Landwirtschaft im Fadenkreuz gesellschaftlicher Entwicklungen

Die Zeit der Bauernromane schien vorbei zu sein in unserer globalisierten High-Tech Welt. Nachdem in der skandinavischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts die Landwirtschaft nicht nur ein wichtiges Thema gewesen war, sondern Autoren wie Knut Hamsun oder Martin Andersen Nexø diesem Sujet die Ambivalenzen der Moderne eingeschrieben hatten, war das Landleben in der zweiten Jahrhunderthälfte eher der Idylle vorbehalten. In jüngerer Zeit aber ist im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten um Ökologie, Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit und gesunde Ernährung ein neues Interesse für das Lokale, das Landleben und die Landwirtschaft entstanden. Und da Dänemark traditionell ein Agrarstaat war, ist es nicht verwunderlich, dass hier die Landwirtschaft erneut zum Thema auch der Literatur wird.

Der seit langem etablierte dänische Autor Jens Smærup Sørensen (geb. 1946) hatte schon mit seinem Erfolgsroman Mærkedage (Gedenktage) aus dem Jahr 2007 die Aufmerksamkeit auf die agrikulturelle Entwicklung in Dänemark gelegt. Nun folgt mit Evigt i tiden (Ewig in der Zeit) ein formal sehr interessanter Roman. Wenn auch einzelne Kritiker der Konstruktion des Textes verständnislos gegenüberstehen (Jakob Genz in Berlingske Tidende, 13.8.2023), wird der Roman im dänischen Feuilleton überwiegend gelobt, vor allem wegen seiner sprachlichen Qualitäten. Lars Bukdahl schreibt, Jens Smærup Sørensen sei ”i højt stilistisk humør” (Weekendavisen, 15.9.2023; guter stilistischer Laune), und Erik Skyum Nielsen erfreut sich an „Jens Smærup Sørensens mesterskab […] i evnen til at skildre personer dybt indefra og forestille sig fortidens og fremtidens følelser” (Information, 8.9.2023; Jens Smærup Sørensens meisterlicher Fähigkeit, das tiefe Innere von Personen zu zeigen und sich vergangene und zukünftige Gefühle vorzustellen). Und Martin Gregersen nennt den Roman treffend: ”på én gang herligt traditionel og vildt moderne” (Kristeligt Dagblad, 9.9.2023; gleichzeitig herrlich traditionell und aufregend modern).

Ein Ort – vier Zeiten

Der Ort der Handlung ist das fiktive Dorf Skovby, das sich auf die Gegend zwischen Nibe und Løgstør in Himmerland lokalisieren lässt und den Fixpunkt der weit gespannten Erzählung bietet. Denn die Handlungszeit umfasst markante Stationen einer mehr als 250-jährigen Geschichte. Sie spielt sich auf vier Ebenen ab und gliedert den Roman in drei große historische Kapitel und eine in der nahen Zukunft angesiedelte Rahmenhandlung, die zwischen die Großkapitel geschaltet ist sowie den Roman eröffnet und beschließt. So entfaltet sich ein historischer Bogen, der wichtige Phasen der dänischen Landwirtschaftsgeschichte beleuchtet, die gleichzeitig markante Epochenschwellen dänischer Geschichte ausmachen: die bedeutenden Landreformen in den 1790er Jahren, als im Zuge einer Flurbereinigung die Dorfgemeinschaften zugunsten von individualisierter und neu gegliederter Bodennutzung aufgelöst wurden, die Zeit der Genossenschafts- und Volkshochschulbewegungen und der Produktivitätssteigerung Ende des 19. Jahrhunderts sowie die gegenwärtige Transformation des Agrarsektors, wobei sich eine industrielle und eine ökologisch ausgerichtete Richtung unversöhnlich gegenüberstehen. Durch die Rahmenhandlung, die nach einer nicht definierten (und den handelnden Personen unerklärlichen) Katastrophe spielt und einen zögernden Neubeginn nach Jahren der Dunkelheit, der Verödung des Landes, des Hungers, vieler Todesfälle und zusammengebrochener Kommunikation andeutet, bleibt es offen, ob die gezeigte Entwicklung ein Fortschritts- oder ein Niedergangsmodell abbildet. Die fortschreitende Effizienz- und Ertragssteigerung, die Erhöhung des Wohlstands und die Verbesserung der Lebensbedingungen stehen der zunehmenden Technologisierung und Entfremdung von der Arbeit, der (für Mensch und Tier) ungesunden Massentierhaltung, der Umweltbelastung durch Pestizide, Düngemittel und Gestank sowie dem Beitrag der Agrarwirtschaft zur Klimaerwärmung gegenüber. Wenn auch die Sympathien auf der Seite der nunmehr ökologisch wirtschaftenden Protagonisten liegen, bleibt dennoch unentschieden, welches der aktuell vorherrschenden Landwirtschaftsmodelle sich durchsetzen wird, ebenso wie unklar bleibt, was die offensichtlich globale Katastrophe ausgelöst hat.

Geschichte als Geschichten erzählen

Dieser Ambivalenz wird nicht nur durch die Struktur des Romans Ausdruck gegeben, sondern auch durch die narrative Präsentation. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Familie von Lone und Jakob Gojesen, erzählt wird aber auch von ihren vier Kindern, ihren Bediensteten und ihren Nachbarn sowie diversen anderen Familien aus Skovby. So entsteht ein polyphoner Roman, in dem eine Vielzahl von Stimmen und Meinungen ohne Wertung nebeneinander montiert ist. Eine übergeordnete Erzählebene ist kaum vorhanden, die Narration ist (vor allem im dritten Teil) dialogreich, in erster Linie aber durch wechselnde Fokalisierung auf die Gedankenwelt diverser handelnder Personen charakterisiert. Diese Art der narrativen Präsentation bedeutet auch, dass die historischen Ereignisse nicht aus einer auktorialen Perspektive berichtet werden, sondern nur implizit durch das Figurenbewusstsein gefiltert hervorgehen. Es gibt keine Jahreszahlen oder Nennung von Fakten; die den dänischen Lesenden sicher in groben Zügen bekannten Geschehnisse lassen sich nur aus den Konsequenzen erschließen, die sie für das Leben und Arbeiten der Menschen haben.

Der Clou der Narration ist, dass wir die gleichen (oder dieselben?) Personen auf allen vier Handlungsebenen treffen, wobei sie nur um wenige Jahre gealtert sind: Ein historischer Verlauf von gut 250 Jahren wird mit ca. 30 Jahren im Leben der Menschen analog gesetzt. Damit wird der etwas rätselhafte Romantitel Evigt i tiden auf der Figurenebene umgesetzt: Er deutet auf ein Geschichtsverständnis, das zwar evolutionär, aber nicht teleologisch ausgerichtet ist, das von Veränderung und Entwicklung ausgeht, aber auch Gleichbleibendes annimmt, das menschliches Miteinander sowie familiäre und nachbarschaftliche Konflikte betrifft. Während die Agrarthematik also den Horizont der Handlung ausmacht, sind es Emotionen, Beziehungen und zwischenmenschliche Konflikte, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie entstehen nicht zuletzt, weil die handelnden Personen in ihrer jeweiligen Zeit mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sind, die auf ihr Leben einwirken und die sie bewältigen müssen. Doch Liebe, Stolz, Schuld, Zweifel, Angst und Trauer werden keinesfalls als zeitlos präsentiert, sondern durch die jeweilige historische Situation unterschiedlich kontextualisiert und ausgeprägt. Im 18. Jahrhundert sind es z.B. das lange Leiden und der schwere Tod der alten Mutter, der das Ehepaar Lone und Jakob bewegt, im 19. Jahrhundert ist es die ungewollte Schwangerschaft der Tochter Margrethe, die nicht nur ihrem Vater verborgen bleibt, sondern auch für die Lesenden nie direkt ausgesprochen wird. Auf der Gegenwartsebene dann sind es die sehr unterschiedlichen Lebenswege der vier Kinder, die urbane und globale Milieus in die Handlung integrieren und mit der Tochter Else den Protest gegen die moderne technisierte Landwirtschaft auch politisch artikulieren.

Sprache als Fremdheitsbarriere

Nicht nur strukturell, sondern auch sprachlich gibt sich der Wandel Ausdruck. Denn erzählt wird überwiegend in erlebter Rede und mit ständig wechselnder Fokalisierung aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Menschen des 18., des 19. und des 21. Jahrhunderts sprachlich und gedanklich durch ihre jeweilige Zeit geprägt sind. So wird in den historischen Kapiteln eine ganze Reihe von dialektalen Wörtern verwendet, die aus der Sprache der dänischen Gegenwart verschwunden sind. Entscheidend aber ist, dass nicht jeweils einleitend explizit markiert wird, in wessen erlebte Rede und Gedanken wir als Lesende gerade eintauchen. Dadurch fügt der Roman eine gewisse Fremdheitsbarriere ein, die die historischen Personen in den beiden ersten Großkapiteln auch als solche hervortreten lassen. Eine besonders lustige Passage führt uns in die Gedankenwelt des geisteskranken Königs Christian VII, der zu Besuch nach Skovby kommt und für seine Landreformen verehrt werden will:

„Men så sætter jeg mig. De beder mig så mindeligt, jeg er nådig. Af Guds nåde, det forpligter, hvor meget jeg end foretrækker at vandre. Rundt om bordet, med og mod uret, med henblik på at tjene rigets interesser går jeg af og til ned på knæ. Det er af ikke ringe betydning at anskue dem fra enhver vinkel. Jeg lægger mig på gulvet og betragter deres hvide lægge.” (40)

„Aber ich setze mich. Sie bitten mich so inständig, ich bin gnädig. Von Gottes Gnaden, die verpflichtet, wiewohl ich es auch vorziehe zu wandern. Um den Tisch herum, mit und gegen die Uhr, im Hinblick darauf, den Interessen des Reiches zu dienen, gehe ich ab und zu in die Knie. Es ist von nicht geringer Bedeutung, sie aus jedem Winkel anzuschauen. Ich lege mich auf den Boden und betrachte ihre weißen Beine.“

Meist aber sind es die Protagonisten Jakob und Lone, deren Perspektiven, Gefühle und Überlegungen vermittelt werden. So steht Jakob dem Wunsch seiner Frau, eigenständig ein Stück des Ackers umzupflügen, verständnislos gegenüber, doch sie setzt sich durch und er muss mit ansehen, wie sie sich tapfer quält bei der Urbarmachung der Heide:

„Selvfølgelig havde han ikke tilladt hende at trække af sted med studene. Hun kunne følge med ham hvis hun ikke havde andet at tage sig til. Hvis der ikke var nok at gøre med husholdningen, børnene, med at koge og bage, vaske, salte og sylte, og lappe og hvad hun ellers lavede. Hun kunne få lov til at følge med ham ud på heden. Ja, hun kunne da, hvis det endlig skulle være, også godt få lov til at prøve sig, hvis det virkelig skulle være dét hun var så opsat efter og så forhippet på, og var han bange for det, for noget som helst, nej sgu da, værsgo, ploven er din! Så længe hun orkede. Skulle blive sjovt at se.”

„Selbstverständlich hatte er ihr nicht erlaubt, mit den Ochsen loszuziehen. Sie konnte mit ihm kommen, wenn sie nichts anderes zu tun hatte. Wenn da nicht genug zu tun war mit dem Haushalt, mit den Kindern, mit dem Kochen und Backen, Waschen, Salzen und Einkochen und Flicken und was sie sonst so machte. Sie durfte doch mit ihm zusammen auf die Heide gehen. Ja, sie konnte doch, wenn es unbedingt sein musste, es auch selbst mal versuchen, wenn es wirklich das war, was sie unbedingt wollte und so wild drauf war, und hatte er Angst davor, vor irgendwas, nein verdammt, bitte, der Pflug gehört dir! So lange wie sie es schaffte. Würde lustig aussehen.“

Ein Ehekonflikt über weibliches Emanzipationsstreben im bäuerlichen 18. Jahrhundert zeigt „das Ewige in der Zeit“, wie der Titel des Romans programmatisch ankündigt. Die Figuren sind Repräsentanten ihres Standes und ihrer Zeit, aber auch durch individuelle Schwächen und Konflikte als Charaktere gezeichnet. Diese erzählerischen Mittel und die komplexe Struktur machen einen vielschichtigen Roman aus, der mehr ist als ein ökokritischer Debattenbeitrag: ein Regionalroman mit repräsentativem Anspruch, ein historischer und ein Gegenwartsroman über die gesellschaftliche Bedeutung und die aktuelle Problematik der Landwirtschaft, aber auch ein Roman mit dystopischen Zügen, der vor den Gefahren der aktuellen Entwicklung warnt. Unentschieden bleibt, wie und ob die globale Katastrophe der Rahmenhandlung mit der Entwicklung der Landwirtschaft zusammenhängt. In jedem Fall tragen die erzählerischen Mittel dazu bei, die Landwirtschaft als im Fadenkreuz der gesellschaftlichen Entwicklung stehend hervortreten zu lassen.

Jens Smærup Sørensen: Evigt i tiden. Roman, København: Grif, 2023.

(Annegret Heitmann, LMU München)

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Kleine Ode an die Unwahrscheinlichkeit

Peter Adolphsens Kurzroman Ellepigen Pif & 42, den tavse guru, der im April 2024 erschienen ist, hat viel zu bieten. Dem Text wäre eine Übersetzung ins Deutsche und in weitere Sprachen nur zu wünschen. „Das Elfenmädchen Pif und der schweigende Guru 42“ steht in einem weit gefassten Zusammenhang mit Brummstein (dänisch 2003, deutsch 2005 von Hanns Grössel) und Machine (dänisch 2006, deutsch Das Herz des Urpferds 2008 von Hannes Gröschel).

Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen, an zwei Schauplätzen und zeitlich versetzt: 1) Der erste Handlungsstrang spielt in Aalborg in den 1980er Jahren, wo eine Elfen-Familie mit drei Teenagertöchtern, darunter Pif, und eine menschliche Familie mit dem Sohn Peter leben. Dieser Teil ist mit einem fulminanten Auftakt über das Paralleluniversum versehen, näher bestimmt als „astralplanet, åndeverdenen, det swedenborgske rum“ („Astralplanet, Geisterwelt, Swedenborg’scher Raum“, S. 10), und kommt spielerisch-charmant daher. Die Elfen und andere ‚Unterirdische‘ wohnen in Elektrogeräten und anderen an das Stromnetz angeschlossenen Apparaturen wie Neonreklamen, Ventilatoren, Stromkästen oder Ampelgehäusen. In diesen Quartieren ernähren sie sich von Staubpartikeln, die sie mittels Stromnutzung auch in Übertragungsenergie verwandeln können: Astralwatte und Astralnebel. Dieser Wirkstoff verleiht den Elfen die spezielle Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle ausgewählter Menschen sehr konkret ‚hineinversetzen‘ zu können. In einer Mondscheinnacht invadiert die Elfe Pif die Innenwelt des Jungen Peter und verführt ihn dazu, den Turm von Aalborg zu erklimmen, wo sie für seinen Absturz sorgt. Mit Peters inszeniertem Suizid und dem einseitigen tragischen Liebestod will die psychotisch gewordene Pif ihre eigene Schuld kompensieren, da sie zuvor unwillentlich den tödlichen Unfall ihrer Mutter bei einem Kurzschluss ausgelöst hat.

https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Aalborgt%C3%A5rnet?uselang=de#/media/File:Aalborgtaarnet.jpg

2) Der zweite Handlungsstrang entfaltet sich auf dem Wüstengrundstück lot 42 an Rackensack Canyon Road in Arizona in den 1960er Jahren. Drei Autoreisende geben sich einem LSD-Rausch hin, woraufhin Denis Bixel, der sich später Phorty Too nennt und unfreiwillig zum Sektenbegründer wird, eine Feengestalt mit den Worten erscheint: „Du sitzt unter einem Schild, das dir die ultimative Wahrheit verrät: 42. Und du sitzt im Garten des Paradieses.“ („Du sidder under skiltet med den ultimative sandhed: 42. Og du sidder i Paradisets Have.“, S. 23) Phortys Oase lockt erst die aus Mexiko geflohene, misshandelte und verstummte Carolina Cabomba an, die Schutz bei Phorty findet, und dann eine Gruppe von Hippies, in der Todd die Führung beansprucht. Allerlei Zahlenmystik wird betrieben, um zu begründen, warum just dieser zufällig angesteuerte Ort ein spirituelles und ökologisches Epiphanie-Erlebnis ermöglicht, so dass alle Elemente in einer höheren Einheit aufgehen. Der Aufstieg und Fall der Sekte „The Cult of 42“, die bis in die Mitte der 1980er Jahre bestand, wird von einer Figur namens Peter Adolphsen aufgearbeitet, die auf einem Roadtrip durch die USA eine Hinweistafel auf die Wüstenkolonie entdeckt. Die Tafel berichtet vom Massenselbstmord der 42 Mitglieder, die als Jünger von Phorty betrachtet werden, im Jahr 1984. Niemand ahnt, dass Phorty noch lebt und dass Carolina den Sektenmitgliedern ein Ende bereitete. Diese drastischen Ereignisse bilden ein Pendant zum tragischen Liebestod des abgestürzten Teenagers Peter.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=CANYON+Arizona&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image

Aalborger Schaltkreise

Es sind nicht nur parallel geführte Ereignisse oder ähnliche Figurencharakteristiken, die beide Romanstränge verbinden, sondern auch die Aalborger Elfen, deren Einfluss bis nach Arizona reicht. Außerdem verschalten Themen und Denkfiguren, die in früheren Romanen Adolphsens durchgespielt worden sind, die Verwicklungen in Jütland und die Entgleisungen in Arizona: Das Verhältnis von romantisierender Naturwahrnehmung zu wissenschaftlicher Kategorisierung, poetische Potenziale einer Wiederverzauberung der technisierten Alltagswelt, die Denkfigur des sich verzweigenden Netzwerks in den Anthropozän-Debatten, zirkuläre Verläufe und mythische Zeitkonzepte ꟷ und vor diesem Hintergrund wiederum die völlig unvorhersehbare oder unwahrscheinliche Verkettung von Ereignissen. Das narrative Setting ermöglicht eine Erweiterung des Fantasy-Genres sowohl hinsichtlich der Elfenthematik als auch hinsichtlich der Science fiction, so dass eine Intellektualisierung dieser beiden überwiegend als populär geltenden Genres stattfindet. Im Unterholz des verdichteten Formats lässt sich aber auch einige Polemik gegen naive Esoterik und gegen gängige psychologische Erklärungsmuster menschlichen Verhaltens unterbringen.

Besonders faszinierend erscheint, wie Ellepigen Pif die Macht des Zufalls nicht nur demonstriert und erzählerisch bis ins kleinste Detail nachvollzieht, sondern Kontingenz und Beliebigkeit satirisch maßlos übertreibt. Einerseits werden kausale Erklärungen sabotiert, andererseits neue intrikate Herleitungen herbeifabuliert, oft in sachlichen Deskriptionen formuliert oder im wissenschaftlichen Duktus gehalten. Diesen Griff verwendet der Autor seit längerer Zeit, versteht es aber, das Verfahren mittels der komplexer gewordenen Genrekombination und durch die Bezugnahme auf digitale Quellen auf verblüffende Weise zu erneuern.

Die Erzählstränge zeichnen sich darüber hinaus durch ein metafiktives Binnenmanöver aus: Die Elfen spielen, dass sie in einem Hofstaat leben (wie u.a. aus H.C. Andersens Märchen bekannt). Indem sie sich in menschliche Innenwelten begeben, suchen sie ein ‚Traumtheater‘ auf. Sie verschaffen sich – invasiv oder auch parasitär wie die Figuren der Pilzmyzelien, die für den zweiten Strang entscheidend sind ­– Zugang zu einem quasi cineastischen Medium (dem Menschen), der ihnen eine eskapistische Auszeit ermöglicht. Diese Rückzugsphase ist sozial orientiert und zugleich doch verinselt, ganz ähnlich wie der protokollierte Fernsehkonsum von Peters Familie, der in einer ethnographisch anmutenden Tabelle mit köstlich absurden Inhaltsangaben zu den Sendungen dargeboten wird: Von der Jugendsendung um 15 Uhr, zu der Peter und sein Bruder eine Scheibe Schwarzbrot mit Makrelensalat verzehren, bis zu den Abschlussnachrichten, bei denen der Familienvater von Rotwein und Zigaretten auf Porterbier und Zigaretten umschaltet (vgl. S. 50-54). Die Familie schaut übrigens ab 19.45 Uhr gemeinsam ein archäologisch-ethnographisches Quiz mit Zuschauerbeteiligung, was natürlich als Kommentierung der Unerklärlichkeiten in Ellepigen Pif & 42, den tavse guru gedeutet werden kann oder soll: „Hvad er det?“ („Was ist das?“, S. 53). Der humoristische Effekt des ethnographischen Blicks auf die Alltagsroutinen wird durch das erzählerische Timing gesteigert, indem der halbe Fernsehtag erst dann präsentiert wird, nachdem die medialen Tricks der Elfen und die Wirkung von LSD eingeführt worden sind. Überhaupt besteht ein großer Teil des Lesevergnügens im Staunen über das Timing bei der wechselseitigen Kommentierung der Stränge. Ebenso vergnüglich ist die inszenierte Mündlichkeit mit ihren Klangeffekten (etwa durch Binnenreime und code mixing). Das modernisierte Märchenspiel flirtet mit realistischen Referenzmöglichkeiten und macht sich gleichzeitig wie nebenbei über eine potenzielle autobiographische Lesart lustig (Adolphsen 1972 geb. in Aalborg), ohne diese Option auszuschließen.

Pif war halb Elektrizitäts-Mädchen und halb Süßwasseralf, weil ihre Mutter, Fafarelle, ursprünglich aus einer Alfenfamilie stammte, die sich die Schwimmhalle in Haraldslund mit den Uurpern geteilt hatte (eine Familie von Bachtrollen), seit der Eröffnung des Bades 1959. Sowohl bei Süßwasseralfen als auch bei Bachtrollen war das Chlorwasser sehr beliebt: Sie fühlten sich die ganze Zeit sauber, und auf paradoxe Weise roch es immer so gut.

Pif var halvt elektricitets-ellepige og halvt ferskvandsalf, fordi hennes mor, Fafarelle, oprindeligt var ud af en alfeslægt, som havde delt svømmehallen Haraldslund med Uurperne (en familie af bæktrolde), siden den blev opført i 1959. For både ferskvandsalfter og bæktrolde var klorvandet eftertragtet: De følte sig rene hele tiden, og det duftede så dejligt på en paradoksal måde.“ (S. 25)

Dieser Blick auf ein provinzielles Hallenbad widerspricht einer Komplett-Rationalisierung der heutigen Lebenswelt. Eine Wiederverzauberung selbst des Unscheinbaren scheint, nicht allein durch Nostalgie, selbst im technisch-medial-digitalen Zeitalter mit fiktionalen Mitteln durchführbar.

Der Pif-Roman ist im Anfangsteil oft leicht und licht wie der ephemere Elfenname in Titel, in seiner dunklen Sektenthematik und in den Gewaltschilderungen wirkt der Roman dagegen schwer und schwarz. Dabei wird der bittere Ton relativiert durch das Spiel im Spiel der Figuren auch in Arizona (sowie durch fiktionsmarkierende intertextuelle Bezüge): Die Gruppe um Phorty zitiert lediglich die Rituale einer Sekte und legitimiert dadurch Todds Machtansprüche. Ohne direkte eigene Mitwirkung wird Phorty die Rolle des Gurus zugewiesen, da er das Sprechen beinahe verlernt hat, in den stillen Jahren der mit Carolina Cabomba geteilten Einsamkeit. Carolina bleibt bis zum Showdown im Kampf mit Todd in ihrem Versteck im Wald verborgen. Die ersten Hippies halten Phorty für einen weisen Eremiten und deuten das Klopfen seines Wanderstabs auf den Boden als Zustimmung oder Ablehnung, sogar als gemeinschaftlich das phrasenreiche Gründungsmanifest für die Sekte „Cult of 42“ verfasst wird, das später im Buchhandel zirkuliert („The 42nd Paradise“ 1978). Natürlich fühlen wir uns durch den markierten Einsatz derartiger Requisiten wie des Stabes sogleich an die Ausstattung des elfischen Hofstaates erinnert: „der Wortmeldungs-Apfel, das Mecker-Zepter und die Ich-darf-bestimmen-Krone („snakke-æblet, brokke-sceptret og bestemme-kronen“ S. 17). Die pseudo-archäologisch inspirierte Suche der Autorfigur nach Hinterlassenschaften der 42-Sekte zwischen Flagstaff und Phoenix ist sowieso schon im Voraus ironisiert.

Bitterböse Aussteigerwelt

Bereits im zynischen postapokalyptischen Kurzroman År 9 efter Loopet („9 Jahre nach dem Loop“ 2013) wird Gewalt in exzessiver Weise geschildert, vermittelt durch den misogynen Antihelden Mark, dessen Berserkergang bezeichnenderweise durch die Forscherin Sushmita gestoppt wird, die den Loop mittels ihrer wissenschaftlichen Erfindung rückgängig macht. Sushmita verbindet das Wieder-in-Gang-Setzen der Welt beiläufig mit Marks Exekution, obwohl dieser noch kurz zuvor ihr Liebhaber war. Im Pif-Roman ist die Figur Carolina Cabomba, der Phorty das Leben rettet, nachdem sie auf das Schwerste misshandelt und sexueller Gewalt ausgesetzt worden war, nicht etwa Retterin der Menschheit, sondern planlos agierende exzessive Rachegöttin. Als unheilvolles 43. Mitglied hat sie abseits der Kolonie gelebt. Durch das Zusammenwirken eines Pilzes, einer südamerikanischen Elfenfigur (Alux) bei einem tätlichen Angriff des Oberhippies Todd wird – wie durch einen Kurzschluss – Carolinas Rache für die an ihr begangenen Verbrechen entfesselt. Auf groteske Weise wird damit auch die über die Kolonie hinausgehende, zeittypische patriarchale Machtvollkommenheit gesühnt. Phorty, mit dem Carolina zwei Jahrzehnte in schweigender platonischer Harmonie verbracht hat, hält nach der Mordaktion weiter zu ihr, was zumindest anteilig Aalborger Elfeneinfluss geschuldet ist: Pifs atmosphärische Überreste, die von Aalborg mit dem Jetstream in den Südwesten der USA übertragen werden, nimmt Phorty über eine Schneeflocke auf. Von der romantischen Liebe infiziert, kümmert er sich fürsorglich um die nun hoch gefährliche Carolina, damit sie der Jagd nachgehen und ihre blutrünstigen Aggressionen kompensieren kann. An dieser Stelle könnte der holperige Neustart des Paares im höllenhaften Paradies wieder einsetzen. Aber selbstverständlich kommt es ganz anders: Als Phorty seine Partnerin nach Jahrzehnten stummer Keuschheit zum ersten Mal küsst, löst sich Carolina Cabomba in einen stinkenden Teerklumpen auf. Diese schwarzklebrige Substanz hinterlässt zwei symmetrische Flecken in Phortys Gesicht, die die Konturen eines Rorschachtests haben (vgl. S. 140). Mit dieser Szene wird zum einen das romantische Liebeskonzept zersetzt, zum anderen jeglicher Psychologisierung literarischer Charaktere eine hämische Absage erteilt.

Erkundungen der wechselseitigen Ansteckung von Genres und der digitalen Recherche von literarischem Stoff

Adolphsens Kurzroman feiert die Unvorhersehbarkeit, wobei eine paradoxe Dynamik hervortritt: Obwohl auf Seiten der Lesenden die Erwartung besteht, dass sich Optionen für die wechselseitige Erhellung der Stränge ergeben, werden sie bei fortgesetzter Lektüre möglicherweise erstaunt oder irritiert darauf reagieren, welche Interferenz dann jeweils in Kraft tritt oder dass die angeführte Erklärung wenig plausibel oder haarsträubend sein mag.

Der Themenkomplex ‚Zufall‘ und ‚Konditionen und Prämissen von Wahrscheinlichkeit‘ ist zudem in der intertextuellen Konstellation begründet. Das Figurenverzeichnis zu Beginn, mit seinen 19 Namen, bereitet die Lesenden auf den kruden Genremix vor. H.C. Andersens Märchenwelt trifft auf Thomas Pynchons Crying of the Lot 49 (1965) und Douglas Adams The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy (1984). Die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts und die Folkloristik treffen auf das Genre Graphic Novel, wenn es heißt, dass sich der dunkle hohle Rücken einer Elfenschwester bei den Discotanz-Pirouetten so schnell dreht, dass nur noch ein verwischter schwarzer Strich zu erkennen ist (vgl. S. 18). New Age-Schriften der 1970er und 1980er treffen auf medizinhistorische Miasmentheorien und Corona-Verschwörungsmutmaßungen. Darüber hinaus werden Beiträge zur Erforschung von Pilzmyzelien oder psychoaktiven Substanzen sowie ethnographische Materialien synthetisiert. Das intertextuelle Konstrukt wird vorausweisend veralbert: Anspielungen und Zahlencodes seien „easter eggs“, eigens versteckt, um von den Lesenden gefunden zu werden (vgl. S. 20). Einige der überbordenden Details führen denn auch erwartungsgemäß in die Irre.

Der Pif-Roman tritt als ein Demonstrationsbeispiel für gestaltbare Un-Wahrscheinlichkeiten hervor und weist das Unwahrscheinliche – und im Hinblick auf die Elfen sogar das romantische ‚Wunderbare‘ – als zentrales Kompetenzgebiet von Literatur und Kunst aus. Selbst in einem kompositorisch strengen Konstrukt lässt sich eine Vielfalt der Optionen improvisierend und tastend hervorschreiben. Im Gesamtplot triumphiert das Böse in Form der Pilzmyzelien und der dämonischen Einflüsse übel gesonnener ‚Unterirdischer‘ über die spontanen und kaum reflektierten Handlungen der Aalborger Elfen. In beiden Strängen wird Intentionalität in Frage gestellt, nicht zuletzt weil sich Ereignisketten während des Geschehens grundlegend wandeln oder Einflüsse von außen die Oberhand gewinnen. Ein Initialereignis ist als solches später weder zu identifizieren noch anhand seiner Folgen oder Resultate rekonstruierbar.

Wie die obigen Fotos aus Wikimedia Commons verdeutlichen sollen, ist die Wahl der Schauplätze markiert fiktiv: Geschichten aller Art können heute jederzeit ‚ergoogelt‘ oder von KI zu Text prozessiert und zu Literatur deklariert werden. Komplexere poetische Griffe und eine mehrdimensionale Spracharbeit dürften indessen bis auf weiteres dem Esprit schreibender Personen vorbehalten bleiben. Nichtsdestotrotz macht der Roman selbst auf die Relevanz digitaler Ressourcen aufmerksam, wie auch der Rezensent Alexander Vesterlund verzeichnet (Politiken 23.5.2024): Er beobachtet den Einsatz von ‚Wikipedia-Sprache‘, die er stilistisch als „beladen mit Substantiven und reich an Feststellungen“ („substantivtung og rig på konstateringer“) bestimmt. Dennoch handelt es sich nicht um einen Nominalstil, der in den Bizarrerien des Handlungsverlaufs schwerfällige Bocksprünge unternimmt; vielmehr wird eine assoziativ schwebende und etwas unverbindliche sprachliche Recherchespur hinterlassen, die surfenden Suchbewegungen entsprechen mag. Viele der Lesenden werden nämlich voraussichtlich nicht nur von der Suche der „easter eggs“ und von der Auslotung der Verknüpfungsmöglichkeiten absorbiert sein, sondern fragen sich auch nach der möglichen viralen Verbreitung vergangener und aktueller Mythen und Legenden (siehe beispielsweise https://mexiconewsdaily.com/news/what-is-an-alux-amlo-helps-a-mythical-mayan-elf-go-viral/). Diese Stoffe und Themen bilden gleichsam die Astralwatte für das literarische Schreiben.

Für anregende Gespräche bedanke ich mich bei Hannes Langendörfer.

Peter Adolphsen: Ellepigen Pif & 42, den tavse guru. Roman. Gyldendal, 2024.

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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Postpandemische Vergewisserungsliteratur

Mikaela Strömberg: Rågången. Helsingfors: Förlaget, 2023.

Git Laudrup hat bisher ein vorhersehbares Leben im finnischen Esbo geführt, in einem sicheren Anstellungsverhältnis an der Landvermessungsbehörde. Sie und ihr gutmütiger Ehemann Måsse gehen auf die 60 zu, als sich Git während der Pandemie etwas ruckartig für einen Berufswechsel entscheidet. An dem satirisch dargestellten neuen Arbeitsplatz, einem Advokatenbüro, kommt es zu einem sprichwörtlich handgreiflichen Konflikt, und Git wird wegen der gegen sie erstatteten Anzeige auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Dies ist der etwas holprige Auftakt des Romans Rågången (in etwa Grenzklärungsgang) und die von Zufällen begünstigte Rechtfertigung dafür, dass die ansonsten so nüchterne und strukturiert vorgehende Git in einem Abenteuer mit offenem Ausgang landet.

Kindheit und Jugend hat die Protagonistin im (fiktiven) Dorf Starrängarna (´Starenwiesen‘) in Östnyland, der Region um Helsinki, verbracht, bevor sie im dänischen Århus ihre allseits respektierte Ausbildung absolvierte und wieder nach Finnland zog. Sie bewegt sich in einem finnlandschwedischen Milieu, ohne dass der Sprachgebrauch eigens erwähnt wird. Gits Dänischkenntnisse sind allerdings unverzichtbar im Umgang mit dem Vater, der vom Altenpflegepersonal in Esbo nicht mehr verstanden wird. Der realistische, oft satirisch zugespitzte kleine Roman Rågången unterläuft mit dieser Konstruktion die erwartbaren soziokulturellen, nationalen bzw. minoritätssprachlichen Differenzen. Dabei kann Git durchaus als leicht anschlussfähige Angehörige einer zweiten Zuwanderungsgeneration aufgefasst werden.

Die Pflege von Anachronismen

Eine nicht zu unterschätzende Pointe des Romans besteht darin, dass das Wort „rågången“ laut Svenska Akademiens Ordbok nicht mehr gebräuchlich ist (https://saob.se/artikel/?unik=R_3543-0057.n7o3&pz=5 ). Das Wort ist mit dem Zeichen † markiert. Die vielfältigen Grenzklärungen, welche die Figuren, die juristischen Konflikte und die Dorfgeschichte betreffen, werden damit als Analogien zu sprachlichen Anachronismen dargeboten. Während die Grenzkonflikte in mehrfacher Bedeutung genutzt und damit auch negativ aufgeladen sind, dominiert in vielen Dorfschilderungen eine musealisierende Attitüde, wie etwa in der Schilderung der Spazierfahrten mit dem Pferdegespann, die der Bauer Riåkarn unternimmt:

„Den här gubben som åker runt med sin häst. En gammal vallack. Men för att vara ärlig är den ingen krake. Gubben har haft koll på hur en häst skall skötas. Den där kunskapen försvann aldrig, och varför skulle den försvinna. Det är väl som att cykla.

Så där vill man att hästar skall se ut, passliga i hullet, pigga och med skötta hovar.“ (S. 106)

„Dieser alte Mann, der mit dem Pferd herumfährt. Ein alter Wallach. Aber um ehrlich zu sein, ist es kein Klepper. Der alte Mann hat immer gewusst, wie ein Pferd zu pflegen ist. Diese Kenntnisse sind nie verlorengegangen, und warum sollten sie das auch. Es ist wie beim Fahrradfahren.  

So sollten alle Pferde aussehen, gestriegeltes Fell, munter und mit gepflegten Hufen.“

Indem der Umgang mit Pferden zur Körpertechnik deklariert wird, scheint einerseits die automobilfreie präkapitalistische Idylle auf, die sofort durch Gits Begeisterung für das Autofahren wieder aufgefangen wird. Andererseits wird der Entschleunigungsbedarf der Zivilisationsgeschädigten illustriert, ein bekanntes soziales Phänomen, das sich in Folge der Pandemie verstärkt hat und wahlweise die Uckermark, die Provence, Oslo Marka oder eben in die dünn besiedelten Gebiete Nylands im Südosten Finnlands betrifft. Die Dorfkultur wiederzubeleben heißt dann bezeichnenderweise auch, sich selbst mit unerprobten Ressourcen auszustatten, um zur Besinnung zu kommen – vielleicht doch eher ein subjektives als ein gemeinschaftliches Projekt?

Mikaela Strömberg, heute als Schriftstellerin und Juristin tätig, ist für ihre ländlichen, bisweilen harmonisierenden oder historisierenden Schilderungen der ausgestorbenen Dörfer in Östnyland seit 2000 bekannt, als sie den Preis der Schwedischen Literaturgesellschaft in Finnland für ihr Debüt erhielt. Die Revitalisierung dörflicher Gemeinschaften ist ihr zweifellos ein Anliegen. 

Muster(v)erkennung

Die Kombination von Erwartbarem und Zufälligem kann dazu führen, dass unerwartete Ereignisse eintreffen oder gängige Muster unterlaufen werden. Dies mag neben der erheiternden Hauptfigur in der Doppelkrise auch das Umschlagbild von Rågången veranschaulichen: Eine historische topographische Karte, wenn auch in graphisch verfremdeter Form, die Besitzrechte und Territorialität fokussiert. Auf dem unteren bräunlichen Kartenblatt sind Flächenangaben und Grenzlinien zu erkennen, einige Äcker und Weideflächen tragen schwedische Eigennamen (Brännåkern, Ängråkern, Stobbån, Tistelängen). Die physische Buchausgabe und die Abbildung der Verlagswerbung im Internet weisen eine bemerkenswerte Abweichung auf: Während der konkrete Bucheinband nur den Eintrag „[…] bys egor“ (Eigentum  des Dorfes xy) zeigt, wurde bei der digitalen Abbildung der Ausschnitt etwas verschoben, so dass das ansonsten fiktive Dorf nun doch geographisch lokalisierbar wird: „Labby bys egor“, historisch belegt seit Mitte des 16. Jahrhunderts (siehe https://bebyggelsenamn.sls.fi/bebyggelsenamn/2133/labby-lovisa/). Dieser Ort liegt rund 100 km von Esbo entfernt, was übrigens die seltene Anwesenheit von Gits berufstätigem Ehemann erklärt.

Gerade das auf dem Bild links unten dargestellte Gebiet für die gemeinschaftliche Nutzung, die Fläche im Dorfeigentum, die nicht weiter aufgeteilt werden darf, ist metaphorisch bedeutsam für die Verheißung ländlicher Gemeinschaft, die bei Strömberg zwar beschworen, aber nur in den erzählerisch synthetisierten Erinnerungen realisiert wird – sowohl auf Seiten der Figuren als auch im schlingernden Erzählprozess.

Die obere grüngestreifte Hälfte des Titelblatts verweist auf Wald oder nicht erschlossenes Gebiet. Zwischen den beiden Hälften ist ein weißer Riss zu erkennen, in dessen Mitte der schwungvolle, nach schräg oben strebende Schriftzug „Rågången“ prangt. Eine markante Linie durchzieht und verbindet beide Bildhälften, wobei sie auf dem weißen Grund rot eingefärbt ist. Diese Linie verweist offensichtlich nicht auf eine Grenze, sondern auf eine Route. Auf das farbig hervorgehobene Intervall zwischen Möglichkeit und Zweckbestimmung – oder umgekehrt zwischen vorausschauender Strukturiertheit und sich chaotisch ansammelnden Erfahrungen, die sämtliche Zeitstufen betreffen – kommt es in Rågången also an, angeblich in der Landschaft wie im Leben.

Die übertragene Bedeutung bestätigt sich, indem die vertikale rote Linie die Endsilbe des Titels durchstreicht: Es geht um Lebensbilanzen mit integrierten Grenzverlaufsklärungen (im Sinne von „rågång-rannsakning“ laut SAOB), im Besonderen und im Allgemeineren.

Retrospektiv Sicherheit gewinnen und unlösbare Fragen aufwerfen

Die dänisch-finnlandschwedische Git ermöglicht in ihrer professionellen Position als juristisch befugte Landvermesserin die Beilegung eines Grenzstreits in Starrängarna. Mit dem habgierigen Waldbesitzer Raymond S. Markelund (man beachte die sprechenden Namen) führt sie einen Grenzgang durch, bei dem es zu zwei überraschenden Funden kommt. So findet sie eine im Boden verankerte alte Steinröse, die den genauen Verlauf der Grenze rechtssicher festlegt. Markelunds dreiste Landnahme, die sich auf aktuelle GPS-Kartendaten beruft, kann daher abgeschmettert werden. Mit dieser materiell anschaulichen Rückverlängerung der Dorfgeschichte kommt ein erinnerungspolitischer Appell des Romans zum Ausdruck, und ganz beiläufig wird mit dem Kartenumschlagbild die schwedische Vorgeschichte eines Teils des finnischen Staatsgebiets ins Gedächtnis gerufen.

Bei dem Grenzgang wird außerdem die Leiche von Pekka Riåkarn entdeckt. Der unaufgeklärte Todesfall bildet ersatzhaft einen roten Faden für die Episoden rund um die Dorfbewohner, die Git meist von einem neu gewonnenen Freund, Bernt, übermittelt werden. In den Gesprächen während der Renovierungsarbeiten von Gits kleinem Hof (einem Torp) kehrt Bernt immer wieder auf die Ereignisse rund um den Leichenfund und auf das Schicksal der Familie Riåkarn zurück, Bernt gehört ebenfalls der Heimkehrer-Generation an.

Eine allwissende, kommentierende, mitunter zu scherzhaften Bemerkungen aufgelegte Erzählinstanz sorgt für eine konzeptuelle Mündlichkeit des Erzählens. Dies macht den Unterhaltungswert aus, der meiner Einschätzung eine deutsche Übersetzung von Rågången erwarten lässt – eventuell sogar im Fahrwasser der Erfolge von Dörte Hansens Mittagsstunde (2018; siehe Hansens Thema der Flurbereinigung, d.h. der Anpassung von Gemeindegrenzen und der modernisierenden Umgestaltung von Knicklandschaften im 20. Jahrhundert).

Zur Figurengalerie gehören neben der Ehefrau auch die Töchter der Bauernfamilie Riåkarn, Pee und Emm genannt, die ihren inzwischen verwitweten alten Vater immer häufiger besuchen. Für die gesamte Familiengeschichte ist die anspruchslose Zuwanderin Laila aus Uleåborg wichtig, mit ihr hatte Pekka ein kurzes Glück erlebt, bevor er wieder psychisch erkrankte und im Alter von 40 Jahren im Moor umkam. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit dieser intuitiv begabten Viehwirtschafterin Laila, der schwarzhaarigen Schönheit aus dem hohen Norden Stereotype der Alterität, nicht zuletzt von indigener Naturverbundenheit aufgerufen werden. Bernt weiß zu berichten, dass das Ehepaar Riåkarn den Kontakt zu Laila hielt, nachdem diese mit ihrem fast neugeborenen Enkel plötzlich abgereist war. Die näheren Umstände von Pekkas Ableben bleiben dennoch ungeklärt. Als bei der Abwicklung des Hofes die namentlich bekannten Kühe verabschiedet werden, reagieren auch die mittlerweile stadtorientierten Schwestern Pee und Emm betroffen.

Logbuch Romanbaustelle

Git lässt sich in Starrängarna treiben, gewinnt Abstand und richtet sich im Renovierungsprovisorium ein, so wie die Lesenden angehalten sind, die locker gefügten Plauderepisoden spekulativ zusammenzuführen. Zwischen den Zeitstufen der Dorferinnerungen wird hin- und hergeschaltet: „Allt som kraschade“ (Alles was zusammenbrach, S. 167), „Bygget logg höst 2“ (Die Baustelle im Herbst 2, Loggbuch, S. 141), „Mormor, det vill säga Momi från kyrkbyn“ (Großmutter, besser gesagt Omi aus dem Kirchspiel, S. 116).

Gemeinschaft entsteht dem Roman zufolge nicht allein durch Gespräche, Überlieferung, Spekulationen und Dorftratsch, sondern auch durch gemeinsames Schweigen. Als Bernt Git anvertraut, dass er vielleicht – den Eltern oder sich selbst zuliebe – doch früher nach Starrängarna hätte zurückgehen gehen sollen, spielt sich die folgende etwas zähe Szene ab:

„ – Jag borde kanske ha kommit hem då, sa Bernt.

Men så lämnade han temat. Han satte ytterligare en sockerbit i sitt kaffe, han var lite udda på det viset att hans rutiner varierade. Ibland var det en bit, ibland två, ibland till och med inget socker alls. Men sätter man två bitar så måste man röra lite extra. Git hade lust att fråga lite mer om det där eventuella kommandet, men det var kanske känsligt, eller något han inte ville diskutera. Då er det förstås bäst att man är tyst. Git suckade, det var här med det eviga snöandet också, mitt i allt hade det börjat vräka ner fast det egentligen var höst enligt almanackan.“ (S. 155)

„- Ich hätte vielleicht schon damals heimkommen sollen, sagte Bernt.

Aber dann ging er nicht mehr auf das Thema ein. Für seinen Kaffee nahm er noch ein Stück Zucker, er war etwas eigenartig in seinen Gewohnheiten. Manchmal nahm er ein Stück, mal zwei oder gar keinen Zucker. Wenn man zwei Stücke nimmt, muss man den Kaffee etwas länger umrühren. Git hätte gerne mehr zu dieser eventuellen früheren Heimkehr gefragt, aber vielleicht war das ein heikles Thema oder eine Sache, zu der er sich nicht austauschen wollte. Dann ist es natürlich besser, nichts zu sagen. Git seufzte, und dann auch noch dieser ewige Schnee, in all dem hatte es losgeschneit, obwohl laut Kalender Herbst war.“

Im letzten Abschnitt erfährt Pee von ihrem Vater, wer den Anbau des kleinen Nachbarhofs im dänischen Sommerhausstil umgestaltet hat: „- En lantmätare, så Riåkarn, här från mejeriet.“ (Eine Landvermesserin, sagte Riåkarn, hier von der Molkerei, S. 222)

Erst an dieser Stelle deutet sich der mögliche Beginn eines intensiveren Kontaktes zwischen den Ortsansässigen und den Zugewanderten an, der über die Vertrautheit mit der Dorfgeschichte legitimiert wird. Die Anwendung von Regiolekt und Soziolekt in den Dialogen legt nahe, dass Kriterien von Herkunft und Abstammung bzw. von nachweislicher ländlicher Sozialisation Voraussetzungen für soziale Anerkennung bleiben.

Auch wenn einige Höfe verlassen und die ehemalige Molkerei stillgelegt bleiben werden, scheinen das Teilen von gruppenspezifischen Geschichten und eine geteilte Historiographie am ehesten eine Selbstidentifikation als Bestandteil einer Gemeinschaft zu ermöglichen, ein Selbstverständnis, das städtische Lebensformen – frei nach dem Konzept von Ferdinand Tönnies 1887 – nicht bieten könnten.

Die nostalgische Wehmut und die engagierte regionale Geschichtsvergewisserung im Hinblick auf die Abwanderungsgebiete, die seit der Pandemie aufgewertet wurden, sollen offenkundig tröstenden Halt in unübersichtlichen Zeiten bieten. Vielleicht wird sogar im zweiten Band, falls es diesen geben sollte, Gits jütländischer Käse verkostet?

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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