Auf der Hut sein. Lene Asks Heldengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg

Bombus pyrrhopygus, bombus hyperboreus, bombus subterraneus, bombus muscorum, bombus quadricolor, bombus distinguendus.

Das sind die lateinischen Namen von sechs der 35 Hummelarten, die es in Norwegen gibt. In Lene Asks biographisch-dokumentarischem Comic Astrid Løken. Å slåss med varsomme hender (2024, Astrid Løken. Wie man sich mit behutsamen Händen prügelt) spielen sie eine kleine, aber wichtige Rolle. Denn Astrid Løken (1911-2008) war eine norwegische Entomologin, also eine Insektenkundlerin, die in verschiedenen naturwissenschaftlichen Institutionen vor allem zu Hummeln und insbesondere zu Hummeln in Norwegen geforscht hat. Als Konservatorin baute sie die entomologischen Sammlungen der Universität in Bergen auf und systematisierte auch die Archive in Oslo und Stavanger. Früh warnte sie vor den Folgen von Industrialisierung, Gewässerregulierung und Pestizideinsatz, die die Verbreitung der Hummeln bedrohen, und wies auf deren nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Bestäubung und die Artenvielfalt der norwegischen Flora hin. Auf ihren jährlichen Feldeinsätzen in den Sommern 1939 bis 1986 fing sie über 25.000 Hummeln und kartographierte ihre Verbreitung; ihre Feldtagebücher sind für die Forschung nach wie vor eine wichtige Quelle.

Hardanger. Måbøtal
Unsystematische Beobachtungen entlang der Straße vom Oberen Eidfjord. 28.7.42 Ca. 3 km von Sæbø wurden immer wieder B. pratorum und lapponicus gesichtet, alle auf Knautia arvenis. (…) Am Hof Tveito wurden lucorum beob. Beob. soroeensis auf Trifolium repens.  

Diese Feldarbeit war unter der deutschen Besatzung im Sommer 1943 bedroht: In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar hatten alliierte Agenten einen Sabotageanschlag auf das Wasserkraftwerk Vemork bei Rjukan (Telemark) durchgeführt und die dortige Anlage zur Herstellung von schwerem Wasser gesprengt, das die Nazis zur Entwicklung einer Atombombe nutzen wollten. In der Folge hatte die deutsche Besatzung den Besuch der Hardangervidda für Zivilisten gesperrt und also auch für Astrid Løken, die die Hummelpopulation der Hardangervidda verzeichnen wollte. Doch glücklicherweise erhielt die junge Wissenschaftlerin eine Sondererlaubnis direkt aus der Hand des Nazi-Reichskommissars Josef Terboven.

So hätte Løken wohl ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Okkupation in kurzen Strichen zusammengefasst – bis 1988. Denn dann änderte sich alles.

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Erst 1988 nämlich wurden die Mitglieder von XU von ihrem Schweigegelübde entbunden, das sie dem Oberkommando der Norwegischen Verteidigung gegenüber abgelegt hatten. XU war der wichtigste geheime Nachrichtendienst der Alliierten im besetzten Norwegen. Am Ende des Krieges hatte die Organisation ein Netz von 1500 Personen aufgebaut, die im ganzen Land Informationen über die deutschen Streitkräfte, sowie Karten und Fotos von fast allen ihren Befestigungen sammelten, dieses Material (täglich bis zu 500 A4-Seiten) über ein ausgeklügeltes Kuriersystem nach Schweden schmuggelten und von dort an das Oberkommando des norwegischen Heers in London und den britischen MI II weiterleiteten. Astrid Løken gehörte zu den ersten, die 1941 Kurierdienste für XU ausführten, und war bald Teil der Leitung. Als sie sich im Sommer 1943 auf der Hardangervidda aufhielt, galt ihr Sammeln, Kartographieren und Auswerten nur vordergründig der Hummelpopulation, vor allem aber den Wegen und Pfaden, den Brücken und Tunneln, kurz dem Terrain und allem anderen, das für mögliche Operationen der Alliierten von Bedeutung sein könnte.

In Løkens Leben überlagerten sich also zwei Wirklichkeiten, von der – bis1988 – nur wenige wussten: das öffentliche Leben als Entomologin und das geheime Leben als Widerstandskämpferin. Eine solche Verschränkung schreit danach, in einer Kunstform wie dem Comic erzählt zu werden, in dem sich per Definition zwei Medien – Wort und Bild – miteinander verschränken.

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Lene Ask (*1974) gehört zu den profiliertesten Comicschaffenden in Norwegen. Sie debütierte mit dem autobiographischen Comic Hitler, Jesus og farfar (2006, Hitler, Jesus und Großvater). Darin erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend im norwegischen bible belt und von ihrer Suche nach ihrem deutschen Großvater, der als Soldat im besetzten Norwegen stationiert war und nach der Niederlage von Nazideutschland aus dem Leben seines Sohnes und dessen Mutter verschwunden ist. Mit der Kombination dieser beiden Themen traf sie offensichtlich einen Nerv, denn der Comic wurde 2011 für das Leseförderprojekt Hele Rogaland leser (Ganz Rogaland liest) ausgewählt. Für das Projekt wurden 50.000 Exemplare des Comics gedruckt und kostenlos verteilt. Damit wurde Lene Asks Debut zum norwegischen Comic mit der größten Auflage überhaupt.

Ausgezeichnet wurde sie auch mit dem Preis Årets Tegneserie (Comic des Jahres) und zwar 2021 für ihren dokumentarischen Comic O bli hos meg (Oh, bleib bei mir). Der Preis wird seit 2016 jährlich auf dem Comicfestival Oslo Comic Expo verliehen und ist auf 30.000 Kronen dotiert. O bli hos meg zitiert die norwegische Fassung von Henry Francis Lytes bekanntem Kirchenlied Abide with me (1847), ein wirklich passender Titel, weil der Comic gleichzeitig auf eine religiöse Sehnsucht anspielt, aber im Kontext, den der Comic erzählt, auch noch ganz anders verstanden werden kann. Das Buch baut nämlich auf Interviews mit Personen auf, die als Kinder in Missionsinternaten untergebracht waren, weil ihre Eltern im Einsatz in Asien oder Afrika arbeiteten. Asks Buch erzählt viele ergreifende Geschichten, aber der Preis des Osloer Festivals sollte wohl rückwirkend Asks Meisterwerk Kjære Rikard (2014, Lieber Richard) auszeichnen. Der Comic zitiert historische Briefe vom Ende des 19. Jahrhunderts, die sich der achtjährige Rikard Jakobson mit seinem Vater schrieb und die heute im Missionsarchiv in Stavanger liegen, und bebildert diese herzzerreißenden Dokumente kindlicher und elterlicher Sehnsucht.

Mit diesen beiden Comics knüpft Ask an das religionssoziologische Thema ihres Debuts an; mit ihrem neusten Buch über die Widerstandskämpferin Astrid Løken kommt sie zu dessen zweitem Thema zurück: Der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg.

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Damit ist sie nicht die einzige. Besonders erfolgreich ist die mittlerweile fünfbändige Sabotør-Serie von John S. Jamtli, in der die bekanntesten Widerstandsaktionen gegen die deutsche Besatzung im Medium des Comics erzählt werden (2018 En røverhistorie fra krigsårene/Eine Räubergeschichte aus den Kriegsjahren, 2019 Operasjon Muskedunder/Operation Donnerbüchse, 2021 I skyggen av Tirpitz/Im Schatten der Tirpitz, 2023 Tungtvannsaksjonen/Die Schwerwasseraktion und 2024 Grenselos/Grenzlotse), ein Rezept, dem sich Andreas K. Iversen mit Max Manus (2024) anschließt. Und nun also ein dokumentarischer Comic über Astrid Løken. Doch anders als die Comics von Jamtli und Iversen, die ihre visuellen Höhepunkte in Sprengungen und Explosionen, in Verfolgungsjagden und Schusswechseln finden, gibt es davon nichts bei Lene Ask. Ihre Heldin kämpft eben mit „behutsamen Händen“ („med varsomme hender“) und hat dann Erfolg, wenn ihre Arbeit im Verborgenen bleibt. Ihre Heldentaten bestehen aus dem Sammeln und Ordnen von Informationen, und darin die Nächte an der Schreibmaschine zu sitzen und als Kurier von hier nach dort zu radeln. Doch es ist nicht nur der Art des Materials geschuldet, dass Ask ganz anders erzählt, als man es von einem Comic erwarten würde; vielmehr verweigert sie sich bewusst der Gattung der Heldengeschichte. Das wird besonders dort ersichtlich, wo sich Spannungsbögen und visuelle Muster der üblichen Kriegserzählungen angeboten hätten. Etwa dort, wo die Gestapo Arvid Storsveen, einem hochrangigen XU-Agenten, in einer Wohnung auflauert und ihn erschießt, zeigt Ask keine Schießerei in der Wohnung, keine Flucht durch das Treppenhaus, keine Leiche in einer Blutlache, sondern nur das hier:

Die Gestapo wartet in der Wohnung in der Vidarsgate. Sie schießen und treffen. Arvid schafft es die Treppe hinunter und auf den Innenhof hinaus, bevor er zusammensackt. Er blutet an der Brust. Die Gestapoagenten tragen ihn hinauf in die Wohnung, wo er stirbt, 27 Jahre alt. Sie finden zwei verschiedene Ausweispapier unter seinen Sachen. Keines trägt den richtigen Namen, und die Gestapo findet nie heraus, wer er war.

Lene Ask verzichtet nicht nur auf zu Klischees geronnene Pathosformeln der nationalen Heldengeschichten, die zum Kernbestand norwegischer Identität gehören; sie kommt auch ohne die konkreten Fotos aus, die sich ins kollektiven Gedächtnis eingeschrieben haben, und die andere Comics mit Vorliebe zitieren, weil sie damit Authentizität zu produzieren meinen. Ikonisch sind beispielsweise der militärische Zug, mit dem die deutschen Besatzer 1940 auf der Osloer Prachtstraße Karl Johan paradieren, oder die Rückkehr des norwegischen Königs aus dem Exil 1944. Lene Ask weiß, dass sie diese mit Mythen des Alltags gesättigten Ansichten nicht zitieren muss und trotzdem damit rechnen kann, dass ihr Publikum sie vor dem inneren Auge aktivieren wird. So gehören auch die Bilder vom Kriegsende am 8. Mai 1945 mit der jubelnden Menschenmenge auf Karl Johan derart zum norwegischen Inventar, dass Lene Ask sie sogar dadurch aufrufen kann, dass sie sie umgeht:

Am 8. Mai 1945 ist wunderbares Wetter in Oslo.  Im Laufe des Tages werden Temperaturen bis zu 14 Grad gemessen.
Die Apfelblüte ist in vollem Gang, mehrere Hummelköniginnen haben schon ihre ersten Eier gelegt.  Es wird eine Zeit lang dauern, bis Astrid versteht, dass der Krieg zu Ende ist. Sie ist äußerst verwirrt.

Astrid Løken war von ihrem Einsatz im Widerstand derart ausgezehrt, dass sie am Ende des Kriegs ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der Kontrast, in der die (nicht gezeigte) jubelnde Menge zur kranken Frau steht, deren Blick nur bis zum Fensterrahmen ihres Krankenlagers reicht, entzieht dem Klischee seine Selbstverständlichkeit. Ein klassischer Verfremdungseffekt, der meisterhaft mit den Mitteln des Comics eingesetzt wird, ermöglicht eine alternative Erzählung vom Kriegsheldentum.

Und noch eine zweite Strategie im Umgang mit Bildern fällt auf, eine Strategie, die nur dem Comic möglich ist. Dass in Asks Erzählung Krieg und Hummeln kombiniert werden, ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie wichtige Elemente in Løkens Leben sind; sie sind nicht nur Material, das erzählt wird. Ihre Kombination wird auch an vielen Stellen als narrative Strategie eingesetzt, die die Schizophrenie eines geheimen Doppellebens durch die Dissoziierung von Bild und Schrift formal umsetzt. So werden von Seite 9 bis 17 die Bilder dem Krieg und die Texte der Hummelforschung zugeordnet, ohne dass Bild und Text miteinander vermittelt werden; auf den Seiten 60, 63 und 68 kehrt sich dieses Verhältnis um. In diesem Beispiel ist von der Hummelkönigin die Rede, die im Frühling ihr Nest anlegt:

Große Temperaturschwankungen im Frühling können dazu führen, dass sie [die Hummelkönigin] nicht genug Nahrung findet.  Sie kann von Vögeln oder Raubtieren gefressen werden oder im Verkehr umkommen.
Die meisten Hummeln in Norwegen sind soziale Hummeln, die ihr eigenes Volk gründen.  Aber einige wenige Hummelarten sind soziale Parasiten.
Sie werden oft Schmarotzerhummeln genannt.Es sind ‚Kuckucke‘, sie legen ihre Eier in die Nester der sozialen Hummeln und lassen deren Arbeiter ihren Nachwuchs aufziehen.  

Das Beispiel zeigt, dass das Verhältnis von Bild und Text nicht illustrierend und schon gar nicht allegorisch ist: Meint man, man müsste auf den ersten beiden panels die Hummelkönigin mit der in eine Strickjacke gekleideten Astrid Løken gleichsetzen und die vielen Gefahren, denen die Hummel ausgesetzt ist, mit den deutschen Soldaten, so geht diese Rechnung schon in den nächsten panels nicht auf. Denn dort müsste eine allegorische Lesart auch die Nazis zu Hummeln erklären, zu Kuckuckshummeln nämlich, die die sozialen Hummeln, sprich: die Norweger, ausbeuten.

Diese Trennung von Bild und Wort in einem Medium, das seine Wirkung eigentlich aus deren Verschmelzung bezieht, hat Effekte, die denen eines barocken Emblems gleichen. Sind dessen drei Teile – inscripio, pictura und subscriptio – semantisch nur locker miteinander verknüpft, damit die Kreativität des lesenden Auges freigesetzt wird und der Wechsel zwischen Bild und Text immer neue Entdeckungen hervortreibt, so produziert auch in Asks Comic die Kombination von Okkupation im Bild und Hummelforschung im Text Assoziationen; doch anders als im Emblem sorgt das schiefe Verhältnis der beiden Elemente dafür, dass die gerade produzierte Analogie gleich wieder verworfen wird, um neue zu erproben. Diese Uneindeutigkeiten widerstehen jeder glatt zu lesenden Geschichte, durch die sich der Mainstreamcomic sonst auszeichnet.

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Das letzte Viertel des Buches widmet sich Løkens Leben nach dem Krieg, reiht die Stationen ihrer wissenschaftlichen Karriere aneinander und geht auf die bis heute anhaltende Wirkung ihrer Forschung ein. Ihr Leben als Widerstandskämpferin für Norwegen scheint beendet und ganz aus der Erzählung verschwunden – so sollte man meinen. Doch angestiftet durch die paradox assoziierenden Dissoziationen ergibt sich noch eine andere Lesart:

Bombus pyrrhopygus, bombus hyperboreus, bombus subterraneus, bombus muscorum, bombus quadricolor, bomus distinguendus. Diese sechs Hummelarten zeigt Lene Ask erst ganz am Ende des Buchs. „In Norge har vi i dag 35 humlearter. I følge ‚Norsk rødliste for arter‘ fra 2021 har seks av disse humleartene en risiko for å dø ut i Norge.“ (In Norwegen haben wir heute 35 Hummelarten. Der Norwegischen Roten Liste von 2021 zufolge besteht für sechs dieser Hummelarten das Risiko, in Norwegen auszusterben.) Sie sind entweder „nær truet“/potenziell bedroht, „sårbar“, also gefährdet, oder sogar „sterkt truet“/stark bedroht. Und Ask spricht den Status für jede Bienenart einzeln aus (S. 162-3): Truet, truet, truet, truet, sårbar, sterkt truet! Wieder ist Norwegen bedroht (norw.: truet) – doch diesmal nicht durch eine Macht von außen, sondern durch den Umgang mit den eigenen natürlichen Ressourcen. Auch jetzt braucht es „varsomme hender“ (behutsame Hände), die sich für Norwegen prügeln.

Lene Ask: Astrid Løken. Å slåss med varsomme hender, Oslo: No Comprendo Press, 2024.

(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Zu Jon Fosses Ein Leuchten (Kvitleik 2023), Tief im schwarzen Wald (I svarte skogen inne 2023) und „Leike leiken“ (Spielen spielen 2023)

Die Aufregung über den Literaturnobelpreis an Jon Fosse 2023 hat sich inzwischen gelegt. Mittlerweile sind viele Lesende vielleicht schon neugierig auf die nächste Preisverkündung im Oktober 2024. Trotzdem lohnt es sich, einige jüngst erschienene Texte des Autors, die bisher wenig beachtet wurden, näher zu betrachten und ein wenig über das Schreiben und das ‚Text-Erleben‘ nach dem Nobelpreis zu spekulieren: Im Hinblick auf mediale Umsetzungen und Adaptionen zeichnet sich nämlich ein vielversprechender Trend für die Formate der szenischen Lesung und des Hörspiels ab, auch wenn die Neu- oder Re-Inszenierungen von Fosses Arbeiten an den europäischen Bühnen insgesamt noch eher zäh anlaufen.

Aktiv in mindestens drei Genres

Die Auszeichnung wurde von der Schwedischen Akademie damit begründet, dass Fosses „Neuland betretende Dramatik und Prosa dem Unsagbaren eine Stimme gibt“ („för att hans nyskapande dramatik och prosa som ger röst åt det osägbara“ (https://nobelprizemuseum.se/litteraturpriset-2023).

Dem „Unsagbaren eine Stimme zu geben“ ist eine gewagte Metaphorik, etwas raunend oder bewusst vage gehalten, wie um die religiöse Thematik mit einzubeziehen. Die vom Komitee in der Begründungsformel pointierte Stimme bezieht sich dabei weniger auf die Stimme einer Figur oder auf Erzählperspektiven, sondern auf eine sich manifestierende Kraft, die etwas Verborgenes freilegt und es der Wahrnehmung zumindest ansatzweise zugänglich macht. Eine solche Erschließung kann nur im Vollzug, d.h. während der Lektüre oder während einer Theateraufführung stattfinden, wenn sich nämlich die Texte ereignen. Doch selbst wenn für die Dauer der Rezeption assoziative Bedeutungen freigesetzt werden, die Fosse-Interessierte ‚musikalisch‘ ansprechen oder atmosphärisch in ihren Bann ziehen, kommt meistens kein Pathos auf. Zentrale Themen und Motive, Figuren oder Requisiten sind im Laufe der Zeit in Fosses Werk so oft wiederholt, abgewandelt und neu arrangiert worden, dass sie sich gleichsam abgeschliffen haben und sogar zitathaft wirken können.

Der historische Erfolg der Dramen wird mit dieser Formel hervorgehoben, ebenso der Meilenstein in Gestalt der Heptalogie, eines siebenteiligen Künstler- bzw. Bildungsromans (2019-23), der zeitlich nah am Jahr der Auszeichnung liegt. Während das Nobelkomitee Fosses Rang als Dramatiker und Prosaist betont und mit dem ‚Vernehmbar-Machen‘ des Unsagbaren auch die einkreisenden Verfahren von Wiederholungen und Pausen berücksichtigt, bleibt das lyrische Werk in der Begründung ausgespart. Dies ist verwunderlich, denn Fosses poetische Produktion reicht von den Lyrics in der Initialphase als Rockmusiker bis zu seinem mitunter explizit mit religiösen Fragen befassten ‚Alterswerk‘, in dem hin und wieder Anleihen bei der Kirchenlieddichtung genommen werden. Angesichts der Schlüsselfunktion von Rhythmus und Klang in Drama und Prosa wäre es gerechtfertigt, von einer Art lyrischem Substrat in Fosses Gesamtwerk auszugehen. Oft kommt in allen drei Genres eine inszenierte Mündlichkeit zum Einsatz, die den gedruckten Text als dürres Ausgangsmaterial erscheinen lässt, das ohnehin erst beim Vorlesen, im szenischen Spiel oder auf der Theaterbühne zum Leben erweckt wird. Ein solches tastendes, aus sich selbst Hervorschreiben führt die Lyrik seit jeher plastisch vor, unabhängig davon, wie sich die Lesenden das lyrische Ich im Einzelnen vorstellen.

Für den Trend zum Ohrentheater spricht beispielsweise, dass in den Wochen direkt nach der Preisverleihung häufig Hörbücher oder Hörspiele zugänglich waren, während viele ältere Werk erst wieder neu aufgelegt oder nachgedruckt werden mussten. Der Deutschlandfunk Kultur stellte beispielsweise die Hörspielfassung von Eg er vinden (Ich bin der Wind; https://www.hoerspielundfeature.de/ich-bin-der-wind-102.html) bereit, des letzten Dramas ‚der ersten Staffel‘, d.h. vor der biographischen Zäsur 2011/12 und vor dem Prosa-Durchbruch mit Trilogien (Trilogie 2015) verfasst, mit dem Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet, ein gemessen an der Heptalogie schmaler Prosaband. Im schwedischen Buchhandel war im Herbst 2023, extrem willkürlich, lediglich das Hörbuch Hundmanuskripten (Hundemanuskripta 1-3) für Kinder erhältlich, dies ein eher schwächeres Auftragswerk, dessen norwegische Einzelbandtitel aber gut zur Pointe über den grundsätzlichen poetischen Performativitäts-Appell bei Fosse passen: Nei å nei, Du å du, Fy å fy (1995-97).

Die drei Genres bedingen einander, und die entstehenden Genrekombinationen regen intermediale Umsetzungen gerade an, wie ich in dieser Sammelrezension erläutern werde.

Vom Groove getragen

Die von Uwe Englert herausgegebene Anthologie Das Gras hinter dem letzten Haus. Neue Literatur aus Norwegen (2019) enthält sechs Fosse-Gedichte, und die zweisprachige Sammlung Diese unerklärliche Stille (Denne uforklarlege stille 2016, Kleinheinrich Verlag Münster) präsentiert eine umfassende Auswahl, jeweils übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, der im deutschsprachigen Raum beinahe zu Fosses Ko-Autor avanciert ist. Fosse zu Unrecht wenig beachtete Lyrik etabliert ein konzentriertes Repertoire an Schlüsselbegriffen, wie etwa bestimmte Szenographien, Stimmungen oder Farben, deren Bedeutungsspektrum in der kleinen Form variabel und beweglich bleibt.  

Zugespitzt formuliert: Poetische Verfahren sind konstituierend für Dramen und Erzähltexte, womöglich ein allgemeiner konzeptueller Ausgangspunkt. Wie Englert anmerkt, ist die Formulierung der schwedischen Autorin Kristina Lugn „Die Lyrik ist sowohl Haupteingang als auch Bühneneingang für seine Dramatik“ („Poesin är både huvudentré och sceningång till hans dramatik“, 2007) an Anschaulichkeit nicht zu übertreffen.

In der Presse wurde der „Fosse-Sound“ erwähnt, der beim Lesen einen Sog, eine Art Begleitspannung zu den oft ereignisarmen Erzählungen entwickelt. Da ein vorantreibender alternierender  Grundrhythmus entsteht, ist der Begriff „Groove“ von Klaus Müller-Wille noch passender (Podcast vom 6.10.2023: https://www.srf.ch/audio/kontext/kultur-talk-der-norwegische-schriftsteller-jon-fosse-erhaelt-den-nobelpreis?id=12459879). Solche Intonations- oder Phrasierungsmuster vermitteln sich beim Hör- oder Bühnenerlebnis so intensiv, dass dieser Effekt auch auf die sog. stille Lektüre übergreift. Hat sich die sprachliche Materialität der Texte erst einmal ‚Gehör verschafft‘, erkennen die Lesenden den auf- und abwogenden Rhythmus wahrscheinlich wieder.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jon_Fosse_Nobelpriset_i_litteratur_2023.png

Sich in die Verirrung bringen, um wieder hinauszufinden – ein schlichtes Drama

Betrachtet man Ein Leuchten (Kvitleik. Forteljing 2023) und Tief im schwarzen Wald (I svarte skogen inne. Skodespel 2023) in der Zusammenschau, zeigt sich unmittelbar eine Gattungsverschmelzung, die einen erzählerisch-szenischen Doppeltext zum Resultat hat. Das Drama ruft eingangs ein Samuel Beckett-Bühnenbild auf, das ein absurd-humoristisches Setting vorgibt: Ein mehr oder weniger ausgeleuchteter Wald. Ein Stein, auf dem man sitzen kann. Einbrechende Dämmerung, dann Dunkelheit. Schneetreiben, dichter werdend.

Das Personenverzeichnis legt nahe, dass gar nicht alle Figuren auf einer Bühne im Sinne eines Schauspiels aufzutreten bräuchten. Entweder ist überhaupt nur die Hauptfigur, der „jüngere“ Autofahrer anwesend, der seinen Monolog spricht, oder es kommen vier Stimmen zum Einsatz: die des jüngeren und die des älteren Paares, während die fünfte Figur, der ‚Mann im schwarzen Anzug‘ zumindest über visuelle Zeichen repräsentiert sein müsste, da sie gestisch kommuniziert. Der Anzugmann bewegt sich auf die genannten Figuren zu oder wieder von ihnen weg und leitet abschließend eine Art Totentanz-Szene an. Für die beiden Paare gibt es eine gewisse Abstufung des Präsenzbedarfs, denn die jüngere Frau trägt ein weißes langes Kleid, d.h. eine durchgehende stimmliche Repräsentation dieser Figur wäre insofern nicht möglich, als sie für Licht und Weiße einsteht („kvitleik“ – wörtlich „Weiß-heit“).

Wichtig sind die Gesten des jüngeren Mannes („yngre mann/ yngre mannsrøyst“), der sich mit seinem Auto im Wald festgefahren hat und während des Einakters im Kreis herumirrt, -denkt und -spricht. Auch die den inneren Monolog begleitete Mimik und die Tonalität des Sprechens bedeuten für die Schauspielenden Freiheit und Herausforderung zugleich. Der orientierungslose Autofahrer im Wald zeigt nämlich nach rechts und links bzw. in drei verschiedene Richtungen, dreht sich um sich selbst, um sein bewusst herbeigeführtes Verirren und sein Absuchen des Waldes zu veranschaulichen. Wie konkret er im Kreis läuft, zeigt sich am ‚Zeitmesser-Requisit‘ des großen Steins, den er zwei Mal passiert. Die Eltern des jüngeren Mannes könnten dagegen in einer rein akustischen Domäne verbleiben, hier wird die bloße Stimme als präferierte Alternative angeführt (z.B. „Stimme der älteren Frau/ ältere Frau“; „eldre kvinnerøyst/ eldre kvinne“). Die Sichtverhältnisse im Wald erschweren eine Begegnung, wie in den Repliken angegeben wird, und die Stimmen der besorgt suchenden Eltern sind mal lauter, mal leiser.

Dass wohl ein Mann im schwarzen Anzug auf der Bühne repräsentiert sein sollte, heißt aber noch nicht, dass die Todesthematik alle anderen Facetten dominiert. Auch würde zu kurz greifen, die Weißgekleidete erst als rettende Engelsgestalt und dann als Alliierte des Anzugmannes zu verstehen. Ohnehin wird im Stück erwähnt, dass es sich bei der Wendung I svarte skogen inne um eine Redensart handelt; selbst ‚in der tiefsten Finsternis‘ bleibt sich das Stück als Text bewusst. Die Figuren sind stilisiert, beispielsweise in ihrer überdeutlichen Komplementarität und in ihren markanten Gemeinsamkeiten: Sowohl der Anzugmann als auch die Weißgekleidete treten barfuß auf, sie bewegen sich außerdem gegenläufig (vgl. S. 31). Es sind Gestalt gewordene ikonographische Einheiten oder papierene Personifikationen, die jegliche Tragik abfedern, das Absurde jedoch umso mehr herausstellen.

Der jüngere Mann hat sich selbst in die verfahrene Lage gebracht; seine Hakenschläge beim Befahren der Waldwege, bis sich das Auto festfährt, lassen sich als Versuch verstehen, eine Neuorientierung herbeizuzwingen. Seine Fahrt ist nicht einer Todessehnsucht geschuldet. Im inneren Monolog werden mögliche Hintergründe des eigenen Verhaltens, Risiken oder auch zuversichtlichere Szenarien durchgeprobt, wobei das Sprechen selbst ermutigt: „rickel, rickel, ruckel/ recht kurze Pause/ rickel, rackel, ruckel/ kurz Pause, fast begeistert/ aber vielleicht/ ja wenn ich einfach weitergehe/ ja weiter in den Wald hinein/ dann muss ich doch jemanden treffen/“ („rikk/ rikk/ rikka/ ganske kort pause/ rikk, rakk, rikka/ kort pause, litt entusiastisk/ men kanskje/ ja om ej berre går vidare/ ja vidare in i skogen/ så må ej jo koma til nokon/“ S. 14ꟷ15). Die erste andere Stimme, die nach 20 Seiten zu hören ist, ist die der Mutter, die dem Vater Vorhaltungen macht, der sich nur widerwillig am Gespräch beteiligt. Die Eltern schwanken in ihrer Einschätzung, wie ihr Sohn bisher durchs Leben gekommen ist: War er nicht schon immer etwas sonderbar? Oder war er nicht eigentlich doch ganz lebensfroh und vor allem ein souveräner Autofahrer? Es bleibt unklar, ob der Protagonist die Eltern anfangs überhaupt hören oder sehen kann, denn er reagiert erst nur auf die jüngere Frau, die sich vor ihn hinstellt, die er aber nicht zu kennen scheint. Auf seine Frage nach ihrem Namen, bleibt diese ihm die Antwort schuldig, sie kann ihm auch den Weg nicht zeigen (vgl. S. 32ꟷ34), schickt ihn aber nach Hause und mahnt: „Du kannst gerade nicht klar denken“ („No tenkjer du ikkje klårt.“ S. 37). Die Stimmen der besorgten Eltern treten hinzu, so dass sich die Dialoge der beiden Paare überkreuzen. Die Hauptfigur schlägt der Weißgekleideten vor, sich im Auto aufzuwärmen und die Scheinwerfer anzuschalten, ein haltloser Versuch, da niemand den Rückweg kennt. In beiden Paaren haben die weiblichen Figuren die Führung übernommen, ein Charakteristikum in vielen genderspezifischen Konstellationen bei Fosse, um nicht zu sagen, eine typische Arbeitsteilung der Geschlechter.

Die jüngere Frau entdeckt nun das ältere Paar im Wald und macht den jüngeren Mann auf die beiden Alten aufmerksam, obwohl er sie zu ignorieren versucht. Der skizzierte psychologische Konflikt, die Scham des Sohns über sein Scheitern und das gestörte Verhältnis der Mutter zum Sohn, steht mit der selbstreflexiven Monologführung im Widerspruch, was die Kohärenz des Dramas verringert, wie ohnehin jede Aufführung als ‚Figuren-Schauspiel‘ in Anbetracht von Fosses Gesamtwerk beinahe anachronistisch erscheint. Kurz vor der davonschwebenden Schlussszene weist der jüngere Mann die Weißgekleidete auf den inzwischen zugeschneiten Stein hin, damit sie kurz ausruhen kann. Vorher wurden die beiden unterschiedlichen ‚Erlösungslandschaften‘ des Mannes und der weißen Frau im Vergleich vorgestellt: Für ihn ist es die unendliche kompakte Weiße einer geschlossenen Schneedecke, für die weiße Frau dagegen ein leuchtender Sonnenaufgang über dem Meer oder ein abendlicher Sonnenuntergang – beides intertextuell anspielungsreiche Szenographien und allegorisch übercodiert (vgl. S. 64).

Wenn überhaupt, verursachen Scham und Verdrängung die große Krise der Hauptfigur, nicht aber das Selbstexperiment der arrangierten Verirrung. „Einfach hier stehen/ ja an diesem Punkt/ ja an diesem Punkt stehen und daran denken/ unterbricht sich, recht kurze Pause/ ja daran, dass es ja auch ein Ausgangspunkt ist/ recht kurze Pause/ Punkt Ausgangspunkt“ („Berre stå her/ ja på dette punktet/ ganske kort pause/ punkt punkt punkt/ ja stå her på dette punktet og tenkja på/ bryt seg av, ganske kort pause/ ja på att dette er jo òg eit utgangspunkt/ ganske kort pause/ punkt utgangspunkt/“ S. 21) Vielleicht folgt diese Figur eher den anderen, als dass sie den Neuanfang auf einem weißen Blatt, from scratch, oder aber das Verlassen der Welt herbeisehnen würde. Vielleicht kommt es aber auch vor allem auf die Retrospektive an, wie die elterliche Profilierung des aus der Bahn geratenen Sohnes veranschaulicht. Klaffen nicht oft die (auto)biographischen Erzählungen und die Geschichten der anderen über Erfolge und Scheitern eines Mitmenschen, den sie zu kennen meinen, weit auseinander? „[E]r fuhr immer so gerne Auto“ („han likte så godt å køyra bil“, S. 80), gibt der Vater zu bedenken.

Im dichten Blocksatz eingekreist

Liest man nach der Lektüre des Dramas I svarte skogen inne das Prosa-Pendant Kvitleik,liegt nahe, dass der Autofahrer seiner Verirrung vielleicht nicht gewachsen war. Im Prosatext werden die sowohl kreisenden als auch abschweifenden Gedanken des Sohnes vertieft, beispielsweise über die spärliche Bevölkerung der entvölkerten Gegend, wer hier wohl einen Führerschein habe oder über die Renovierung eines verfallenen Hauses. Markant ist das positive Verständnis der herbeigeführten Irrfahrt im ersten Satz der Erzählung: „Ich habe mich verfahren. Das tut gut. Die Bewegung tat gut.“ („Eg køyrde av garde. Det gjorde godt. Rørsla gjorde godt.“ S. 7).

Die Figurengalerien der Erzählung Kvitleik und des Dramas I svarte skogen inne weichen voneinander ab. In der Langerzählung tritt außer der Mutter des Protagonisten keine weibliche Figur auf, obwohl die weiß leuchtende Gestalt, hier als ‚weißer Umriß‘ bestimmt, vom Protagonisten zunächst für eine Frau gehalten wird, dann jedoch weniger menschlich-konkret erscheint als die weißgekleidete Frau im Stück.

Die Fülle an Details verstärkt natürlich die Option einer Psychologisierung des einsamen männlichen Charakters („mutterseelenallein“/ „mutters aleine“, S. 53), der sich vor allem über sein Sohnsein definieren musste. Anders als im Drama bleibt der festgefahrene Autofahrer eine ganze Weile im beheizten Wagen sitzen, bevor er meint, aufbrechen und Hilfe holen zu müssen. Dass er Helfende ausgerechnet im Waldesdunkel sucht und dass er sich überhaupt so unüberlegt auf diese Irrfahrt eingelassen hat, verwundert ihn mehrfach. Nach dem ersten Auftritt der weißen Erscheinung in der Waldfinsternis, „ich bin, der ich bin“ („eg er den eg er“ S. 40), scheint es noch die Chance zu geben, einen Ausweg zu ersinnen. Die fragile Balance gerät erst nach dem Erscheinen der Eltern, insbesondere der fürsorglich-vorwurfsvollen Mutter ins Wanken. Am Ende scheint die Familie gemeinsam ins ‚Dort‘, auf die ‚andere Seite‘ aufzubrechen. Statt um Scham und Verdrängung (wie im Drama) geht der psychologische Konflikt in Kvitleik um das initiativlose und schweigende Verhalten von sowohl Sohn als auch Vater, das im Umgang mit der Mutter zu einem lähmenden Muster geworden ist. Wie im Drama hatte die Mutter darauf gesetzt, dass auch der Vater das Gespräch mit dem Sohn suchen würde, um die elterlichen Ermahnungen vorzubringen. Ebenso war sie fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es ein väterliches Wissen um den richtigen Weg (nicht nur aus dem Wald) gebe.

Natürlich ist auch der schwarze Anzug-Mann wieder mit von der Partie. Die schematische Anlage des Weiß-Schwarz-Antagonismus führt zu einer Verfremdung durch den Verbund von Prosa und Drama; Kvitleik bietet sich mithin als umgeschriebenes und im Detail ausgestaltetes Drama in epischer Form dar. Entsprechend sind einige der Bühnenbild- und Regieanweisungen in die Erzählung integriert worden: „Jau, ein großer, runder Stein mitten im Wald, ein Stein wie gemacht dafür sich draufzusetzen“ („Jau ein stor og rund stein der midt inne i skogen, ein stein som laga for å sitja på“ S. 21).

Abweichend vom Stück werden Naturelemente eingesetzt, interessanterweise theatral und kulissenhaft, das wechselnde Mondlicht und der Sternenhimmel, wobei deren jeweilige Beleuchtungsintensität mit der Deutlichkeit und Lautstärke der elterlichen Stimmen bzw. mit der Entfernung/Nähe dieser beiden Figuren korrespondiert. Die dichte, absatzlosen Blocksatz-Darbietung dieser Erzählung, die mit „Weiße“ (vgl. S. 72) endet, während das Drama die Farbe Schwarz als Schlusspunkt setzt, signalisiert zugleich durchgehend eine modernistisch-sprachbewusste Eigengesetzlichkeit.

An mehreren Stellen bricht Komik hervor, mal übermütig, mal eher makaber. Der Stein, der wiederholt als Ruhesitz angesteuert wird, ist etwa als Requisit – und nicht als Findling – tatsächlich dafür gemacht, als Sitzplatz verwendet zu werden (s.o.). Oder die Verfremdung des spirituellen Leuchteffekts wird grell übersteuert, indem der verirrte Mann auf die „ich bin, der ich bin“-Formel in seinem Monolog erwidert: „und ich denke, dass ich diese Antwort schon einmal gehört habe, aber ich kann mich nicht erinnern, wo das war, vielleicht habe ich es auch irgendwo gelesen“ („og eg tenkjer at det svaret har eg høyrt før, men eg kan ikkje hugse kvar eg høyrde det, eller kanske las eg det einkvan staden“ S. 40). Auf die weiße Gestalt, die im letzten Abschnitt beim Auftauchen des Anzugmannes wieder aktiv wird, reagiert der Protagonist selbst fast mit einem überwältigten Lachen:

„Ich verstehe es nicht. Es übersteigt meinen Verstand, wie man sagt. Redensarten, eine Redensart. Aber überhaupt in dieser Lage von Verstand zu sprechen, das wirkt nicht sinnvoll, nein jetzt muss ich aber wirklich gleich lachen.“

„Eg skjønar ikkje dette. Det overgår min forstand, som det heiter. Talemåte, ein talemåte. Men å snakke med forstand i det heile, ja slik eg no har det, ja det kjennest ikkje rimeleg, nei no er det rett før eg byrjar le, ja det òg.“ S. 62-63)

Sogar das Todestanzmotiv wird relativiert durch eine Geste, die angesichts des übermäßigen gemeinsamen Einflusses der Eltern gleichermaßen sowohl an Brechts V-Effekt als auch an das Victory-Zeichen erinnert: „[M]eine Mutter und mein Vater, jetzt stehen sie dort Hand in Hand. Ihre herabhängenden Arme bilden ein V zwischen ihnen.“ („mor mi og far min, no står dei der og held einannan i handa. Armane deira heng ned som ein v imellom dei.“ S. 65). Dennoch schwebt die Familie, nun in ein Grau gehüllt, gemeinsam auf die ‚andere Seite‘, wobei der Styx in Richtung auf ein weißes Licht hin passiert wird (vgl. S. 71).

Die Rezensentin Sigrid Löffler hat auf die deutsche Übersetzung von Kvitleik, den Band Ein Leuchten (2023) beinahe empört reagiert, so als habe sich der Nobelpreisträger einen Flop erlaubt. Im Artikel „Der ganze Fosse auf 80 Seiten“ (Süddeutsche Zeitung 11.12.2023) scheint Löffler davon auszugehen, dass es sich um ungeschickt formulierte religiöse Literatur handle, die aufgrund von „Ausdrucksdürftigkeit und Variationsarmut“ in die Banalität umzukippen drohe. Der Umgang mit Fosses Repertoire scheint jedoch Löffler wenig geläufig, wodurch ihr die intratextuelle Komik und die Beckett-Offerten entgehen. Darauf lässt zumindest ihr grimmiger Kommentar schließen: „Der erste Verdacht, hier würden die Nahtod-Bücher der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross satirisch verulkt, erübrigt sich, denn Jon Fosse hat keinen Humor.“ (Löffler, wie oben).

Vor diesem Hintergrund halte ich auch die Markierung „Ein kleines Meisterwerk über den Tod“ („et lite mesterverk om døden“) auf dem Einband von Kvitleik, für die sich der norwegische Verlag Samlaget entschieden hat, für etwas missverständlich. Eine bewährte Rezeptionstradition scheint beschworen, nicht zuletzt das Wiederaufleben der „seelischen Landschaften“ um 1900 und damit auch einiger Schablonen der deutschsprachigen Fosse-Rezeption (vgl. Suzanne Bordemann, 2013). Was dereinst als ‚Todessehnsucht‘ und ‚Weltschmerz‘ wertgeschätzt wurde, sollte heutige Perspektiven nicht vereinseitigen und so auch nicht länger dazu beitragen, dass Lesende von der Melancholie in Fosses Werk gänzlich überwältigt werden.

Spiel wirklich mit mir oder: Aufbruch in die akustische Werkstatt

Das Miniatur-Stück für die Stimme einer erwachsenen Person und eines Kindes „Leike leiken. Lydspel for to røyster“ (2023, 13 Seiten) ist von einem Hörspiel kaum mehr zu unterscheiden. Selbst wenn das Stück mit verteilten Rollen vorgelesen wird, kann sich sein Charme entfalten. Die Regieanweisung sieht nämlich eine leere Bühne vor, und das Spiel setzt mit dem Einschalten der Beleuchtung und einer Pause ein. Fast könnte man die Einfachheit des Stücks als Aufforderung verstehen, sich an einer Improvisation zu versuchen. Der Einakter kann niedrigschwellig und recht humoristisch gespielt werden oder mit einer starken Betonung der reflektierenden oder meta-theatralen Passagen.

Vorausgesetzt ꟷ und für die noch ausstehende deutsche Übersetzung äußerst schwierig ꟷ ist die Unterscheidung von „leik“ als freiem, auch schauspielerndem Spiel und „spel“ als regelgeleiteten, auf antizipierenden Vereinbarungen basierendem Spiel, wie bei Gesellschaftsspielen oder Sportwettbewerben. Der Titel selbst ruft dieses Spannungsverhältnis auf. Das Kind und die erwachsene Begleitperson (letztere in einigen Beschreibungen des Stücks auch als „han“ bestimmt, vgl. https://tv24.se/p/jon-fosse-ord-for-ord-sasong-1-avsnitt-42-rragwe) haben erwartungsgemäß unterschiedliche Erwartungen an das Spielen. Der erwachsene Mensch scheint einschätzen zu wollen, was zu erwarten ist: Welche Fertigkeiten sind gefragt? Wie lange wird es dauern? Was scheint lockend daran? Das Kind in der ‚akustischen Szene‘ besteht auf einem freien Spiel mit offenem Ausgang, bei dem es Anweisungen jeweils für bestimmte Handlungsabschnitte geben möchte. Schon der erste Auftrag an die erwachsene Person, sich in die Mitte der Bühne (bzw. eines imaginären Platzes, der ‚auf dem Heimweg‘ passiert wird) zu stellen, bereitet der Begleitung Schwierigkeiten. Das Einnehmen einer bestimmten Pose muss ebenfalls durch das Kind nachkorrigiert werden, und die Aufgabe, auf der Stelle zu hüpfen, wird schlechtweg auf eine Weise verweigert, die dem Kind klar macht, dass es den Schwierigkeitsgrad senken muss, damit das Spiel(en) überhaupt läuft. Die Spielfreude ist auf beiden Seiten bereits etwas getrübt, aber das Kind beruhigt, das Hüpfen sähe gar nicht verrückt („toske“, S. 22) aus, da es doch innerhalb eines Spiels geschähe; es schlägt dann kompromissbereit vor, dass seine erwachsene Begleitung anstelle der Hüpfbewegung etwas sagen könnte. Dabei wird die Replik „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“ („Eg veit ikkje kva eg skal seia“, S. 26) großzügig gelobt, und das Kind ermuntert zum Weitersprechen, bis der erwachsene Mensch nun gar nicht mehr weiterweiß.

STIMME DES ERWACHSENEN/ Du hast ein Spiel erfunden/ Und jetzt spielen wir wohl dieses Spiel/ STIMME DES KINDES/ Ja/ ja jetzt spielen wir das Spiel/ ganz genau/ STIMME DES ERWACHSENEN/ Und mein Kopf ist völlig leer/ Mir fällt nicht ein, was ich sagen könnte/ STIMME DES KINDES/ Ja/ ja so läuft das Spiel/ Kurze Pause/ Und dann hüpfst du

VAKSENRØYST/ Du har funne på ein leik/ Og no leiker vi visstnok leiken/ BARNERØYST/ Ja/ Ja no leiker vi leiken/ Heilt rett/ VAKSENRØYST/ Og nu er heilt tomt i hovudet mitt/ Og kjem ikkje på meir å seia/ BARNERØYST/ Ja/ Ja slik er leiken/ Kort pause/ Og så hopper du/

Beim zweiten Versuch, zum Hüpfen zu animieren, beschwichtigt das Kind, dass doch niemand die Sprungversuche sehen könnte, womit der meta-theatrale Bezug auf das freie und zugleich geregelte Spiel der Theaterinszenierung explizit hervortritt. Das Spiel im Spiel verwandelt sich zu einem kleinen Stimmen-Spiel über das Spielen.

Obwohl das Kind kritisiert, dass seine erwachsene Begleitung das Spiel eigentlich nicht verstanden habe und die ‚freie Schöpferkraft‘ des Kindes nicht akzeptiere, begnügt es sich; immerhin wurde doch eine Variante des anfangs vom Kind ersehnten Spiels verwirklicht. Diejenigen, die Fosses Dramatik eigenmächtig übertragen, umformen oder medial und multimodal in Bewegung versetzen, dürfen sich also bestärkt sehen.

Bei der Reaktualisierung von Fosses Werken werden zukünftig aller Voraussicht nach szenische Lesungen am Theater sowie Hörspiele, Hörbücher und vielfältige intermediale Kombinationsformate im Zeichen zunehmender Medienkonvergenz erfolgreich sein. Dies dürfte sich auf neue Inszenierungen und Adaptionen ‚frei nach Fosse‘ auswirken und interessante Wechselwirkungen entfalten. Dabei wäre durchaus möglich, dass der Autor selbst die Effekte von Gattungskombinationen und unterschiedliche intermedialen Alternativen bereits in der Konzeptionsphase bedenkt.

Für anregende Gespräche über u.a. Ein Leuchten und I svarte skogen inne danke ich den Teilnehmenden des Podiumsgesprächs „Die drei Genres des Jon Fosse“ an der Universität Wien/ Abteilung Skandinavistik am 24. April 2024 sehr herzlich: Suzanne Bordemann, Uwe Englert, Andreas Karlaganis, Dörte Lyssewksi und Arild Vange.

  • Jon Fosse: Kvitleik. Forteljing. Oslo: Samlaget, 2023.
  • Jon Fosse: I svarte skogen inne. Skodespel. Oslo: Samlaget, 2023.
  • Jon Fosse. „Leike leiken. Lydspel för to røyster“, in: Syn og Segn, Nr. 4, 2023, S. 19-32.

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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Landwirtschaft im Fadenkreuz gesellschaftlicher Entwicklungen

Die Zeit der Bauernromane schien vorbei zu sein in unserer globalisierten High-Tech Welt. Nachdem in der skandinavischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts die Landwirtschaft nicht nur ein wichtiges Thema gewesen war, sondern Autoren wie Knut Hamsun oder Martin Andersen Nexø diesem Sujet die Ambivalenzen der Moderne eingeschrieben hatten, war das Landleben in der zweiten Jahrhunderthälfte eher der Idylle vorbehalten. In jüngerer Zeit aber ist im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten um Ökologie, Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit und gesunde Ernährung ein neues Interesse für das Lokale, das Landleben und die Landwirtschaft entstanden. Und da Dänemark traditionell ein Agrarstaat war, ist es nicht verwunderlich, dass hier die Landwirtschaft erneut zum Thema auch der Literatur wird.

Der seit langem etablierte dänische Autor Jens Smærup Sørensen (geb. 1946) hatte schon mit seinem Erfolgsroman Mærkedage (Gedenktage) aus dem Jahr 2007 die Aufmerksamkeit auf die agrikulturelle Entwicklung in Dänemark gelegt. Nun folgt mit Evigt i tiden (Ewig in der Zeit) ein formal sehr interessanter Roman. Wenn auch einzelne Kritiker der Konstruktion des Textes verständnislos gegenüberstehen (Jakob Genz in Berlingske Tidende, 13.8.2023), wird der Roman im dänischen Feuilleton überwiegend gelobt, vor allem wegen seiner sprachlichen Qualitäten. Lars Bukdahl schreibt, Jens Smærup Sørensen sei ”i højt stilistisk humør” (Weekendavisen, 15.9.2023; guter stilistischer Laune), und Erik Skyum Nielsen erfreut sich an „Jens Smærup Sørensens mesterskab […] i evnen til at skildre personer dybt indefra og forestille sig fortidens og fremtidens følelser” (Information, 8.9.2023; Jens Smærup Sørensens meisterlicher Fähigkeit, das tiefe Innere von Personen zu zeigen und sich vergangene und zukünftige Gefühle vorzustellen). Und Martin Gregersen nennt den Roman treffend: ”på én gang herligt traditionel og vildt moderne” (Kristeligt Dagblad, 9.9.2023; gleichzeitig herrlich traditionell und aufregend modern).

Ein Ort – vier Zeiten

Der Ort der Handlung ist das fiktive Dorf Skovby, das sich auf die Gegend zwischen Nibe und Løgstør in Himmerland lokalisieren lässt und den Fixpunkt der weit gespannten Erzählung bietet. Denn die Handlungszeit umfasst markante Stationen einer mehr als 250-jährigen Geschichte. Sie spielt sich auf vier Ebenen ab und gliedert den Roman in drei große historische Kapitel und eine in der nahen Zukunft angesiedelte Rahmenhandlung, die zwischen die Großkapitel geschaltet ist sowie den Roman eröffnet und beschließt. So entfaltet sich ein historischer Bogen, der wichtige Phasen der dänischen Landwirtschaftsgeschichte beleuchtet, die gleichzeitig markante Epochenschwellen dänischer Geschichte ausmachen: die bedeutenden Landreformen in den 1790er Jahren, als im Zuge einer Flurbereinigung die Dorfgemeinschaften zugunsten von individualisierter und neu gegliederter Bodennutzung aufgelöst wurden, die Zeit der Genossenschafts- und Volkshochschulbewegungen und der Produktivitätssteigerung Ende des 19. Jahrhunderts sowie die gegenwärtige Transformation des Agrarsektors, wobei sich eine industrielle und eine ökologisch ausgerichtete Richtung unversöhnlich gegenüberstehen. Durch die Rahmenhandlung, die nach einer nicht definierten (und den handelnden Personen unerklärlichen) Katastrophe spielt und einen zögernden Neubeginn nach Jahren der Dunkelheit, der Verödung des Landes, des Hungers, vieler Todesfälle und zusammengebrochener Kommunikation andeutet, bleibt es offen, ob die gezeigte Entwicklung ein Fortschritts- oder ein Niedergangsmodell abbildet. Die fortschreitende Effizienz- und Ertragssteigerung, die Erhöhung des Wohlstands und die Verbesserung der Lebensbedingungen stehen der zunehmenden Technologisierung und Entfremdung von der Arbeit, der (für Mensch und Tier) ungesunden Massentierhaltung, der Umweltbelastung durch Pestizide, Düngemittel und Gestank sowie dem Beitrag der Agrarwirtschaft zur Klimaerwärmung gegenüber. Wenn auch die Sympathien auf der Seite der nunmehr ökologisch wirtschaftenden Protagonisten liegen, bleibt dennoch unentschieden, welches der aktuell vorherrschenden Landwirtschaftsmodelle sich durchsetzen wird, ebenso wie unklar bleibt, was die offensichtlich globale Katastrophe ausgelöst hat.

Geschichte als Geschichten erzählen

Dieser Ambivalenz wird nicht nur durch die Struktur des Romans Ausdruck gegeben, sondern auch durch die narrative Präsentation. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Familie von Lone und Jakob Gojesen, erzählt wird aber auch von ihren vier Kindern, ihren Bediensteten und ihren Nachbarn sowie diversen anderen Familien aus Skovby. So entsteht ein polyphoner Roman, in dem eine Vielzahl von Stimmen und Meinungen ohne Wertung nebeneinander montiert ist. Eine übergeordnete Erzählebene ist kaum vorhanden, die Narration ist (vor allem im dritten Teil) dialogreich, in erster Linie aber durch wechselnde Fokalisierung auf die Gedankenwelt diverser handelnder Personen charakterisiert. Diese Art der narrativen Präsentation bedeutet auch, dass die historischen Ereignisse nicht aus einer auktorialen Perspektive berichtet werden, sondern nur implizit durch das Figurenbewusstsein gefiltert hervorgehen. Es gibt keine Jahreszahlen oder Nennung von Fakten; die den dänischen Lesenden sicher in groben Zügen bekannten Geschehnisse lassen sich nur aus den Konsequenzen erschließen, die sie für das Leben und Arbeiten der Menschen haben.

Der Clou der Narration ist, dass wir die gleichen (oder dieselben?) Personen auf allen vier Handlungsebenen treffen, wobei sie nur um wenige Jahre gealtert sind: Ein historischer Verlauf von gut 250 Jahren wird mit ca. 30 Jahren im Leben der Menschen analog gesetzt. Damit wird der etwas rätselhafte Romantitel Evigt i tiden auf der Figurenebene umgesetzt: Er deutet auf ein Geschichtsverständnis, das zwar evolutionär, aber nicht teleologisch ausgerichtet ist, das von Veränderung und Entwicklung ausgeht, aber auch Gleichbleibendes annimmt, das menschliches Miteinander sowie familiäre und nachbarschaftliche Konflikte betrifft. Während die Agrarthematik also den Horizont der Handlung ausmacht, sind es Emotionen, Beziehungen und zwischenmenschliche Konflikte, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie entstehen nicht zuletzt, weil die handelnden Personen in ihrer jeweiligen Zeit mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sind, die auf ihr Leben einwirken und die sie bewältigen müssen. Doch Liebe, Stolz, Schuld, Zweifel, Angst und Trauer werden keinesfalls als zeitlos präsentiert, sondern durch die jeweilige historische Situation unterschiedlich kontextualisiert und ausgeprägt. Im 18. Jahrhundert sind es z.B. das lange Leiden und der schwere Tod der alten Mutter, der das Ehepaar Lone und Jakob bewegt, im 19. Jahrhundert ist es die ungewollte Schwangerschaft der Tochter Margrethe, die nicht nur ihrem Vater verborgen bleibt, sondern auch für die Lesenden nie direkt ausgesprochen wird. Auf der Gegenwartsebene dann sind es die sehr unterschiedlichen Lebenswege der vier Kinder, die urbane und globale Milieus in die Handlung integrieren und mit der Tochter Else den Protest gegen die moderne technisierte Landwirtschaft auch politisch artikulieren.

Sprache als Fremdheitsbarriere

Nicht nur strukturell, sondern auch sprachlich gibt sich der Wandel Ausdruck. Denn erzählt wird überwiegend in erlebter Rede und mit ständig wechselnder Fokalisierung aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Menschen des 18., des 19. und des 21. Jahrhunderts sprachlich und gedanklich durch ihre jeweilige Zeit geprägt sind. So wird in den historischen Kapiteln eine ganze Reihe von dialektalen Wörtern verwendet, die aus der Sprache der dänischen Gegenwart verschwunden sind. Entscheidend aber ist, dass nicht jeweils einleitend explizit markiert wird, in wessen erlebte Rede und Gedanken wir als Lesende gerade eintauchen. Dadurch fügt der Roman eine gewisse Fremdheitsbarriere ein, die die historischen Personen in den beiden ersten Großkapiteln auch als solche hervortreten lassen. Eine besonders lustige Passage führt uns in die Gedankenwelt des geisteskranken Königs Christian VII, der zu Besuch nach Skovby kommt und für seine Landreformen verehrt werden will:

„Men så sætter jeg mig. De beder mig så mindeligt, jeg er nådig. Af Guds nåde, det forpligter, hvor meget jeg end foretrækker at vandre. Rundt om bordet, med og mod uret, med henblik på at tjene rigets interesser går jeg af og til ned på knæ. Det er af ikke ringe betydning at anskue dem fra enhver vinkel. Jeg lægger mig på gulvet og betragter deres hvide lægge.” (40)

„Aber ich setze mich. Sie bitten mich so inständig, ich bin gnädig. Von Gottes Gnaden, die verpflichtet, wiewohl ich es auch vorziehe zu wandern. Um den Tisch herum, mit und gegen die Uhr, im Hinblick darauf, den Interessen des Reiches zu dienen, gehe ich ab und zu in die Knie. Es ist von nicht geringer Bedeutung, sie aus jedem Winkel anzuschauen. Ich lege mich auf den Boden und betrachte ihre weißen Beine.“

Meist aber sind es die Protagonisten Jakob und Lone, deren Perspektiven, Gefühle und Überlegungen vermittelt werden. So steht Jakob dem Wunsch seiner Frau, eigenständig ein Stück des Ackers umzupflügen, verständnislos gegenüber, doch sie setzt sich durch und er muss mit ansehen, wie sie sich tapfer quält bei der Urbarmachung der Heide:

„Selvfølgelig havde han ikke tilladt hende at trække af sted med studene. Hun kunne følge med ham hvis hun ikke havde andet at tage sig til. Hvis der ikke var nok at gøre med husholdningen, børnene, med at koge og bage, vaske, salte og sylte, og lappe og hvad hun ellers lavede. Hun kunne få lov til at følge med ham ud på heden. Ja, hun kunne da, hvis det endlig skulle være, også godt få lov til at prøve sig, hvis det virkelig skulle være dét hun var så opsat efter og så forhippet på, og var han bange for det, for noget som helst, nej sgu da, værsgo, ploven er din! Så længe hun orkede. Skulle blive sjovt at se.”

„Selbstverständlich hatte er ihr nicht erlaubt, mit den Ochsen loszuziehen. Sie konnte mit ihm kommen, wenn sie nichts anderes zu tun hatte. Wenn da nicht genug zu tun war mit dem Haushalt, mit den Kindern, mit dem Kochen und Backen, Waschen, Salzen und Einkochen und Flicken und was sie sonst so machte. Sie durfte doch mit ihm zusammen auf die Heide gehen. Ja, sie konnte doch, wenn es unbedingt sein musste, es auch selbst mal versuchen, wenn es wirklich das war, was sie unbedingt wollte und so wild drauf war, und hatte er Angst davor, vor irgendwas, nein verdammt, bitte, der Pflug gehört dir! So lange wie sie es schaffte. Würde lustig aussehen.“

Ein Ehekonflikt über weibliches Emanzipationsstreben im bäuerlichen 18. Jahrhundert zeigt „das Ewige in der Zeit“, wie der Titel des Romans programmatisch ankündigt. Die Figuren sind Repräsentanten ihres Standes und ihrer Zeit, aber auch durch individuelle Schwächen und Konflikte als Charaktere gezeichnet. Diese erzählerischen Mittel und die komplexe Struktur machen einen vielschichtigen Roman aus, der mehr ist als ein ökokritischer Debattenbeitrag: ein Regionalroman mit repräsentativem Anspruch, ein historischer und ein Gegenwartsroman über die gesellschaftliche Bedeutung und die aktuelle Problematik der Landwirtschaft, aber auch ein Roman mit dystopischen Zügen, der vor den Gefahren der aktuellen Entwicklung warnt. Unentschieden bleibt, wie und ob die globale Katastrophe der Rahmenhandlung mit der Entwicklung der Landwirtschaft zusammenhängt. In jedem Fall tragen die erzählerischen Mittel dazu bei, die Landwirtschaft als im Fadenkreuz der gesellschaftlichen Entwicklung stehend hervortreten zu lassen.

Jens Smærup Sørensen: Evigt i tiden. Roman, København: Grif, 2023.

(Annegret Heitmann, LMU München)

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