Postpandemische Vergewisserungsliteratur

Mikaela Strömberg: Rågången. Helsingfors: Förlaget, 2023.

Git Laudrup hat bisher ein vorhersehbares Leben im finnischen Esbo geführt, in einem sicheren Anstellungsverhältnis an der Landvermessungsbehörde. Sie und ihr gutmütiger Ehemann Måsse gehen auf die 60 zu, als sich Git während der Pandemie etwas ruckartig für einen Berufswechsel entscheidet. An dem satirisch dargestellten neuen Arbeitsplatz, einem Advokatenbüro, kommt es zu einem sprichwörtlich handgreiflichen Konflikt, und Git wird wegen der gegen sie erstatteten Anzeige auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Dies ist der etwas holprige Auftakt des Romans Rågången (in etwa Grenzklärungsgang) und die von Zufällen begünstigte Rechtfertigung dafür, dass die ansonsten so nüchterne und strukturiert vorgehende Git in einem Abenteuer mit offenem Ausgang landet.

Kindheit und Jugend hat die Protagonistin im (fiktiven) Dorf Starrängarna (´Starenwiesen‘) in Östnyland, der Region um Helsinki, verbracht, bevor sie im dänischen Århus ihre allseits respektierte Ausbildung absolvierte und wieder nach Finnland zog. Sie bewegt sich in einem finnlandschwedischen Milieu, ohne dass der Sprachgebrauch eigens erwähnt wird. Gits Dänischkenntnisse sind allerdings unverzichtbar im Umgang mit dem Vater, der vom Altenpflegepersonal in Esbo nicht mehr verstanden wird. Der realistische, oft satirisch zugespitzte kleine Roman Rågången unterläuft mit dieser Konstruktion die erwartbaren soziokulturellen, nationalen bzw. minoritätssprachlichen Differenzen. Dabei kann Git durchaus als leicht anschlussfähige Angehörige einer zweiten Zuwanderungsgeneration aufgefasst werden.

Die Pflege von Anachronismen

Eine nicht zu unterschätzende Pointe des Romans besteht darin, dass das Wort „rågången“ laut Svenska Akademiens Ordbok nicht mehr gebräuchlich ist (https://saob.se/artikel/?unik=R_3543-0057.n7o3&pz=5 ). Das Wort ist mit dem Zeichen † markiert. Die vielfältigen Grenzklärungen, welche die Figuren, die juristischen Konflikte und die Dorfgeschichte betreffen, werden damit als Analogien zu sprachlichen Anachronismen dargeboten. Während die Grenzkonflikte in mehrfacher Bedeutung genutzt und damit auch negativ aufgeladen sind, dominiert in vielen Dorfschilderungen eine musealisierende Attitüde, wie etwa in der Schilderung der Spazierfahrten mit dem Pferdegespann, die der Bauer Riåkarn unternimmt:

„Den här gubben som åker runt med sin häst. En gammal vallack. Men för att vara ärlig är den ingen krake. Gubben har haft koll på hur en häst skall skötas. Den där kunskapen försvann aldrig, och varför skulle den försvinna. Det är väl som att cykla.

Så där vill man att hästar skall se ut, passliga i hullet, pigga och med skötta hovar.“ (S. 106)

„Dieser alte Mann, der mit dem Pferd herumfährt. Ein alter Wallach. Aber um ehrlich zu sein, ist es kein Klepper. Der alte Mann hat immer gewusst, wie ein Pferd zu pflegen ist. Diese Kenntnisse sind nie verlorengegangen, und warum sollten sie das auch. Es ist wie beim Fahrradfahren.  

So sollten alle Pferde aussehen, gestriegeltes Fell, munter und mit gepflegten Hufen.“

Indem der Umgang mit Pferden zur Körpertechnik deklariert wird, scheint einerseits die automobilfreie präkapitalistische Idylle auf, die sofort durch Gits Begeisterung für das Autofahren wieder aufgefangen wird. Andererseits wird der Entschleunigungsbedarf der Zivilisationsgeschädigten illustriert, ein bekanntes soziales Phänomen, das sich in Folge der Pandemie verstärkt hat und wahlweise die Uckermark, die Provence, Oslo Marka oder eben in die dünn besiedelten Gebiete Nylands im Südosten Finnlands betrifft. Die Dorfkultur wiederzubeleben heißt dann bezeichnenderweise auch, sich selbst mit unerprobten Ressourcen auszustatten, um zur Besinnung zu kommen – vielleicht doch eher ein subjektives als ein gemeinschaftliches Projekt?

Mikaela Strömberg, heute als Schriftstellerin und Juristin tätig, ist für ihre ländlichen, bisweilen harmonisierenden oder historisierenden Schilderungen der ausgestorbenen Dörfer in Östnyland seit 2000 bekannt, als sie den Preis der Schwedischen Literaturgesellschaft in Finnland für ihr Debüt erhielt. Die Revitalisierung dörflicher Gemeinschaften ist ihr zweifellos ein Anliegen. 

Muster(v)erkennung

Die Kombination von Erwartbarem und Zufälligem kann dazu führen, dass unerwartete Ereignisse eintreffen oder gängige Muster unterlaufen werden. Dies mag neben der erheiternden Hauptfigur in der Doppelkrise auch das Umschlagbild von Rågången veranschaulichen: Eine historische topographische Karte, wenn auch in graphisch verfremdeter Form, die Besitzrechte und Territorialität fokussiert. Auf dem unteren bräunlichen Kartenblatt sind Flächenangaben und Grenzlinien zu erkennen, einige Äcker und Weideflächen tragen schwedische Eigennamen (Brännåkern, Ängråkern, Stobbån, Tistelängen). Die physische Buchausgabe und die Abbildung der Verlagswerbung im Internet weisen eine bemerkenswerte Abweichung auf: Während der konkrete Bucheinband nur den Eintrag „[…] bys egor“ (Eigentum  des Dorfes xy) zeigt, wurde bei der digitalen Abbildung der Ausschnitt etwas verschoben, so dass das ansonsten fiktive Dorf nun doch geographisch lokalisierbar wird: „Labby bys egor“, historisch belegt seit Mitte des 16. Jahrhunderts (siehe https://bebyggelsenamn.sls.fi/bebyggelsenamn/2133/labby-lovisa/). Dieser Ort liegt rund 100 km von Esbo entfernt, was übrigens die seltene Anwesenheit von Gits berufstätigem Ehemann erklärt.

Gerade das auf dem Bild links unten dargestellte Gebiet für die gemeinschaftliche Nutzung, die Fläche im Dorfeigentum, die nicht weiter aufgeteilt werden darf, ist metaphorisch bedeutsam für die Verheißung ländlicher Gemeinschaft, die bei Strömberg zwar beschworen, aber nur in den erzählerisch synthetisierten Erinnerungen realisiert wird – sowohl auf Seiten der Figuren als auch im schlingernden Erzählprozess.

Die obere grüngestreifte Hälfte des Titelblatts verweist auf Wald oder nicht erschlossenes Gebiet. Zwischen den beiden Hälften ist ein weißer Riss zu erkennen, in dessen Mitte der schwungvolle, nach schräg oben strebende Schriftzug „Rågången“ prangt. Eine markante Linie durchzieht und verbindet beide Bildhälften, wobei sie auf dem weißen Grund rot eingefärbt ist. Diese Linie verweist offensichtlich nicht auf eine Grenze, sondern auf eine Route. Auf das farbig hervorgehobene Intervall zwischen Möglichkeit und Zweckbestimmung – oder umgekehrt zwischen vorausschauender Strukturiertheit und sich chaotisch ansammelnden Erfahrungen, die sämtliche Zeitstufen betreffen – kommt es in Rågången also an, angeblich in der Landschaft wie im Leben.

Die übertragene Bedeutung bestätigt sich, indem die vertikale rote Linie die Endsilbe des Titels durchstreicht: Es geht um Lebensbilanzen mit integrierten Grenzverlaufsklärungen (im Sinne von „rågång-rannsakning“ laut SAOB), im Besonderen und im Allgemeineren.

Retrospektiv Sicherheit gewinnen und unlösbare Fragen aufwerfen

Die dänisch-finnlandschwedische Git ermöglicht in ihrer professionellen Position als juristisch befugte Landvermesserin die Beilegung eines Grenzstreits in Starrängarna. Mit dem habgierigen Waldbesitzer Raymond S. Markelund (man beachte die sprechenden Namen) führt sie einen Grenzgang durch, bei dem es zu zwei überraschenden Funden kommt. So findet sie eine im Boden verankerte alte Steinröse, die den genauen Verlauf der Grenze rechtssicher festlegt. Markelunds dreiste Landnahme, die sich auf aktuelle GPS-Kartendaten beruft, kann daher abgeschmettert werden. Mit dieser materiell anschaulichen Rückverlängerung der Dorfgeschichte kommt ein erinnerungspolitischer Appell des Romans zum Ausdruck, und ganz beiläufig wird mit dem Kartenumschlagbild die schwedische Vorgeschichte eines Teils des finnischen Staatsgebiets ins Gedächtnis gerufen.

Bei dem Grenzgang wird außerdem die Leiche von Pekka Riåkarn entdeckt. Der unaufgeklärte Todesfall bildet ersatzhaft einen roten Faden für die Episoden rund um die Dorfbewohner, die Git meist von einem neu gewonnenen Freund, Bernt, übermittelt werden. In den Gesprächen während der Renovierungsarbeiten von Gits kleinem Hof (einem Torp) kehrt Bernt immer wieder auf die Ereignisse rund um den Leichenfund und auf das Schicksal der Familie Riåkarn zurück, Bernt gehört ebenfalls der Heimkehrer-Generation an.

Eine allwissende, kommentierende, mitunter zu scherzhaften Bemerkungen aufgelegte Erzählinstanz sorgt für eine konzeptuelle Mündlichkeit des Erzählens. Dies macht den Unterhaltungswert aus, der meiner Einschätzung eine deutsche Übersetzung von Rågången erwarten lässt – eventuell sogar im Fahrwasser der Erfolge von Dörte Hansens Mittagsstunde (2018; siehe Hansens Thema der Flurbereinigung, d.h. der Anpassung von Gemeindegrenzen und der modernisierenden Umgestaltung von Knicklandschaften im 20. Jahrhundert).

Zur Figurengalerie gehören neben der Ehefrau auch die Töchter der Bauernfamilie Riåkarn, Pee und Emm genannt, die ihren inzwischen verwitweten alten Vater immer häufiger besuchen. Für die gesamte Familiengeschichte ist die anspruchslose Zuwanderin Laila aus Uleåborg wichtig, mit ihr hatte Pekka ein kurzes Glück erlebt, bevor er wieder psychisch erkrankte und im Alter von 40 Jahren im Moor umkam. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit dieser intuitiv begabten Viehwirtschafterin Laila, der schwarzhaarigen Schönheit aus dem hohen Norden Stereotype der Alterität, nicht zuletzt von indigener Naturverbundenheit aufgerufen werden. Bernt weiß zu berichten, dass das Ehepaar Riåkarn den Kontakt zu Laila hielt, nachdem diese mit ihrem fast neugeborenen Enkel plötzlich abgereist war. Die näheren Umstände von Pekkas Ableben bleiben dennoch ungeklärt. Als bei der Abwicklung des Hofes die namentlich bekannten Kühe verabschiedet werden, reagieren auch die mittlerweile stadtorientierten Schwestern Pee und Emm betroffen.

Logbuch Romanbaustelle

Git lässt sich in Starrängarna treiben, gewinnt Abstand und richtet sich im Renovierungsprovisorium ein, so wie die Lesenden angehalten sind, die locker gefügten Plauderepisoden spekulativ zusammenzuführen. Zwischen den Zeitstufen der Dorferinnerungen wird hin- und hergeschaltet: „Allt som kraschade“ (Alles was zusammenbrach, S. 167), „Bygget logg höst 2“ (Die Baustelle im Herbst 2, Loggbuch, S. 141), „Mormor, det vill säga Momi från kyrkbyn“ (Großmutter, besser gesagt Omi aus dem Kirchspiel, S. 116).

Gemeinschaft entsteht dem Roman zufolge nicht allein durch Gespräche, Überlieferung, Spekulationen und Dorftratsch, sondern auch durch gemeinsames Schweigen. Als Bernt Git anvertraut, dass er vielleicht – den Eltern oder sich selbst zuliebe – doch früher nach Starrängarna hätte zurückgehen gehen sollen, spielt sich die folgende etwas zähe Szene ab:

„ – Jag borde kanske ha kommit hem då, sa Bernt.

Men så lämnade han temat. Han satte ytterligare en sockerbit i sitt kaffe, han var lite udda på det viset att hans rutiner varierade. Ibland var det en bit, ibland två, ibland till och med inget socker alls. Men sätter man två bitar så måste man röra lite extra. Git hade lust att fråga lite mer om det där eventuella kommandet, men det var kanske känsligt, eller något han inte ville diskutera. Då er det förstås bäst att man är tyst. Git suckade, det var här med det eviga snöandet också, mitt i allt hade det börjat vräka ner fast det egentligen var höst enligt almanackan.“ (S. 155)

„- Ich hätte vielleicht schon damals heimkommen sollen, sagte Bernt.

Aber dann ging er nicht mehr auf das Thema ein. Für seinen Kaffee nahm er noch ein Stück Zucker, er war etwas eigenartig in seinen Gewohnheiten. Manchmal nahm er ein Stück, mal zwei oder gar keinen Zucker. Wenn man zwei Stücke nimmt, muss man den Kaffee etwas länger umrühren. Git hätte gerne mehr zu dieser eventuellen früheren Heimkehr gefragt, aber vielleicht war das ein heikles Thema oder eine Sache, zu der er sich nicht austauschen wollte. Dann ist es natürlich besser, nichts zu sagen. Git seufzte, und dann auch noch dieser ewige Schnee, in all dem hatte es losgeschneit, obwohl laut Kalender Herbst war.“

Im letzten Abschnitt erfährt Pee von ihrem Vater, wer den Anbau des kleinen Nachbarhofs im dänischen Sommerhausstil umgestaltet hat: „- En lantmätare, så Riåkarn, här från mejeriet.“ (Eine Landvermesserin, sagte Riåkarn, hier von der Molkerei, S. 222)

Erst an dieser Stelle deutet sich der mögliche Beginn eines intensiveren Kontaktes zwischen den Ortsansässigen und den Zugewanderten an, der über die Vertrautheit mit der Dorfgeschichte legitimiert wird. Die Anwendung von Regiolekt und Soziolekt in den Dialogen legt nahe, dass Kriterien von Herkunft und Abstammung bzw. von nachweislicher ländlicher Sozialisation Voraussetzungen für soziale Anerkennung bleiben.

Auch wenn einige Höfe verlassen und die ehemalige Molkerei stillgelegt bleiben werden, scheinen das Teilen von gruppenspezifischen Geschichten und eine geteilte Historiographie am ehesten eine Selbstidentifikation als Bestandteil einer Gemeinschaft zu ermöglichen, ein Selbstverständnis, das städtische Lebensformen – frei nach dem Konzept von Ferdinand Tönnies 1887 – nicht bieten könnten.

Die nostalgische Wehmut und die engagierte regionale Geschichtsvergewisserung im Hinblick auf die Abwanderungsgebiete, die seit der Pandemie aufgewertet wurden, sollen offenkundig tröstenden Halt in unübersichtlichen Zeiten bieten. Vielleicht wird sogar im zweiten Band, falls es diesen geben sollte, Gits jütländischer Käse verkostet?

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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Wer bin ich und wenn ja, was ist mein Leben?

In einem Video auf Youtube kann man sehen, wie Jonas Hassen Khemiri scherzhaft bemerkt, er habe mit seinem neuen Roman ein lang ersehntes Ziel erreicht: ein so dickes Buch zu schreiben, dass der Titel horizontal auf den Buchrücken gesetzt werden kann. Khemiris Roman Systrarna (Die Schwestern) über die drei Schwestern Anastasia, Evelyn und Ina nimmt mit seinen gut 700 Seiten im Bücherregal dementsprechend einigen Raum ein, ist aber auch in manch anderer Hinsicht ein großer Roman. Mit stilistisch eleganten, manchmal über fast eine Seite dahinfließenden Sätzen breitet Khemiri in 137 Kapiteln ein 35 Jahre und drei Kontinente umspannendes Familienpanorama aus, das sich vielleicht am besten als Mashup aus Paul Austers postmoderner New-York-Trilogie und den Monumentalromanen des Russischen Realismus charakterisieren lässt.

Aus dem breitgefächerten intertextuellen Netzwerk von Systrarna ragt allerdings ein Text heraus, der sich schon wegen seines Genres keinem der beiden Pole so recht zuordnen lässt: Anton Tschechows im Titel des Romans anklingendes Drama Drei Schwestern. Der Klassiker, der mit seiner ungewöhnlichen Dramaturgie als einer der innovativsten europäischen Theatertexte um 1900 gilt, wird im Roman selbst an zentraler Stelle von einer der Schwestern, Evelyn, zur Aufführung gebracht. Verbindungen zu Drei Schwestern lassen sich aber auch abseits davon viele herstellen, von der Figurenkonstellation bis zu der prominenten Position des abwesenden Vaters, von den Motiven der Sehnsucht und des Wartens auf ein wirkliches Ankommen bis zum Ringen um eine eigene Handlungsmacht. Noch deutlicher jedoch als inhaltlich scheint das Theaterstück Khemiri formal inspiriert zu haben. Denn er überträgt Tschechows Technik des undramatischen Dramas ohne Zielspannung gewissermaßen auf den Roman. Viele Handlungsstränge werden in Systrarna lediglich angerissen, verlaufen oder überlappen sich auf ähnlich unzusammenhängende Weise wie Tschechows lange, häufig ins kommunikative Nichts führende Monologe. So entsteht weniger eine lineare Geschichte als ein flächiges Panorama aus oft nur lose verbundenen und mit großem räumlichen oder zeitlichen Abstand stattfindenden Episoden ohne tatsächlichen Fluchtpunkt. Dieses Fehlen einer eigenen zusammenhängenden Lebensgeschichte wird im Roman selbst regelmäßig thematisiert und dabei von den Figuren stets als Manko empfunden. So heißt es z.B. über das Leben der jüngsten der drei Schwestern Anastasia:

„Om allt hade varit en bok så hade saker kunnat göra mer logiska, språkkursen i Tunis hade lett till något konkret, något mer än ett krossat hjärta och några snabbt bortglömda verbböjningar, något mer än ett besök hos ett medium som hon aldrig återvände till. Men Anastasias liv var ingen bok, långt därifrån, hennes liv var bara ett antal slumpmässigt sammansatta scener och ibland, vid väldigt sällsynta tillfällen, hade hon känt att allt hade mening, att hennes liv hade en plats i ett större narrativ, att hon hängde ihop med det förflutna och den ofrånkomliga framtiden, men sen när drogerna lämnade kroppen var hon tillbaka i sin egen kropp och alltings slumpmässighet.“ (564)

(Wenn das Ganze ein Buch gewesen wäre, so hätten die Dinge mehr Sinn ergeben, der Sprachkurs in Tunis hätte zu etwas Konkretem geführt, zu mehr als einem gebrochenen Herzen und ein paar schnell wieder vergessenen Konjugationen, zu mehr als einem Besuch bei einem Medium, das sie niemals mehr aufsuchen würde. Aber Anastasias Leben war kein Buch, ganz im Gegenteil, ihr Leben bestand nur aus einer Reihe zufällig zusammengesetzter Szenen, und manchmal, ganz selten, hatte sie das Gefühl, als hätte alles hätte einen Sinn, als wäre ihr Leben Teil einer größeren Erzählung, als wäre sie mit der Vergangenheit und der unvermeidbaren Zukunft verbunden, aber später, wenn die Drogen den Körper wieder verließen, war sie zurück in ihrem eigen Körper und der allgemeinen Zufälligkeit.)

Große Fragen

Hilft der Verweis auf Tschechow dabei, den Roman formal zu fassen, bleibt eine kurze und dem ausufernden Text gerecht werdende inhaltliche Annäherung kompliziert. Im Laufe des Romans treten so viele Figuren auf, die schnell wieder verschwinden, verlaufen so viele Nebenhandlungen und Konflikte im Sande, geschehen so viele unwahrscheinliche und absurde Dinge, dass es schwerfällt, einen roten Faden auszumachen. Abstrakt, allerdings auch unspezifisch formuliert, ließe sich vielleicht sagen, dass es in Systrarna um die Zeit geht und um das Gefühl, dass sie mit fortschreitendem Alter immer schneller vergeht. Daran anknüpfend stellt der Text fast zwangsläufig die großen Fragen nach der Herkunft und Bestimmung des Lebenswegs, nach Sinnstiftung und (erreichten) Zielen.

Solche anthropologischen Grundfragen bergen immer die Gefahr, in Klischees und Banalitäten zu münden. In Systrarna geschieht dies zum Glück nicht. Sie werden nie platt oder schwer, sondern stets mit einer gewissen Leichtigkeit und Humor verhandelt, ohne dass der Text seine Tiefsinnigkeit verlieren würde. Dies gelingt auch deshalb so vorzüglich, weil der Roman, wie bei Khemiri üblich, eine feine, zum Ende verstärkt in den Vordergrund drängende selbstreflexive Ebene enthält, die alle Antworten und Erkenntnisse sofort wieder in Zweifel zieht. Auf ihr spiegeln sich die existenziellen Fragen der Handlung als metapoetische Diskussion. Wie konstruiert sich das eigene Ich durch Sprache? Ist es angesichts der Undurchdringlichkeit des eigenen Ichs und Schicksal nicht müßig, das Leben als (logische) Erzählung zu begreifen? Und wenn man es trotzdem tut: Wo endet meine und wo beginnen fremde Lebensgeschichten, wie beeinflussen und verändern sie sich je nach Perspektive? Und wer ist überhaupt dafür geeignet, eine solche Geschichte zu entwerfen und zu erzählen?

Der Fluch

Wechselt man von diesem abstrakten Niveau auf die Plotebene, scheint es sinnvoll, zunächst den Moment zu suchen, an dem die Geschichte um die drei Mikkolaschwestern einsetzt. Eine Aufgabe, die in diesem Text mit seinen vielen Rückblenden, Vorausschauen und parallelen Handlungen gar nicht so leicht zu bewältigen ist. Getreu der Tatsache, dass sich kausallogische Verbindungen oft erst im Nachhinein erkennen lassen, bringt das Ende des Romans zumindest etwas Licht in das verwirrende Dunkel. Dort wird erzählt, dass die Geschichte mit Selima, der Tante der Schwestern, und einem Fluch beginnt: Das, was ihr am meisten liebt, wird euch genommen werden.

Auch wenn das Romanende anderes andeutet, taucht der von Selima ausgesprochene Fluch im Verlauf der Ereignisse allerdings zu selten auf, um als Leitmotiv oder handlungstreibendes Element dienen zu können. Wenn man möchte, kann man ihn aber zumindest als Hintergrundrauschen wahrnehmen, zum Beispiel, wenn die Ehen von Evelyn und später auch von Ina scheitern, wenn Anastasia sich wegen einer Kleinigkeit von der Liebe ihres Lebens Daniela verabschiedet, wenn die Mutter der Mikkolaschwestern stirbt, oder wenn sich die drei selbst für lange Zeit aus den Augen verlieren und es ihnen misslingt, die Wurzeln ihrer Familiengeschichte in New York zu recherchieren. Aber auch in Randepisoden, z.B. wenn Anastasias Basketballteam trotz ihrer Klasse stets im entscheidenden Moment versagt, wenn Evelyn durch ihre Schauspielausbildung, die sie erst nicht wollte, und dann nicht beendet, ihre beste Freundin verliert, oder wenn Ina trotz ihrer Disziplin und ihres Durchhaltevermögens das Glück in ihrem Beruf verwehrt bleibt.

Verflucht hat Selima ihre Schwester, als diese in den 1970er Jahren ihre Identität gestohlen und aus Tunesien nach Europa aufgebrochen ist, um dort als falsche Selima das Leben zu führen, das die echte Selima immer hatte führen wollen. Vom Ende des Romans aus gedacht steht also am Anfang eine Migrationsgeschichte, die allerdings (wegen des Fluches?) anders verläuft als erwartet. Die falsche Selima findet zwar eine neue Heimat in Schweden, zieht in ein Wohnviertel des schwedischen Millionenprojekts, heiratet, bekommt drei Töchter, aber sie stürzt auch in zahlreiche psychische Krisen, findet in Schweden nie wirklich eine Heimat und verliert zudem ihren Mann. Und auch zu Ina, Evelyn und Anastasia gestaltet sich ihr Verhältnis bis zu ihrem Tod, ungefähr in der Mitte des Romans, äußerst kompliziert, ist gleichzeitig geprägt von tiefer Zuneigung und bitteren Vorwürfen. Blickt man genau hin, übernimmt der Fluch in diesem im Großen und Ganzen unglücklichen Leben lediglich den Platz einer Erklärungsstrategie. Er mystifiziert die Schicksalsschläge und kaschiert auf diese Art sowohl die eigenen Fehler wie auch das Versagen der schwedischen Migrationspolitik und das Scheitern des Millionenprojekts.

Postmodernes Verwirrspiel

Am Anfang steht aber auch, so erzählt es wiederum der Beginn des Romans, eine Party am Silvesterabend des Jahres 1999: „And so it was told att historien om Mikkolasystrarna började den sista december, på milleniets sista dag” (11; And so it was told, dass die Geschichte der Mikkolaschwestern am letzten Dezember, am letzten Tag des Jahrtausends begann), lautet der erste märchenhafte Teilsatz des Romans, von dem aus sich das Geflecht unterschiedlicher Lebensgeschichten entspinnt. Von hier aus betrachtet werden Roman und Handlung weniger durch den Fluch als durch eine vierte Hauptfigur zusammengehalten: Jonas Khemiri, der sich um die Leben der drei Schwestern herum und in sie hineinschreibt und dabei zugleich seine eigene Geschichte erzählt.

Das Leben treibt Jonas nicht nur zu denselben Orten wie die Schwestern, nach New York, zum Sprachkurs nach Tunesien, in eine deutsche Kleinstadt, wie sie sind auch er und seine zwei Brüder als Halbtunesier in Drakenberg im Stockholmer Stadtteil Södermalm aufgewachsen. Je mehr sich die Prallelen und Querverbindungen zwischen Jonas’ Leben und dem der Schwestern häufen, desto merkwürdiger und unwahrscheinlicher wirken sie. Jonas als Erzähler scheint dies selbst zu bemerken, wenn er sie gegen Ende des Romans sogar noch auf biologische Füße stellt und andeutet, sein Vater habe eine Beziehung mit der Mutter der Mikkolaschwestern gehabt und sie könnten Halbgeschwister sein.

Abseits seines Lebens mit, für und durch die Schwestern führt Jonas auch ein Leben als Schriftsteller, das in groben Zügen Khemiris eigener Karriere gleicht. So erfahren wir z.B. von seinem ersten großen Erfolg im Jahr 2003 mit Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker), davon, dass er verschiedene, erfolgreiche Theaterstücke geschrieben hat, 2015 mit Allt jag inte minns (Alles was ich nicht erinnere) einen teilweise in Berlin spielenden Roman veröffentlicht hat und im Jahr 2021, ein Jahr verspätet durch die Auswirkungen der Coronapandemie, mit seiner Familie nach New York zog, um dort als Cullman Fellow in der renommierten New York Public Library einen Roman zu schreiben, nämlich eben jenen monumentalen Roman Systrarna:

„Jag skriver dessa ord i januari 2022, jag sitter i mitt rum på New York Public Library, en ny våg av covid har lett till nya restriktioner, alla har fortfarande munskydd, i tunnelbanan, inomhus, i skolan. Biblioteket är stängt för allmänheten idag, det är bara jag och några säkerhetsvakter här.“ (577)

(Ich schreibe diese Worte im Januar 2022, ich sitze in meinem Zimmer in der New York Public Library, eine neue Coronawelle hat zu neuen Restriktionen geführt, alle tragen immer noch Masken, in der U-Bahn, in Innenräumen, in der Schule. Die Bibliothek ist heute für die Allgemeinheit geschlossen, es sind nur ich und einige Sicherheitsleute hier.)

Diese in den Roman eingewobenen biografischen Elemente überziehen den übrigen Text mit einem Schleier der Unsicherheit, werfen die Fragen auf, was ist Khemiri tatsächlich passiert und was ist nur erfunden. Verstärkt wird diese provokative Situation für den Leser noch dadurch, dass Jonas auch private Dinge verrät, die nicht immer so leicht zu verifizieren sind wie die Meilensteine von Khemiris Autorenkarriere. So berichtet Jonas z.B., wie er seine Frau Diane kennenlernte, von psychischen Problemen, die ihn in eine Therapie gezwungen haben, vom frühen Tod seiner besten Freundin, davon, dass er Vater zweier Söhne und Bruder eines Schauspielers ist, vom komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, etc.

Seinen Höhepunkt findet das Spiel mit dem Rezeptionsverhalten der Leser im vorletzten Teil des Romans. Hier kommt es in New York zu einer Art Showdown zwischen Jonas und Evelyn, die im Laufe des Romans mehr und mehr ins Zentrum der Handlung drängt. Mit dieser zunehmenden Konzentration auf Evelyn etabliert sich eine neue oder nun zumindest deutlicher sichtbare auktoriale Erzählinstanz, die sich zwischen den realen Autor Jonas Hassen Khemiri und den fiktiven schreibenden Ich-Erzähler Jonas schiebt. Aus dem berichtenden Ich wird nun plötzlich ein recht aufdringliches Er, das Evelyn mit E-Mails bedrängt:

„Den 20 juni 2020 fick Evelyn ett underligt mail från en man som hon hade varit ytligt bekant med när hon var barn, han påstod att de var gamla vänner, han berättade att han hade ägnat hela sitt liv åt att försöka förstå sitt liv genom Evelyn och hennes systrar […]“ (631).

(Am 20. Juni 2020 bekam Evelyn eine merkwürdige E-Mail von einem Mann, mit dem sie als Kind flüchtig bekannt gewesen war, er behauptete, sie wären alt Freunde, er erzählte, er habe sein ganzes Leben damit verbracht, sein Leben durch das von Evelyn und ihren Schwestern zu verstehen […])

Dieser erzählerische Perspektiv- und Autoritätswechsel hat für Jonas wie für die Leser entscheidende Konsequenzen. Denn er stellt innerhalb der Diegese den Wahrheitsgehalt des bisher Gelesenen und speziell die von Jonas stets betonte enge Beziehung zu Evelyn in Frage. Glaubt man Evelyn, so entstammt Vieles, was Jonas über sie erzählt, nur Jonas’ Fantasie:

„Han tar det som ett skämt, men hon hade inte menat det som ett skämt. Istället börjar han prata om den gången när de såg ett Jas-plan krascha på Långholmen. Hon skakar på huvudet. / Inte en chans, säger hon. Det här minns jag tydligt. Jag var på Långholmen själv. Och sen skällde Ina ut mig för att jag hade lovat att stå på andra sidan Västerbron. / Jag var också där, säger han. / Det kanske du var, men vi var inte där ihop. Och om du var där såg du mig på avstånd och inbillade dig att du var där med mig. Det kanske är det som du har gjort hela livet, tittat på oss från utsidan och hoppats att du var med oss så mycket att det blev sant.“ (697)

(Er fasst das als Scherz auf, aber sie hat das nicht als Scherz gemeint. Stattdessen beginnt er davon zu reden, wie sie einmal einen Jetabsturz auf Långholmen gesehen hätten. Sie schüttelt den Kopf. / Keine Chance, sagt sie. Daran erinnere ich mich deutlich. Ich war selbst auf Långholmen. Und später schimpfte Ina mit mir, weil ich versprochen hatte, auf der anderen Seite der Västerbron zu stehen. / Ich war auch da, sagt er. / Vielleicht warst du das, aber wir waren da nicht zusammen. Wenn du da gewesen bist, dann hast du mich von weitem gesehen und dir eingebildet, dass du mit mir zusammen da wärst. Vielleicht hast du das dein ganzes Leben getan, uns von außen beobachtet und gehofft, dass du bei uns wärst, so sehr, dass es wahr wurde.)

Das, was innerhalb der Diegese wahr und was nur erfunden ist, bleibt so bis zum Ende des Romans zweifelhaft. Trotzdem bringt der letzte Teil des Romans und die enger werdende Beziehung zwischen Jonas und Evelyn etwas Klarheit in das Verwirrspiel, eine Klarheit allerdings, die nur innerhalb der Fiktion gilt und so die Möbiusschleife des schreibenden geschriebenen Ichs noch enger zieht. Die heterogene Form des Romans mit seinen vielen losen Enden wird innerhalb der Diegese nämlich als ein von Jonas vervollständigtes Monologprojekt von Evelyn erklärt, in dem sie zunächst einfach ihre Familiengeschichte erzählen wollte, das sich aber mit der Zeit verändert hat:

„Först ville jag berätta min historia, säger hon. Sen blev min historia kopplad till mina systrars historia, och våra föräldrars historia, och sen tänkte jag att det skulle handla om förbannelsen, och sen skyskraporna och sen förstod jag att hela monologen måste kretsa kring tid, så nu håller jag på att strukturera om allt material i sju delar, och varje del täcker en kortare och kortare tidsperiod, ett år ned till en minut, målet är att monologen ska reflektera känslan av att tiden går snabbare och snabbare när vi åldras.“ (699)

(Zuerst will ich meine Geschichte erzählen, sagt sie. Dann wird meine Geschichte mit den Geschichten meiner Schwestern verbunden, und mit der Geschichte unserer Eltern, und dann habe ich gedacht, dass es um den Fluch gehen müsste, und dann die Skyscraper, und dann verstand ich, dass der ganze Monolog um die Zeit kreisen musste, und jetzt strukturiere ich das ganze Material in sieben Teile um, und jeder Teil deckt eine kürzere Zeitspanne ab, von einem Jahr bis zu einer Minute, der Monolog soll das Gefühl reflektieren, dass die Zeit schneller und schneller vergeht, wenn wir altern.)

Jonas hat diese Form, das zeigt der fertige Roman Systrarna, übernommen oder, auch das deutet Evelyn an, gestohlen und zu eigen gemacht – genauso wie er sich das Leben der Schwestern zu eigen gemacht und versucht hat, sich in die Leben der Schwestern hineinzuschreiben und Wände zwischen Realität und Fantasie einzureißen. Dass durch diese Übernahme zwangsläufig eine andere Geschichte der Mikkolaschwestern entsteht, als sie Evelyn erzählen wollte, gesteht auch Jonas ein: „texten handlar ju mer om min bild av er än om era riktiga jag, säger han.“ (709; Der Text handelt eben mehr von einem Bild von euch als von euren richtigen Ichs, sagt er).

Als würde in diesem großen, virtuosen Roman nicht schon genug verhandelt, schreibt sich Khemiri mit dieser Frage nach den Rechten einer ausgedachten Figur auf ironische Weise in die typischen Debatten der Migrations- und Autofiktionsliteratur um Repräsentation und Persönlichkeitsrechte ein. Anders als andere sehr erfolgreiche skandinavische Autorinnen und Autoren der letzten Jahre diskutiert Khemiri diese Fragen allerdings in einem für ihn typischen spielerischen Rahmen mit vielen doppelten Böden. Und das gelingt ihm auch noch auf eine so elegante und feinfühlige Weise, dass der Text trotz aller postmoderner Verschachtelungen pure Unterhaltung und jede Menge Lesevergnügen bietet. Kurz, Khemiri ist mit Systrarna ein Roman gelungen, dem man gerne einen größeren Platz im Bücherregal einräumt.

(Patrick Ledderose, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Über Existenzkrisen und die Farbe des Erinnerns

2019 wurde die schwedische Autorin Ellen Mattson, die bereits seit Anfang der 1990er Jahre fiktionale Literatur schreibt, Mitglied der Schwedischen Akademie. Den svarta månens år (2021, Das Jahr des schwarzen Mondes) ist nun der erste Roman seit Übernahme der Position und entsprechend hoch sind vielleicht bei vielen die Erwartungen. Er handelt von David Svarthed, einem Mann mittleren Alters und Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität, der allerdings infolge einer Suspension wegen Fehlverhaltens und einer Kopfverletzung nach einem Unfall nicht mehr arbeitet. Der knapp 200 Seiten lange Roman wurde von den Rezensent*innen zwar hauptsächlich positiv aufgenommen, wegen der etwas zerfahrenen Plotstruktur teils aber auch kritisiert.

Insbesondere zu Beginn des Textes kommt der Universität eine gewichtige Rolle zu: Neben Fragen nach dem richtigen sozialen Umgang mit Studierenden werden die Bedingungen wissenschaftlichen Schreibens, der Schwund an Immatrikulationen in den Geisteswissenschaften und eine Hinwendung derselben zu den Digital Humanities thematisiert. Zwar gewinnt Den svarta månens år durch diese hochschulpolitischen Themen auch eine gesellschaftsengagierte Dimension, hauptsächlich handelt der Text jedoch von einer individuellen und existentiellen Krise des Protagonisten, die eng mit seinem Gesundheitszustand zusammenhängt.

Erschütterungen

Das zentrale Ereignis im Roman ist ein Sturz gleich am Anfang der Handlung: Auf dem vereisten Bürgersteig rutscht David aus, fällt, verletzt sich am Kopf und erleidet einen Gedächtnisverlust. Darüber hinaus beginnt er zu halluzinieren, stellt sich etwa Vögel und Fischschwärme vor, die sein Sehvermögen beeinträchtigen, und leidet an Schlaflosigkeit sowie an Sprachverwirrungen, die sich auch in der formalen Gestaltung des Romans kenntlich machen, denn der Text erzählt in weiten Teilen stark assoziativ. Davids Halluzinationen und der titelgebende dunkle Mond, zu dem er im Laufe der Handlung immer wieder hinaufblickt, bilden dabei Ankerpunkte in einer Erzählung, deren Plotstruktur – und hier kann den oben erwähnten kritischen Rezensionen widersprochen werden – gerade durch die Parallelisierung von Gedächtnisverlust und sprunghafter Erzähltechnik besticht.

Der Text beginnt als eine Art Kriminalroman, da der Protagonist bei seinem Sturz ein Buch verliert und annimmt, dass es ihm gestohlen wurde – das vermuten auch zwei Jugendliche, die ihm nach dem Sturz aufhelfen und gesehen haben wollen, dass er nicht von selbst gefallen, sondern von einem Paar niedergeschlagen wurde. Zusammen mit den beiden Jugendlichen macht David sich auf die Suche nach dem Buch und dem Paar, das den Jugendlichen durch eine außergewöhnliche Körpergröße aufgefallen ist. Durch einige zunächst etwas absurd und wenig realistisch wirkende Zufälle erhält der Protagonist Hinweise darauf, um wen es sich bei dem Paar handeln könnte. Diese scheinbaren Deus-ex-machina-Lösungen verfolgt er jedoch auffälligerweise nie, im weiteren Verlauf besteht der Roman stattdessen vielmehr aus einer Schilderung seines Alltags und psychischen Verfalls. Dabei wird das Genre des Krimis in einem Gespräch, das der Protagonist mit einer Bibliothekarin führt, aufgegriffen und poetologisch reflektiert, indem die Bibliothekarin kritisiert, dass der Handlungsverlauf von Krimis oft voraussehbar sei und die menschliche Psyche darin unterkomplex dargestellt werde. Auf diese Weise hebelt Mattson in ihrem Roman also typische Erzählstrukturen des Krimis aus, ironisiert sie und verweigert sich der Einordnung in das Genre.

Das Buch, das David sucht, wird im weiteren Verlauf als sprachliches und visuelles Zeichen lesbar, das auf kein spezifisches Wissen verweist, sondern mit diversen, wechselnden Bedeutungen geladen erscheint. Wegen seiner Gedächtnislücken erinnert David sich nämlich nicht an den Inhalt, wohl aber an den ansehnlichen roten Einband des Buches mit goldenen Verzierungen. In seiner Schlaflosigkeit und Sprachverwirrung führt ihn die Farbe Rot assoziativ in seine Kindheit. Als er sich ins Bett legt, erscheinen ihm im Dämmerzustand Bilder und Szenen vor dem inneren Auge:

Hans ögon fylldes med dödsdagg som också rann genom munnen och näsan, men en kraftig snarkning ryckte upp honom, bar bort honom i ett gudomligt töcken, det lyste något rött på trädgårdsbordet eller passerade kanske bara i form av ett klädesplagg snabbt förbi den smala dörrspringan, han hörde de torra kloten smälla och det var sant, de hade spelat krocket den dagen. Det kunde också vara en tillbringare med saft som samlade ljuset på trädgårdsbordet under hagtornsträdet.

Hade mamma något rött, det skulle han fråga Therese i morgon och hon skulle veta, hon mindes sådant han glömde, men det var inte nostalgi, hon hade bara ett mer utpräglat minne för detaljer. (S. 66)

Seine Augen füllten sich mit einem Todestau, der auch durch Mund und Nase rann, doch ein lautes Schnarchen ließ ihn auffahren, trug ihn fort in einen göttlichen Nebel, etwas Rotes leuchtete auf dem Gartentisch auf oder huschte vielleicht nur in Form eines Kleidungsstücks am schmalen Türschlitz vorbei, er hörte die trockenen Kugeln aneinanderprallen und es war richtig, sie hatten an diesem Tag Krocket gespielt. Es konnte auch eine Kanne mit Saft gewesen sein, die das Licht auf dem Gartentisch unter dem Weißdorn sammelte.

Hatte Mutter etwas Rotes, das wollte er morgen Therese fragen und sie würde es wissen, sie erinnerte sich an das, was er vergaß, doch nicht aus Nostalgie, sie hatte einfach ein besser ausgeprägtes Gedächtnis für Details.

Therese mit dem scharfen Verstand, die auf diese Weise auch als Kontrastfigur zum Protagonisten gelesen werden kann, ist seine Schwester. Diese jedoch kann ihm kaum weiterhelfen. Er selbst ist es, der, nachdem er einmal doch länger schlafen kann, die prinzipielle Mehrdeutigkeit der Farbe erkennt:

När han vaknade hade det börjat mörkna och han visste att det röda inte fanns och aldrig hade funnits, det som fanns var en isfläck som han halkat på utanför kaféet och en glömska som han kallat röd fast den lika gärna kunde kallas något annat, en saknad som kunde bero på vad som helst i det förflutna: en borttappad leksak eller en solnedgång i en gammal bilderbok eller känslan av övergivenhet när någon gick ifrån honom på kvällen. Han gav det namnet röd och lät det vaktas av två långa personer, men de fanns inte heller, det som fanns var isfläcken, marken där han föll, skakningen i hans hjärna [.] (S. 155)

Als er aufwachte wurde es allmählich dunkel und er wusste, dass es das Rote nicht gab und nie gegeben hat, das was existierte war Glatteis vor dem Café, wo er ausgerutscht war, und ein Erinnerungsverlust, den er als Rot bezeichnete, obwohl er genauso gut anders hätte heißen können, eine Sehnsucht, die auf allem Möglichen aus der Vergangenheit beruhen konnte: verlorenem Spielzeug, einem Sonnenuntergang in einem alten Bilderbuch oder dem Gefühl der Trennung, wenn jemand ihn abends verließ. Er gab dem den Namen Rot und ließ es von zwei großen Menschen überwachen, doch auch sie gab es nicht, sondern nur das Glatteis, die Stelle an der er fiel, die Erschütterung in seinem Hirn [.]

Medien des Erinnerns

Das Erinnern ist grundsätzlich ein zentrales Thema im Roman. Immer wieder schwanken die Reflexionen des Protagonisten zwischen dem Willen, sich selbständig an Vergangenes erinnern zu wollen, und der sich aufdrängenden, vom Protagonisten aber gern verdrängten Notwendigkeit, sich im Hier und Jetzt wegen des Hirnschadens behandeln lassen zu müssen. So werden zum einen die zeitliche Dimension des Erinnerns betont, zum anderen aber auch Abhängigkeitsverhältnisse und Beziehungen des Protagonisten zu anderen Figuren – den beiden Jugendlichen, die ihm bei der Suche nach dem großen Paar helfen, der Schwester oder etwa dem Arzt, der ihn behandelt.

Dabei geht es im Roman um ganz verschiedene Aspekte des Erinnerns. Kurz nachdem er an einem Hafen nach Hinweisen auf das erwähnte Paar sucht, diese Suche nur wenig später aber aufgrund der Kälte und der Nässe beendet, reflektiert der Protagonist etwa über die Bedingungen des Erinnerns: Ihm fällt auf, dass die wiederholte und intensive Beschäftigung mit einem spezifischen Ereignis hilfreich für ein langes Erinnern daran ist und dass seine eigene Vergesslichkeit auch darin begründet liegt, sich dem Erlebten gedanklich zu selten zu widmen.

Mit einer solchen Kognitionsarbeit verbunden ist im Roman auch das kulturelle Erinnern, das etwa thematisiert wird, wenn der Protagonist eine Veranstaltung zu einem wiederentdeckten Schiffswrack besucht oder wenn er bedauert, dass viele großartige Texte der Weltliteratur heute kaum mehr rezipiert werden. Spätestens als David einmal auf alte schwedische Gedichte stößt, die er aus seiner eigenen Schulzeit kennt und kurzerhand beschließt, die – noch immer lebende – Autorin zu besuchen, wird das Erinnern außerdem im Kontext des Alterns thematisiert. Die etwas dement und überfordert wirkende Poetin kann ihm auf seine Frage, weshalb sie aufgehört habe zu schreiben, schlichtweg nicht antworten. Sie redet teils wirr, kann die Realität nicht klar von ihrer Vorstellung trennen – und unterscheidet sich in ihrem Verhalten auf diese Weise nur marginal von David selbst.

Hier, insbesondere aber noch einmal in einer rätselhaften Passage zum Ende des Romans, wird die in Den svarta månens år immer wieder angedeutete Verschränkung von Erinnern, Schreiben und Literatur deutlich. Um das rote Buch doch noch zu finden, schleicht sich der Protagonist an einem Abend in das Magazin der Bibliothek, da er vermutet, es sei ihm vielleicht doch nicht beim Sturz abhandengekommen, sondern er habe es zuvor schon versehentlich gemeinsam mit geliehenen Büchern in den Rückgabekasten der Bibliothek geworfen. Im Magazin, das deutlich größer ist als von ihm erwartet, trifft er überraschenderweise auf verkleidete Besucher*innen eines – vermutlich von ihm imaginierten – Maskenballs. Die Atmosphäre dieser ausgelassenen Feier bewirkt bei David allerdings eine Zerstreuung – ein wenig wie Goethes Faust in den Walpurgisnachtszenen erscheint er verzaubert von dem traumartigen Geschehen und abgelenkt von seinem Vorhaben. Ob er das Buch findet, bleibt so auch unklar – ihm fällt eine Leerstelle in einem Regal auf; das Buch, das zuvor dort stand, wird während des Balls von einem Praktikanten gelesen, erfährt er etwas später am selben Abend. Da ist es ihm jedoch schlicht nicht mehr wichtig. In dem Moment, in dem er das Buch möglicherweise hätte finden und dessen Inhalt erfahren können, verliert es seinen Reiz und der Protagonist wendet sich wieder dem Bann des Maskenballs zu, der in seiner Rätselhaftigkeit und Phantastik dem konkreten, textuell konservierten und daher potentiell immer zugänglichen Wissen der Bücher im Magazin entgegensteht. Vielleicht ist Davids Desinteresse an dem Buch und damit an eindeutigem, unveränderlichem Wissen also auch als Lust am Phantasieren, am bewussten Erinnerungsverlust oder zumindest dem nur vagen Erinnern zu deuten, das Raum für allerhand Ideen lässt, die Gedächtnislücken zu füllen.

Gerade durch die vielen phantastischen und assoziativ erzählten Passagen, die oft poetische Sprache und die umfassenden Reflexionen des Protagonisten über das Erinnern und das Schreiben handelt es sich bei Den svarta månens år von Ellen Mattson um einen schönen und zugleich ungewöhnlichen Roman. Störend sind leider einige trivial und romantisch verklärend wirkende Reflexionen und Gespräche im Text, etwa wenn die erwähnte Bibliothekarin David erzählt, dass ihr Hund einmal entlaufen und sieben Stunden später wieder zurückgekehrt sei. Er solle deshalb darauf vertrauen, dass das verlorene Buch auftauchen werde, denn „också döda ting har en benägenhet att göra det, sa hon, som flintyxor som pressar sig själva upp ur jorden efter femtusen år och plötsligt ligger framför en på stigen eller skedar som kommer fram när man gräver i komposten. De var aldrig borta på riktigt.“ (S. 62, „auch tote Dinge neigen dazu, das zu tun, sagte sie, wie steinerne Pfeilspitzen, die sich nach fünftausend Jahren selbst aus der Erde pressen und plötzlich vor einem auf dem Weg liegen, oder Löffel, die zum Vorschein kommen, wenn man im Kompost gräbt. Sie waren niemals wirklich weg.“) Auf solche Passagen hätte Mattson verzichten können, doch auch wenn nicht alle Erwartungen erfüllt werden, handelt es sich bei Den svarta månens år zweifellos um ein ungewöhnliches und intensives Leseerlebnis.

Ellen Mattson: Den svarta månens år, Stockholm: Bonnier, 2021.

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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