Bombus pyrrhopygus, bombus hyperboreus, bombus subterraneus, bombus muscorum, bombus quadricolor, bombus distinguendus.
Das sind die lateinischen Namen von sechs der 35 Hummelarten, die es in Norwegen gibt. In Lene Asks biographisch-dokumentarischem Comic Astrid Løken. Å slåss med varsomme hender (2024, Astrid Løken. Wie man sich mit behutsamen Händen prügelt) spielen sie eine kleine, aber wichtige Rolle. Denn Astrid Løken (1911-2008) war eine norwegische Entomologin, also eine Insektenkundlerin, die in verschiedenen naturwissenschaftlichen Institutionen vor allem zu Hummeln und insbesondere zu Hummeln in Norwegen geforscht hat. Als Konservatorin baute sie die entomologischen Sammlungen der Universität in Bergen auf und systematisierte auch die Archive in Oslo und Stavanger. Früh warnte sie vor den Folgen von Industrialisierung, Gewässerregulierung und Pestizideinsatz, die die Verbreitung der Hummeln bedrohen, und wies auf deren nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Bestäubung und die Artenvielfalt der norwegischen Flora hin. Auf ihren jährlichen Feldeinsätzen in den Sommern 1939 bis 1986 fing sie über 25.000 Hummeln und kartographierte ihre Verbreitung; ihre Feldtagebücher sind für die Forschung nach wie vor eine wichtige Quelle.
Hardanger. Måbøtal Unsystematische Beobachtungen entlang der Straße vom Oberen Eidfjord. 28.7.42 Ca. 3 km von Sæbø wurden immer wieder B. pratorum und lapponicus gesichtet, alle auf Knautia arvenis. (…) Am Hof Tveito wurden lucorum beob. Beob. soroeensis auf Trifolium repens. |
Diese Feldarbeit war unter der deutschen Besatzung im Sommer 1943 bedroht: In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar hatten alliierte Agenten einen Sabotageanschlag auf das Wasserkraftwerk Vemork bei Rjukan (Telemark) durchgeführt und die dortige Anlage zur Herstellung von schwerem Wasser gesprengt, das die Nazis zur Entwicklung einer Atombombe nutzen wollten. In der Folge hatte die deutsche Besatzung den Besuch der Hardangervidda für Zivilisten gesperrt und also auch für Astrid Løken, die die Hummelpopulation der Hardangervidda verzeichnen wollte. Doch glücklicherweise erhielt die junge Wissenschaftlerin eine Sondererlaubnis direkt aus der Hand des Nazi-Reichskommissars Josef Terboven.
So hätte Løken wohl ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Okkupation in kurzen Strichen zusammengefasst – bis 1988. Denn dann änderte sich alles.
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Erst 1988 nämlich wurden die Mitglieder von XU von ihrem Schweigegelübde entbunden, das sie dem Oberkommando der Norwegischen Verteidigung gegenüber abgelegt hatten. XU war der wichtigste geheime Nachrichtendienst der Alliierten im besetzten Norwegen. Am Ende des Krieges hatte die Organisation ein Netz von 1500 Personen aufgebaut, die im ganzen Land Informationen über die deutschen Streitkräfte, sowie Karten und Fotos von fast allen ihren Befestigungen sammelten, dieses Material (täglich bis zu 500 A4-Seiten) über ein ausgeklügeltes Kuriersystem nach Schweden schmuggelten und von dort an das Oberkommando des norwegischen Heers in London und den britischen MI II weiterleiteten. Astrid Løken gehörte zu den ersten, die 1941 Kurierdienste für XU ausführten, und war bald Teil der Leitung. Als sie sich im Sommer 1943 auf der Hardangervidda aufhielt, galt ihr Sammeln, Kartographieren und Auswerten nur vordergründig der Hummelpopulation, vor allem aber den Wegen und Pfaden, den Brücken und Tunneln, kurz dem Terrain und allem anderen, das für mögliche Operationen der Alliierten von Bedeutung sein könnte.
In Løkens Leben überlagerten sich also zwei Wirklichkeiten, von der – bis1988 – nur wenige wussten: das öffentliche Leben als Entomologin und das geheime Leben als Widerstandskämpferin. Eine solche Verschränkung schreit danach, in einer Kunstform wie dem Comic erzählt zu werden, in dem sich per Definition zwei Medien – Wort und Bild – miteinander verschränken.
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Lene Ask (*1974) gehört zu den profiliertesten Comicschaffenden in Norwegen. Sie debütierte mit dem autobiographischen Comic Hitler, Jesus og farfar (2006, Hitler, Jesus und Großvater). Darin erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend im norwegischen bible belt und von ihrer Suche nach ihrem deutschen Großvater, der als Soldat im besetzten Norwegen stationiert war und nach der Niederlage von Nazideutschland aus dem Leben seines Sohnes und dessen Mutter verschwunden ist. Mit der Kombination dieser beiden Themen traf sie offensichtlich einen Nerv, denn der Comic wurde 2011 für das Leseförderprojekt Hele Rogaland leser (Ganz Rogaland liest) ausgewählt. Für das Projekt wurden 50.000 Exemplare des Comics gedruckt und kostenlos verteilt. Damit wurde Lene Asks Debut zum norwegischen Comic mit der größten Auflage überhaupt.
Ausgezeichnet wurde sie auch mit dem Preis Årets Tegneserie (Comic des Jahres) und zwar 2021 für ihren dokumentarischen Comic O bli hos meg (Oh, bleib bei mir). Der Preis wird seit 2016 jährlich auf dem Comicfestival Oslo Comic Expo verliehen und ist auf 30.000 Kronen dotiert. O bli hos meg zitiert die norwegische Fassung von Henry Francis Lytes bekanntem Kirchenlied Abide with me (1847), ein wirklich passender Titel, weil der Comic gleichzeitig auf eine religiöse Sehnsucht anspielt, aber im Kontext, den der Comic erzählt, auch noch ganz anders verstanden werden kann. Das Buch baut nämlich auf Interviews mit Personen auf, die als Kinder in Missionsinternaten untergebracht waren, weil ihre Eltern im Einsatz in Asien oder Afrika arbeiteten. Asks Buch erzählt viele ergreifende Geschichten, aber der Preis des Osloer Festivals sollte wohl rückwirkend Asks Meisterwerk Kjære Rikard (2014, Lieber Richard) auszeichnen. Der Comic zitiert historische Briefe vom Ende des 19. Jahrhunderts, die sich der achtjährige Rikard Jakobson mit seinem Vater schrieb und die heute im Missionsarchiv in Stavanger liegen, und bebildert diese herzzerreißenden Dokumente kindlicher und elterlicher Sehnsucht.
Mit diesen beiden Comics knüpft Ask an das religionssoziologische Thema ihres Debuts an; mit ihrem neusten Buch über die Widerstandskämpferin Astrid Løken kommt sie zu dessen zweitem Thema zurück: Der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg.
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Damit ist sie nicht die einzige. Besonders erfolgreich ist die mittlerweile fünfbändige Sabotør-Serie von John S. Jamtli, in der die bekanntesten Widerstandsaktionen gegen die deutsche Besatzung im Medium des Comics erzählt werden (2018 En røverhistorie fra krigsårene/Eine Räubergeschichte aus den Kriegsjahren, 2019 Operasjon Muskedunder/Operation Donnerbüchse, 2021 I skyggen av Tirpitz/Im Schatten der Tirpitz, 2023 Tungtvannsaksjonen/Die Schwerwasseraktion und 2024 Grenselos/Grenzlotse), ein Rezept, dem sich Andreas K. Iversen mit Max Manus (2024) anschließt. Und nun also ein dokumentarischer Comic über Astrid Løken. Doch anders als die Comics von Jamtli und Iversen, die ihre visuellen Höhepunkte in Sprengungen und Explosionen, in Verfolgungsjagden und Schusswechseln finden, gibt es davon nichts bei Lene Ask. Ihre Heldin kämpft eben mit „behutsamen Händen“ („med varsomme hender“) und hat dann Erfolg, wenn ihre Arbeit im Verborgenen bleibt. Ihre Heldentaten bestehen aus dem Sammeln und Ordnen von Informationen, und darin die Nächte an der Schreibmaschine zu sitzen und als Kurier von hier nach dort zu radeln. Doch es ist nicht nur der Art des Materials geschuldet, dass Ask ganz anders erzählt, als man es von einem Comic erwarten würde; vielmehr verweigert sie sich bewusst der Gattung der Heldengeschichte. Das wird besonders dort ersichtlich, wo sich Spannungsbögen und visuelle Muster der üblichen Kriegserzählungen angeboten hätten. Etwa dort, wo die Gestapo Arvid Storsveen, einem hochrangigen XU-Agenten, in einer Wohnung auflauert und ihn erschießt, zeigt Ask keine Schießerei in der Wohnung, keine Flucht durch das Treppenhaus, keine Leiche in einer Blutlache, sondern nur das hier:
Die Gestapo wartet in der Wohnung in der Vidarsgate. Sie schießen und treffen. | Arvid schafft es die Treppe hinunter und auf den Innenhof hinaus, bevor er zusammensackt. Er blutet an der Brust. Die Gestapoagenten tragen ihn hinauf in die Wohnung, wo er stirbt, 27 Jahre alt. Sie finden zwei verschiedene Ausweispapier unter seinen Sachen. Keines trägt den richtigen Namen, und die Gestapo findet nie heraus, wer er war. |
Lene Ask verzichtet nicht nur auf zu Klischees geronnene Pathosformeln der nationalen Heldengeschichten, die zum Kernbestand norwegischer Identität gehören; sie kommt auch ohne die konkreten Fotos aus, die sich ins kollektiven Gedächtnis eingeschrieben haben, und die andere Comics mit Vorliebe zitieren, weil sie damit Authentizität zu produzieren meinen. Ikonisch sind beispielsweise der militärische Zug, mit dem die deutschen Besatzer 1940 auf der Osloer Prachtstraße Karl Johan paradieren, oder die Rückkehr des norwegischen Königs aus dem Exil 1944. Lene Ask weiß, dass sie diese mit Mythen des Alltags gesättigten Ansichten nicht zitieren muss und trotzdem damit rechnen kann, dass ihr Publikum sie vor dem inneren Auge aktivieren wird. So gehören auch die Bilder vom Kriegsende am 8. Mai 1945 mit der jubelnden Menschenmenge auf Karl Johan derart zum norwegischen Inventar, dass Lene Ask sie sogar dadurch aufrufen kann, dass sie sie umgeht:
Am 8. Mai 1945 ist wunderbares Wetter in Oslo. | Im Laufe des Tages werden Temperaturen bis zu 14 Grad gemessen. |
Die Apfelblüte ist in vollem Gang, mehrere Hummelköniginnen haben schon ihre ersten Eier gelegt. | Es wird eine Zeit lang dauern, bis Astrid versteht, dass der Krieg zu Ende ist. Sie ist äußerst verwirrt. |
Astrid Løken war von ihrem Einsatz im Widerstand derart ausgezehrt, dass sie am Ende des Kriegs ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der Kontrast, in der die (nicht gezeigte) jubelnde Menge zur kranken Frau steht, deren Blick nur bis zum Fensterrahmen ihres Krankenlagers reicht, entzieht dem Klischee seine Selbstverständlichkeit. Ein klassischer Verfremdungseffekt, der meisterhaft mit den Mitteln des Comics eingesetzt wird, ermöglicht eine alternative Erzählung vom Kriegsheldentum.
Und noch eine zweite Strategie im Umgang mit Bildern fällt auf, eine Strategie, die nur dem Comic möglich ist. Dass in Asks Erzählung Krieg und Hummeln kombiniert werden, ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie wichtige Elemente in Løkens Leben sind; sie sind nicht nur Material, das erzählt wird. Ihre Kombination wird auch an vielen Stellen als narrative Strategie eingesetzt, die die Schizophrenie eines geheimen Doppellebens durch die Dissoziierung von Bild und Schrift formal umsetzt. So werden von Seite 9 bis 17 die Bilder dem Krieg und die Texte der Hummelforschung zugeordnet, ohne dass Bild und Text miteinander vermittelt werden; auf den Seiten 60, 63 und 68 kehrt sich dieses Verhältnis um. In diesem Beispiel ist von der Hummelkönigin die Rede, die im Frühling ihr Nest anlegt:
Große Temperaturschwankungen im Frühling können dazu führen, dass sie [die Hummelkönigin] nicht genug Nahrung findet. | Sie kann von Vögeln oder Raubtieren gefressen werden oder im Verkehr umkommen. |
Die meisten Hummeln in Norwegen sind soziale Hummeln, die ihr eigenes Volk gründen. | Aber einige wenige Hummelarten sind soziale Parasiten. |
Sie werden oft Schmarotzerhummeln genannt. | Es sind ‚Kuckucke‘, sie legen ihre Eier in die Nester der sozialen Hummeln und lassen deren Arbeiter ihren Nachwuchs aufziehen. |
Das Beispiel zeigt, dass das Verhältnis von Bild und Text nicht illustrierend und schon gar nicht allegorisch ist: Meint man, man müsste auf den ersten beiden panels die Hummelkönigin mit der in eine Strickjacke gekleideten Astrid Løken gleichsetzen und die vielen Gefahren, denen die Hummel ausgesetzt ist, mit den deutschen Soldaten, so geht diese Rechnung schon in den nächsten panels nicht auf. Denn dort müsste eine allegorische Lesart auch die Nazis zu Hummeln erklären, zu Kuckuckshummeln nämlich, die die sozialen Hummeln, sprich: die Norweger, ausbeuten.
Diese Trennung von Bild und Wort in einem Medium, das seine Wirkung eigentlich aus deren Verschmelzung bezieht, hat Effekte, die denen eines barocken Emblems gleichen. Sind dessen drei Teile – inscripio, pictura und subscriptio – semantisch nur locker miteinander verknüpft, damit die Kreativität des lesenden Auges freigesetzt wird und der Wechsel zwischen Bild und Text immer neue Entdeckungen hervortreibt, so produziert auch in Asks Comic die Kombination von Okkupation im Bild und Hummelforschung im Text Assoziationen; doch anders als im Emblem sorgt das schiefe Verhältnis der beiden Elemente dafür, dass die gerade produzierte Analogie gleich wieder verworfen wird, um neue zu erproben. Diese Uneindeutigkeiten widerstehen jeder glatt zu lesenden Geschichte, durch die sich der Mainstreamcomic sonst auszeichnet.
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Das letzte Viertel des Buches widmet sich Løkens Leben nach dem Krieg, reiht die Stationen ihrer wissenschaftlichen Karriere aneinander und geht auf die bis heute anhaltende Wirkung ihrer Forschung ein. Ihr Leben als Widerstandskämpferin für Norwegen scheint beendet und ganz aus der Erzählung verschwunden – so sollte man meinen. Doch angestiftet durch die paradox assoziierenden Dissoziationen ergibt sich noch eine andere Lesart:
Bombus pyrrhopygus, bombus hyperboreus, bombus subterraneus, bombus muscorum, bombus quadricolor, bomus distinguendus. Diese sechs Hummelarten zeigt Lene Ask erst ganz am Ende des Buchs. „In Norge har vi i dag 35 humlearter. I følge ‚Norsk rødliste for arter‘ fra 2021 har seks av disse humleartene en risiko for å dø ut i Norge.“ (In Norwegen haben wir heute 35 Hummelarten. Der Norwegischen Roten Liste von 2021 zufolge besteht für sechs dieser Hummelarten das Risiko, in Norwegen auszusterben.) Sie sind entweder „nær truet“/potenziell bedroht, „sårbar“, also gefährdet, oder sogar „sterkt truet“/stark bedroht. Und Ask spricht den Status für jede Bienenart einzeln aus (S. 162-3): Truet, truet, truet, truet, sårbar, sterkt truet! Wieder ist Norwegen bedroht (norw.: truet) – doch diesmal nicht durch eine Macht von außen, sondern durch den Umgang mit den eigenen natürlichen Ressourcen. Auch jetzt braucht es „varsomme hender“ (behutsame Hände), die sich für Norwegen prügeln.
Lene Ask: Astrid Løken. Å slåss med varsomme hender, Oslo: No Comprendo Press, 2024.
(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)