und Architektur Norwegen).

Mitte August 2021 wird auf @dbmo_2020 angekündigt, dass Kielland Krag in wenigen Tagen seinen zweiten Roman veröffentlicht: Litt redd, bare (Nur ein bisschen Angst). Auch dieses Mal wählt Kielland Krag ein Thema, dass sowohl relevant als auch wenig beachtet ist. Der 17-jährige Cornelius erlebt plötzlich einen Panikanfall. Zunächst verunsichern ihn die Symptome, danach auch die Frage, wie er mit Angst umgehen soll, und, nicht zuletzt, wie und mit wem er darüber sprechen kann. Deshalb zieht Cornelius sich immer mehr vor seinen besten Freunden zurück, die allerdings ahnen, dass es dafür einen Grund gibt, den Cornelius versucht zu verdecken.

Stilistisch erinnert Litt redd, bare mit kurzen Textabschnitten an Dette blir mellom oss. Auf @dbmo_2020 wurden dieses Mal aber nur Auszüge veröffentlicht, im Feed, in den Stories und als Reels. Wo Dette blir bare mellom oss die Lesenden trotz der kurzen Textabschnitte in eine zusammenhängende, sich entwickelnde Geschichte hineinzieht, stockt Litt redd, bare teilweise durch ausführliche metaphorische Gefühls- und Situationsschilderungen wie in dem folgendem Beispiel: »Jeg bruker tårer som bensin – løper helt hjem uten å bli sliten. Kommer inn i gangen med orkan i kroppen og slenger døren hardt igjen bak meg.« (184, Ich verwende Tränen wie Benzin – laufe bis ganz nach Hause, ohne müde zu werden. Komme in den Flur mit einem Orkan im Körper und schmeiße die Tür hinter mir zu.) Für Litt redd, bare gewann Kielland Krag Uprisen, einen von Jugendlichen gewählten Preis für das Jugendbuch des Jahres. Außerdem war er für den Kinder- und Jugendliteraturpreis des norwegischen Kulturministeriums nominiert. Im Gegensatz zum Debütroman ist die Aufmerksamkeit aber gering und auf @dbmo_2020 wird es ruhig.

Kollektives Instagram-lesen und ‚neues‘ Schreiben

Ein Kanal in den sozialen Medien, der nicht bespielt wird, funktioniert nicht, da er kein Engagement der Follower generiert und damit der Logik der sozialen Medien widerspricht. Am 16. November 2022 kündigte Gyldendal auf @dbmo_2020 überraschend an, dass sie gerade auf Wunsch der Follower an einem neuen Konzept arbeiten. Der Kanal wird in diesem Zusammenhang seinen Namen von @dbmo_2020 zu @pokketstories ändern. Das Konzept: »Les og opplev bøker, kortfortellinger, originale historier direkte i feeden din.« (Post vom 16. November 2022, Lies und erlebe Bücher, Kurzerzählungen, originale Geschichten direkt in deinem Feed.) Kurze Zeit später ist @dbmo_2020 nicht mehr suchbar, und am 24. November 2022 erscheint in den Stories von @pokketstories die Kurzerzählung Igjen (Wieder) von Kielland Krag über ein zufälliges Wiedersehen nach dem Ende einer Beziehung mit einer angekündigten Lesedauer von vier Minuten. Am Tag darauf folgt die Kurzerzählung Det svarte speilet (Der schwarze Spiegel) von Ingeborg Aasbrenn, Lehrerin und Lehrbuchautorin, über das Sehen und Nicht-Sehen des eigenen Ichs mit einer angekündigten Lesedauer von einer Minute. In welche Richtung @pokketstories sich bewegen wird, ist damit zunächst unklar. Fünf Tage später, am 30. November 2022, kommt immerhin eine vorläufige Aufklärung: Sowohl Kielland Krag als auch Aasbrenn sind Jurymitglieder eines von @pokketstories arrangierten Schreibwettbewerbs (www.kortfortellinger.no) für Oberstufenschüler:innen. Die Schüler:innen sind dazu aufgerufen, Beiträge einzusenden, die @pokketstories als kortfortellinger (Kurzerzählungen) definiert: »[D]igital litteratur som leses raskt. Hastighet og rytme styres av en liten mengde tekst per side som man tæpper seg gjennom.« (Digitale Literatur, die schnell gelesen wird. Geschwindigkeit und Rhythmus werden gesteuert von einer kleinen Menge Text pro Seite, durch den man sich hindurchklickt.) Ein eigens entwickeltes Schreibprogramm soll dabei unterstützen, für dieses Format zu schreiben. @pokketstories wird einige Wettbewerbsbeiträge zukünftig in den Stories teilen.

Abbildung 1 Material von @dbmo_2020 auf @pokketstories
Abbildung 2 @pokketstories

Damit erweitert der Kanal den Begriff ‚Social Media Engagement‘, und Literatur wird zum Ausdruck digitaler Kreativät. Bei @dbmo_2020 stand das kollektive Lesen eines Romans in den sozialen Netzwerken im Vordergrund, bei dem die Kommentar- und Like-Funktion das Teilen von und Teilhaben an Leseerfahrungen für alle ermöglicht. @pokketstories hingegen scheint zumindest vorläufig auf einen größeren Beitrag der ‚Community‘ zu setzen, bei der sich die Rollen von Lesenden zu Schreibenden verschieben. Das neue Konzept wird von einer neuen Graphik unterstützt. Die textbasierten Posts, die Jørgen Brynhildsvoll für @dbmo_2020 designt hat, sind von einer klaren Linie mit zwei deutlich unterschiedlichen Farben geprägt, wie schwarz und weiß. Die neue Graphik hingegen ist spielerischer und bunter indem sie mehrere Farben wie grün, lila und schwarz in verschiedenen Nuancen in einem Post kombiniert, wodurch die geplante inhaltliche Vielfältigkeit unterstrichen wird. Das Material von @dbmo_2020 ist bisher aber weiterhin auf @pokketstories verfügbar.

In den nächsten Jahren kommen hoffentlich weitere Instagram-Bücher hinzu. Der Ausgangspunkt von @dbmo_2020 beziehungsweise @pokketstories war der Versuch, Jugendliche durch kurze tägliche Abschnitte für die Lektüre eines Romans zu gewinnen. Auf kurze eigenständige Texte trifft man dahingegen regelmäßig. Dass Webseiten immer öfter Verweise auf die Lesedauer eines Artikels enthalten um den Leser:innen einen Überblick zu geben, kann in Hinblick auf die variierenden Längen hilfreich sein. Bei Instagram ist die Lese- beziehungsweise Textlänge aufgrund plattformspezifischer Restriktionen aber bereits begrenzt. Inwieweit die Angabe von Lesezeiten in Bezug auf kortfortellinger und das lesefördernde Ziel des Kanals sinnvoll ist, lässt sich daher diskutieren.

Allein der Neugierde halber wird es sich aber lohnen mitzuverfolgen, wie sich @pokketstories weiterentwickelt und welche neuen digitale Medien und Kanäle Verlage in den nächsten Jahren wählen, um Literatur zu veröffentlichen und zu vermitteln, und wie diese das Literaturverständnis und das Leseverhalten mitgestalten. Mit Dette blir mellom oss/ @dbmo_2020 haben Kielland Krag und Gyldendal bereits gezeigt, wie fruchtbar neugedachte Formen von Literatur sein können.

Kielland Krag, Alexander: Dette blir mellom oss. Oslo: Gyldendal, 2020.

@dbmo_2020

@pokketstories

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Düstere Zeiten: Simon Stålenhags visuelle Parallelwelten

Fotorealistische Autofiktion im Zeichen der Zeitschleife

Im Jahr 2014 stellte The Guardian eine Top-Ten-Liste der besten Dystopien auf. Platz 7 (nach Werken von Margret Atwood, Franz Kafka, Lois Lowry, Richard Adams, Chris Marker und Andrew Niccol) belegte der damals frisch erschienene Bildband Ur varselklotet (Tales from the Loop) des schwedischen Digital-Bild- und Tonkünstlers Simon Stålenhag. Mittlerweile hat er drei weitere Bildbände vorgelegt, die sich wie immer düsterere Fortsetzungen lesen; der jüngste mit dem Titel Labyrinten (The Labyrinth), zu dem er auch einen atmosphärischen Soundtrack komponiert hat, erschien 2020, ein weiteres Projekt mit dem Titel Europa Mekano ist angekündigt. Viele der Werke lassen sich auf der Homepage des Künstlers ansehen; die narrative Rahmung aber erschließt sich erst durch die Lektüre der Print-Bände.

Im Gegensatz zu klassischen sogenannten Zeit-Utopien (wie Orwell’s 1984 oder Huxley’s Brave New World), deren dystopische Szenarien sich in einer erdachten Zukunft abspielen, lassen sich Stålenhags Bildwerke eher als Retro-Parallelwelten begreifen, deren Ausstaffierung aus den 1980er und 1990er Jahren einen starken Wiedererkennungseffekt hervorruft, während die mysteriösen Maschinenruinen, die wie Fremdkörper in der Landschaft stehen, den Eindruck einer bereits kaputtgegangenen Zukunftsdimension des Wohlfahrtsstaats vermitteln.

Das Schweden in Stålenhags Universum ist nur leicht modifiziert, wie in den Buchdeckeln der ersten beiden Bildbände – Ur varselklotet (2014) und Flodskörden (2016) – eine Landkarte über die Mälarsee-Inseln Adelsö, Ekerö, Munsö und Svartsjölandet verdeutlicht, unter denen sich gemäß der Einzeichnung eine gigantische unterirdische Anlage befindet:

Djupt nere under marken låg Slingan. En enorm cirkelformad partikelaccelerator och forskningsstation för experimentell fysik som sträckte sig runt Mälaröarna […]. Och ständigt närvarande någonstans på Mälaröhorisonten: Bonareaktorns kolossala kyltorn […]. Lade man örat mot urberget hörde man Slingans hjärtslag – spinnandet från Gravitronen, det centrala stycke ingenjörsmagi som var kärnan i Slingans experiment. Anläggningen var den största av sitt slag i hela världen, och det sades att dess krafter kunde kröka själva rumtiden. (Ur varselklotet, S. 3)

Tief unter der Erde lag die Schleife. Ein enormer zirkelförmiger Teilchenbeschleuniger und eine Forschungsstation für experimentelle Physik, die sich um die Mälarinseln erstreckte […]. Und ständig anwesend irgendwo am Mälarö-Horizont: die kolossalen Kühltürme des Bonareaktors […]. Legte man das Ohr an das Urgestein, hörte man den Herzschlag der Schleife – das Brummen vom Gravitron, dem zentralen Stück Ingenieur-Magie, das den Kern der Schleifen-Experimente ausmachte. Die Anlage war die größte ihrer Art auf der ganzen Welt, und man sagte, dass ihre Kräfte sogar die Raumzeit krümmen könnten.

Die Kombination aus schwedischem Alltagsrealismus der 1980er Jahre und den Fantasieobjekten der Technik lässt einen schnell die wie selbstverständlich erwähnten Begriffe »Bonareaktor«, »Gravitron«, und »Magnetrin« als reale physikalische Phänomene akzeptieren, die zu den Alltagserinnerungen aus der Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers gehören. Dabei wird die Narration in einer Art Vorwort des namentlich unterzeichnenden Autors explizit als autobiografische und u.a. auf Berichten und Fach-Skizzen basierende Zeitdokumentation ausgestellt.

Während der zweite Bildband, Flodskörden (2016, Things from the Flood), eine direkte Fortsetzung aus dem Slingan-Universum darstellt, indem er desaströse Konsequenzen der Überflutung der Anlage durch ein Leck, ihren Niedergang und mysteriöse organische Folgen für die Roboter beschreibt, wenden sich die folgenden Bildbände Passagen (2017, The Electric State) und Labyrinten (2020, The Labyrinth), losgelöst von der Biografie des Autors, zunehmend verstörenden Endzeit-Szenarien im amerikanischen Umfeld zu, wobei allerdings eine stringentere narrative Linie verfolgt wird und jeweils die Geschichte einer Ich-Erzählerin erzählt wird. 

Dingfaszination: Retro-Relikte der 1980er und ruinöse Roboter

Im ersten Bildband Ur varselklotet tritt das Dystopische noch zugunsten des eindeutig schwedischen Retro-Charmes zurück, der sich aus Jugenderinnerungen an das frühe Computerzeitalter des C64 und des ersten Nintendo Game Boy speist. Bis ins Detail ist die fotorealistische Dokumentation von schwedischer Vorort-Kindheit und Alltagskultur im Design der 80er Jahre ausgeführt: die Winteranoraks und Gummistiefel, die schwedischen Vorstadtlandschaften, die zeitgemäßen Volvo- und Saab-Modelle, der mit dem Bamse-Sticker beklebte Telia-Telefonhörer, der Blodpudding und die Gabel mit Palisander-Griff. Auf diese Weise wird eine Art schwedische »Generation Golf« gezeichnet, deren so selbstverständlicher wie mirakulöser Umgang mit den ebenfalls dargestellten mysteriösen Relikten einer technikgläubigen Science-Fiction-Welt einen geradezu poetischen Zauber hervorruft. Denn die wiedererkennbare Ding-Nostalgie aus den 80ern wird kombiniert mit einem futuristischen Arsenal von hinterlassenen und ausrangierten Robotermaschinen, deren Design manchmal entfernt als Reminiszenz an die ersten Star Wars-Filme (und damit auch als Imagination der spielenden Kinder) erkenn- und deutbar ist, die aber vor allem in ihrer funktionalen Ästhetik einen ganz eigenen Parallelrealismus hervorrufen, so dass man sich als Betrachter:in manchmal dabei ertappen kann, den Realitätsstatus dieser eigenartigen solitären, teils tier- oder menschenähnlichen, geradezu anrührenden Maschinenwesen und teils bedrohlichen, kriegsähnlichen Fortbewegungsapparate gar nicht mehr zu hinterfragen. Der relativ lakonische Erzähltext, der einzelne Erinnerungsepisoden wiedergibt, wird durch die Bilder nicht unbedingt illustriert, sondern vielmehr ergänzt und erweitert, so dass sich erst in der Text-Bild-Kombination, im andeutenden Zusammenspiel und der aktiven Verknüpfung durch die Rezipient:innen das narrative Universum erschließt. 

Wie sowohl schlüssig als auch zuweilen verblüffend realitätsnah das von Stålenhag entworfene Design seiner Science-fiction-Szenarien ist, zeigt sich übrigens bei einem Blick auf seinen Instagram-Account, auf dem er neben der Veröffentlichung einiger seiner Bildwerke auch Fotos von Landschafts- oder Technikelementen gepostet hat, deren Stimmung und surreale Formation die Grenze zwischen der realen und der digitalkünstlerischen Bildwelt verschwimmen lässt – »I really thought this was a painting at first«, lautet denn auch ein Kommentar zu einem der Fotos.

Temporalinterferenzen: Eine filmische Philosophie der Zeit

Die eigentümliche Überlagerung von Nostalgie und Dystopie, von Wunschbildern der Kindheitserinnerung und düsteren Szenarien aus dem Endstadium der Wohlfahrtsgesellschaft nach ihrer ‚techn-euphorischen‘ Kulmination hat in der internationalen Sci-fi-Szene viel begeisterte Resonanz bekommen. Der amerikanische Drehbuchautor Nathaniel Halpern nahm Stålenhags Bildvorlagen (und ansatzweise auch seine Erzählungen) zum Anlass, um eine achtteilige melancholisch-poetische Streaming-Serie mit dem Titel Tales from the Loop (2020) zu kreieren, deren einzelne Folgen relativ locker (über die Figuren) verbunden sind und auch je für sich eine abgerundete Erzählung darstellen, für deren Regie jeweils unterschiedliche Personen verantwortlich sind. Mit minutiös nachgebauten Gebäuden und Maschinen – bzw. Objekten, die Stålenhag eigenhändig für den Film entworfen hat – werden Stålenhags Bilder zum Leben erweckt, wird seine Mischwelt aus Alltag und Science-fiction-Elementen (wenn auch losgelöst von ihrem spezifisch schwedischen Kontext) filmisch realisiert (siehe Abb. 1 u. 2).

Dabei stellen die einzelnen Folgen – mit Titeln wie Loop, Transpose, Stasis, Echo Sphere, Parallel etc. – jeweils eine zeitphilosophische Idee ins Zentrum, über die die Serie eine epistemologische Dimension bekommt. Temporalrückkoppelung, Körpertausch, angehaltene Zeit, Zukunfts-Echo und Begegnungen mit dem Selbst in einer Parallelwelt sind nur einige der ungeahnten Möglichkeiten, die die rätselhaften Wunderdinge der Loop-Technologie bereithalten. Dass solcherlei Erkundungen v.a. existentielle Einsamkeit erfahrbar machen, wird nicht zuletzt durch das langsame und ruhige Tempo des Films, die Ästhetik der Bildkomposition und die poetisch-melancholische Stimmung unterstrichen. 

Abbildung 1 Bild von Simon Stålenhag aus Ur varselklotet 2014
Abbildung 2 Filmszene aus »Tales from the Loop« (2020)

Ökologische und psychologische Verödung

Um einiges schwärzer ist die Atmosphäre der beiden jüngsten Bände von Stålenhag, deren Grundthema der Vereinsamung mit einem beklemmenden Tenor von letzten Überlebenden und äußerster Entmenschlichung verbunden wird. Die verödenden Folgen einer konsumgesteuerten Technologiehörigkeit werden in dem Bildband Passagen/The Electric State (2017) deutlich, in dem eine verwaiste Jugendliche in Begleitung eines kleinen gelben Roboters durch ebenso verwaiste und verwüstete amerikanische Landschaften mit absurden Relikten einer grellen Kommerzwelt reist. Die Protagonistin ist die einzige Überlebende einer Menschheit, die nahezu gänzlich an einer lebensaussaugenden Virtualitätssucht zugrunde gegangen ist, indem die vogelkopfähnlichen sogenannten »Fjärrhjälmar« (Fernhelme), eine Art Virtual-Reality-Brille, sie zu willenlosen Energiespendern haben verkommen lassen (Abb. 3 u. 4). 

Abbildung 3 Bild von Simon Stålenhag aus Passagen (2017)
Abbildung 4 Bild von Simon Stålenhag aus Passagen (2017)

Den Büchern als Motto vorangestellt ist jeweils ein dystopisches Gedicht (von Bruno K. Öjer für Passagen, Karin Boye für Labyrinten), dessen Stimmung die Bildstory aufgreift. Die Grenzverwischung zwischen Technikobjekten und belebter Welt wird maßgeblich auch durch das an Tierwesen und lebenden Organismen orientierte Design der Roboter und Maschinen sowie die durch das Endzeitszenario veränderten Landschaften hervorgerufen, die z.B. in Labyrinten/Das Labyrinth (2020) wie eine fast lichtlose Unterwasserwelt anmuten, deren aus der Asche entstehenden »kolonierna av Striata« (Kolonien von Striata)3 wie rätselhafte Lebewesen auf dem Meeresgrund emporwachsen (Abb. 5).

Abbildung 5 Bild von Simon Stålenhag aus Labyrinten (2020)

Das ökologische Krisenszenario, das als ein ökokritisches Thema allen Bildbänden zugrunde liegt, betrifft in ebenso faszinierender wie beängstigender Weise eine Verschiebung von Verhältnissen der Ressourcennutzung, wodurch der Mensch zusehends vom ausbeutenden Techniknutzer zur selbst ausgebeuteten organischen wie kognitiven Ressource verfällt.

Simon Stålenhag (www.simonstalenhag.se):

Ur varselklotet / Tales from the Loop (Fria Ligan AB, 2014)

Flodskörden / Things from the Flood (Fria Ligan AB, 2016)

Passagen / The Electric State (Fria Ligan AB, 2017)

Labyrinten / The Labyrinth (Fria Ligan AB, 2020)

Nathaniel Halpern: 

Tales from the Loop (Amazon prime video-Serie, USA, 2020)


3 Als Striatum wird ein Teil der Basalganglien bezeichnet, die zum Großhirn gehören. Es ist eine narrative Konsequenz, die sich durch die Bände zieht, dass menschliche Bewusstseins- und Nervenelemente quasi der Rohstoff sind, auf dessen Ausbeutung sich diese posthumane Welt gründet.

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Fragen über Antworten

Im Rahmen des Schreibprojekts Since You Asked bieten schwedischsprachige Autor*innen seit 2018 einen Kummerkasten im Internet an, der aufgrund seiner Mischung an Genres, Publikationsformaten und Darbietungsformen auffällt. Fragen an den Kummerkasten werden vorrangig auf der Internetseite sinceyouasked.se gestellt und dort mit Lyrik, Dramatik und Prosa beantwortet. Eine parallele Veröffentlichung erfolgt über den Instagram-Account @sinceyouasked.se. Interessanterweise ist die über die Website entstehende Frage-Antwort-Kommunikation jedoch nicht nur online nachzulesen, sondern wird auszugsweise auch im Rahmen von Ausstellungen und Lesungen in Schweden, Dänemark und Norwegen dargeboten. Zudem werden Fanzines produziert, mittlerweile vier an der Zahl, wobei die Herausgabe dieser grauen Literatur auch immer wieder Anlass für gesonderte Veranstaltungen ist. Unter dem Titel Timelapse. Antologi 2020−2021 ist zudem eine Auswahl der Texte auch in Buchform erschienen und über den Buchhandel erhältlich.

Die nachträgliche Publikation von internetbasierten Schreibprojekten in Buchform ist mittlerweile gängig, sodass die Auskopplung der Anthologie Timelapse kaum überrascht. Buchgestalterisch ansprechend ist vor allem der Farbverlauf zwischen pastelligen Blau- und Rosatönen, welche an ein beschädigtes LCD-Display erinnern. Cover und Inhaltsverzeichnis sind im Querformat gestaltet, was als zusätzliches Zitat digitaler Kommunikationsträger deutbar ist. So würde das Blättern eine ähnliche Lesebewegung wie das ‚Scrollen‘ auf dem Display evozieren. Der Text ist ansonsten jedoch im Hochformat gesetzt und begünstigt daher letztlich eine konventionelle Handhabung des Buches. Die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis sind leider, das sei hier angemerkt, vor der Drucklegung nicht aktualisiert worden. Insgesamt überzeugt die Konversion zum physischen Kommunikationsträger Buch nur bedingt, was eine nähere Betrachtung wert ist.

Abbildung 1 Inhaltsverzeichnis der Anthologie Timelapse

Digitalität im Fokus

Since You Asked funktioniert als digitales Schreibprojekt im Internet besser als in Buchform, weil es digitale Praktiken indirekt kommentiert und teilweise unterläuft. Interessant ist die Zielsetzung des Schreibprojekts »Förhoppningen är att alla frågor någon gång ska få ett svar.« (Die Hoffnung ist, dass alle Fragen einmal beantwortet werden), weil sie doppeldeutig ist und zum einen utopisch aufgefasst werden kann. Sie wäre dann auf alle existierenden Fragen gemünzt, was sich als Kommentar auf die vermeintliche Allwissenheit des Internets lesen lässt. So erhalten selbst Spambots eine Antwort, wenn sie »ztSi2MVP« (am 21.12.2019) fragen. Die kryptische Buchstabenfolge gibt Anlass für einen kurzen, absurd-gruseligen Prosatext über eine Person, die von der Vorstellung heimgesucht wird, ein Fuchs hätte sie einst per SMS kontaktiert, indem er auf einem verlorengegangenen Handy herumgebissen habe. »Det fanns ingen som kunde tolka språket, var det norska? De tyckte väl inte att räven var norsk? De bestämde sig för att det var slumpmässiga bokstäver i en slumpmässig ordning. De sov gott genom sina nätter. De skrattade gott åt händelsen.« (Niemand konnte die Sprache übersetzen, war es Norwegisch? Sie glaubten doch wohl nicht, dass der Fuchs norwegisch war? Sie beschlossen, dass es zufällige Buchstaben in einer zufälligen Reihenfolge waren. Sie schliefen die Nächte gut durch. Sie lachten viel über die Geschichte.) Die Vermutung, dass der Fuchs norwegisch sei, ist in diesem Fall ein intertextueller Verweis auf das 2013 viral gegangene Musikvideo »The Fox (What does the fox say?)« des norwegischen Komikerduos Ylvis. Das Erkennen intertextueller Verweise wie diesem setzt wiederum ein spezifisches Wissen über Netzkultur voraus, das sich nur bedingt über vermeintlich allwissende Suchmaschinen gewinnen lässt.

Zum anderen kann die Zielsetzung des Schreibprojekts auf die tatsächlich an den Kummerkasten gestellten Fragen bezogen werden. Das Design der Website sinceyouasked.se begünstigt aufgrund fehlender Suchfunktion und Verschlagwortung, dass sich Frageinhalte wiederholen, wie etwa: 

anonym (25.11.2019): Kommer hon nånsin bli kär i mig? (Wird sie sich jemals in mich verlieben?)

Jennifer (13.09.2019): Är han kär i mig? (Ist er verliebt in mich?)

anonym (12.07.2019): Hur vet jag om han är kär? (Wie weiß ich, ob er verliebt ist?)

anonym (15.02.2018): Är Anton kär i mig? (Ist Anton in mich verliebt?)

Obwohl Liebeskummer in diesen Beispielen fast gleichlautende Fragen motiviert, erhält jede*r Fragende einen eigenen literarischen Text als Antwort. Würde die Frage hingegen einer Suchmaschine gestellt, bekämen die Fragenden zunächst ein Fenster mit Vorschlägen zur automatischen Vervollständigung zu sehen und schließlich eine Liste mit Verlinkungen auf ähnliche Fragen in Internetforen präsentiert:

Abbildung 2 Suchanfrage zum Vergleich

Die literarischen Antworten suggerieren den Fragenden somit ein Gefühl von Individualität und haben mehr Charme als die Vervollständigungsvorschläge und Ergebnislisten von Suchmaschinen. Zugleich zeigt sich hier ein medialer Vorteil der Internetseite sinceyouasked.se gegenüber einer gedruckten Anthologie wie Timelapse, deren Inhaltsverzeichnis eine thematische Übersicht anbietet und somit etwaige Wiederholungen aufzeigen könnte, was potenziell das Gefühl von Individualität auf Seite der Fragenden bedrohen könnte.

Die Literarisierung der Frage-Antwort-Kommunikation ist somit vor allem im Kontext digitaler Praktiken zu verstehen. Timelapse markiert zwar zusätzlich Literarizität, weil ein ‚Buch‘ vorliegt. Die Literarisierung von Fragen und Antworten erfolgt jedoch bereits im Internet. So heißt es in der Selbstbeschreibung: »Since You Asked är ett kollektivt textverk som hämtar sin form från frågespalten och sitt hjärta från poesin.« (Since You Asked ist ein kollektives Textwerk, dessen Form aus der Fragespalte und dessen Herz aus der Poesie entspringt.) Neben dieser Bezugnahme auf die Poesie im Sinne von Dichtkunst werden insbesondere die Antwortenden zusätzlich als »författare« (Autor*innen) ausgewiesen. 

Kollektives Schreiben

Abbildung 3 Screenshot der Website sinceyouasked.se

Since You Asked kommentiert nicht nur indirekt digitale Praktiken, als »kollektives Textwerk« basiert es selbst auf einer solchen Praktik. So setzt Since You Asked ganz im Sinne des Web 2.0 auf die Interaktion und Kollaboration von mehreren Personen, was zugleich Fragen nach der Konzeption von Autor*innenschaft aufwirft, insbesondere da an der Website sowohl die Fragenden als auch die Antwortenden mitschreiben. Die Fragenden können sich auf sinceyouasked.se aussuchen, wie sie heißen wollen. In den meisten Fällen wird »anonym« gewählt, jedoch gibt es auch häufig Namensgebungen, welche mit der Frage im Zusammenhang stehen. So fragt Hästflickan (Das Pferdemädchen; 08.01.2021) nach dem Lieblingstier des*der Antwortenden und Piercad (Gepiercte*r; 15.09.2022) erkundigt sich nach den Gründen für die Popularität floraler Tattoomotive.

Abgesehen von diesen banalen Pointen gibt es jedoch durchaus Kombination aus Namensgebung und Frage, die aufgrund der besonderen zeitlichen und räumlichen Eigenschaften des Internets beim Lesen interessante Leerstellen kreieren, wie zum Beispiel der Name Avenyn (Die Allee; 05.07.2021) in Kombination mit der Frage »hur snygg får man vara?«. Zu den besagten zeitlichen und räumlichen Eigenschaften gehört unter anderem, dass trotz der Dokumentation durch Metadaten häufig unsichtbar bleibt, wann und wo Inhalte produziert sowie rezipiert werden. So ist zwar Avenyns Frage in diesem Fall zeitlich eindeutig datiert, jedoch fehlt eine räumliche Verortung. Die Frage kann zum einen als »wie hübsch darf man sein?« übersetzt werden und ist eine in Schweden als Kompliment gängige Redewendung. Zum anderen wäre sie auch als »wie sauber/ordentlich darf man sein?« übersetzbar. Aufgrund des Namens Avenyn wirkt die Frage letztlich vieldeutig: Bezieht sie sich auf eine beliebige Prachtstraße oder die darauf flanierenden Personen? Ist die Frage als Redewendung auf einer solchen Prachtstraße aufgeschnappt worden? Handelt es sich hier vielleicht um die Kungsportsavenyen in Göteborg, die dortige Ausgehmeile, welche von den Ortsansässigen schlicht ‚avenyn‘ genannt wird? Immerhin ist Göteborg ein Zentrum der offline-Aktivitäten von Since You Asked. Oder ist die Kombination aus Name und Frage im Sinne von »wie hübsch darf man sein?« eine, zugegeben etwas späte, Anspielung auf die im Jahr 2018 geführte Debatte um Eugen Gomringers Gedicht Avenidas an der Fassade der Alice Salomon-Hochschule in Berlin, welche auch in der schwedischsprachigen Presse rezipiert worden ist? Im Rahmen der Debatte ist nicht nur diskutiert worden, ob Gomringers Gedicht über die Konstellation aus Straßen, Blumen, Frauen und einem Bewunderer sexistisch sei, sondern inwiefern das Gedicht in einem ästhetischen Sinne als schön gelten könnte. Avenyns kurze Frage ist somit komplexer, als es auf den ersten Blick scheint, da sie im Internet translokal rezipierbar ist.

Die auf sinceyouasked.se in Form eines Gedichts gegebene Antwort wird dieser Komplexität jedoch nur bedingt gerecht:

går på avenyn med mitt hår och mina år 

av lekfullhet

sommaren är öm, julis djupnande grönska

o svullna blommor, som läppar

när man öppnar dem med fingrarna

hur snygg får man va

hur doftande av varm sten, salter, blod

döden har ingen plats i modersansiktet

ögonblicks-död-föränderligheten

har ingen plats

gehe auf der Allee mit meinen Haaren und meinen Jahren

aus Verspieltheit

der Sommer ist zart, Julis dichter werdendes grün

o geschwollene Blumen, wie Lippen

wenn man sie mit den Fingern öffnet

wie hübsch darf man sein?

wie duftend nach heißem Stein, Salzen, Blut

der Tod hat keinen Platz im Muttergesicht

die Augenblicks-Tod-Veränderlichkeit

hat keinen Platz

Das Gedicht weist kaum inhaltliche oder formale Bezüge zu Gomringers Avenidas auf, abgesehen von der Erwähnung von Blumen, was ein Zufall sein könnte. Bezüge zur Debatte um die Fassade der Alice Salomon-Hochschule müssten zudem bei der Interpretation eher vage konstruiert werden. Ein möglicher Sinn des Antwort-Gedichts erschließt sich hingegen eher, wenn die durch Avenyn in Gang gesetzte Frage-Antwort-Kommunikation trotz ihrer translokalen Rezipierbarkeit in Göteborg ‚verortet‘ wird. So befindet sich vor Göteborgs Stadtbibliothek an der Kungsportsavenyen eine Statue für die schwedische Autorin Karin Boye (1900−1941), die in dem Antwort-Gedicht porträtiert sein könnte. Die Statue zeigt Boye nämlich als jugendliche Frau und hält häufig eine frische Blume in der Hand, die Vorbeigehende dort platzieren. Boye hat zudem in ihrem dystopischen Roman Kallocain (1940), der in Schweden kanonisch ist, ein geschlechterübergreifendes Mutterschaftsideal entwickelt, was den dritten Vers von unten zu erklären vermag. Als Anekdote sei hier zudem vermerkt, dass die Statue so lebendig wirkt, dass ihr Gesicht bei einem Stadtspaziergang mit Google Streetview ebenso verpixelt ist wie das anderer Passant*innen auf der Kungsportsavenyen.

Abbildung 4 Links: Karin Boye-Statue mit Blumen in Göteborg (Mattias Blomgren via Wikicommons); rechts: Screenshot der Google Streetview-Ansicht

Wer auf die Fragen jeweils antwortet, bleibt auf sinceyouasked.se unausgesprochen. Aus der dort zu findenden Liste der beteiligten Autor*innen geht nicht hervor, welcher Antworttext von wem stammt, und auf Pseudonyme wird verzichtet. Dadurch scheinen sich Fragende und Antwortende beim Schreiben zunächst auf Augenhöhe zu begegnen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch innerhalb des Schreibprojekts trotzdem eine gewisse Schieflage in der Autor*innenschaftskonzeption. Auf Instagram stellt der Account des Schreibprojekts nämlich seit November 2020 die Antwort-Autor*innen mit Porträtfotos sowie tagging vor und ordnet sie den Texten zu. Damit wird die Autor*innenschaft der Antwortenden gegenüber der der Fragenden gestärkt. Bei den Antwortenden handelt es sich überwiegend um junge Literaturschaffende, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Der Bekannteste unter ihnen ist der finnlandschwedische Autor Quynh Tran, der im Februar 2022 den renommierten finnischen Runeberg-Preis für seinen Debütroman Skugga och svalka entgegengenommen hat. Tran hat sich im selben Monat mit einem Antworttext an Since You Asked beteiligt. Die einseitige Stärkung der Autor*innenschaft ist darauf zurückzuführen, dass das Schreibprojekt während der Corona-Pandemie in eine neue Entwicklungsphase eingetreten ist, welche sich durch eine Spielelogik auszeichnet, bei der ein*e Antwort-Autor*in jeweils bestimmt, wer die nächste Frage beantworten soll. Mittels dieser Verkettung von Autor*innen versucht Since You Asked seitdem Aufmerksamkeit für das eigene Projekt auf Instagram zu generieren. Die Sichtbarmachung der Autor*innenschaft durch das tagging zielt nämlich darauf ab, dass die jeweiligen Followers von dem Projekt erfahren. Der Erfolg scheint jedoch mäßig, da @sinceyouasked.se aktuell nur 668 Personen folgen. Zum Vergleich: Alexander Fallo (@alexanderfallo), der seit 2012 auf Instagram aktive norwegische Shootingstar der #instapoetry, hat 21.1k Follower.

Abbildung 5 Screenshot von @sinceyouasked.se

Interessant an @sinceyouasked.se ist auch die Gestaltung der Texte, die sich von der Darstellung auf der Website sinceyouasked.se zunächst stark unterschieden hat. Während auf der Website alle Texte in einem gleichförmigen, relativ schlichten Format erscheinen, werden dieselben Texte auf Instagram gemäß den Konventionen des Genres #instapoetry von Beginn an visuell stark angereichert präsentiert. Auch hier gibt es jedoch eine gewisse Entwicklung zu beobachten: Anfänglich wird auf eine analoge Materialästhetik gesetzt, indem vor allem handschriftliche oder ausgedruckte Manuskripte der Antworten abfotografiert werden. Sowohl bei den Handschriften als auch den Ausdrucken ist dabei stets erkennbar, dass die Manuskripte des digitalen Schreibprojekts für das Foto auf Papier vorliegen. Diese nostalgische Geste hat @sinceyouasked.se nach und nach aufgegeben. Stattdessen werden die Texte vermehrt vor Farb- oder Bildhintergründen in Szene gesetzt. Seit Anfang des Jahres 2022 ist festzustellen, dass der Instagram-Account statt den Antworten die Fragen in den Fokus rückt, was mit Blick auf andere #instapoetry-Accounts ein Distinktionsmerkmal ist. Die Fragen werden dabei in einem uniformen Stil präsentiert, welcher die Website visuell zitiert, indem der auf @sinceyouasked.se zu sehende Textkasten gestalterisch dem Fragefenster von sinceyouasked.se entspricht. Für den Hintergrund werden weiterhin thematisch passende Bilder verwendet. Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, da sie die angesprochene Schieflage in der Autor*innenschaftskonzeption funktionalisiert. So wecken die im eigenen Feed oder im Explore-Feed auftauchenden Fragen nicht nur Neugier auf die Antworten. Sie stimulieren zugleich die Imagination, da sie die Lesenden auch dazu einladen, vor dem Lesen der Antworten über den jeweiligen Anlass einer Frage und die anonymen Frage-Autor*innen nachzudenken, ähnlich wie ich es oben anhand von Avenyns Frage vorgeführt habe.

Abbildung 6 Screenshot von @sinceyouasked.se

In welche Richtungen sich Since You Asked weiterentwickeln wird, bleibt aufgrund der bislang bewiesenen Flexibilität im literarischen Feld spannend. Inhaltlich sind die Fragen und Antworten zu divers, um hier bestimmte Tendenzen oder die Qualität der Texte umfassend beurteilen zu können. Die Stärke des Schreibprojekts ist jedoch ohnehin seine konzeptuelle Experimentierfreudigkeit. Eine umfassende Beurteilung des Projekts müsste die eingangs erwähnten Lesungen und Ausstellungen miteinbeziehen, was für diese Rezension nicht möglich gewesen ist. Erwähnt sei hier nur, dass sich aus Bildern auf sinceyouasked.se und @sinceyouasked.se schließen lässt, dass bei den Lesungen ein Overhead-Projektor zum Einsatz kommt – ähnlich nostalgisch wie das Papier auf Instagram wird also auf den analogen Vorläufer des Beamers gesetzt. Es sind solche konzeptuellen Details, mit denen dieser Kummerkasten letztlich Freude bereitet.

Since You Asked: Timelapse. Antologi 2020−2021. Eigenverlag, 2021.

sinceyouasked.se

@sinceyouasked.se

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