Landwirtschaft im Fadenkreuz gesellschaftlicher Entwicklungen

Die Zeit der Bauernromane schien vorbei zu sein in unserer globalisierten High-Tech Welt. Nachdem in der skandinavischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts die Landwirtschaft nicht nur ein wichtiges Thema gewesen war, sondern Autoren wie Knut Hamsun oder Martin Andersen Nexø diesem Sujet die Ambivalenzen der Moderne eingeschrieben hatten, war das Landleben in der zweiten Jahrhunderthälfte eher der Idylle vorbehalten. In jüngerer Zeit aber ist im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten um Ökologie, Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit und gesunde Ernährung ein neues Interesse für das Lokale, das Landleben und die Landwirtschaft entstanden. Und da Dänemark traditionell ein Agrarstaat war, ist es nicht verwunderlich, dass hier die Landwirtschaft erneut zum Thema auch der Literatur wird.

Der seit langem etablierte dänische Autor Jens Smærup Sørensen (geb. 1946) hatte schon mit seinem Erfolgsroman Mærkedage (Gedenktage) aus dem Jahr 2007 die Aufmerksamkeit auf die agrikulturelle Entwicklung in Dänemark gelegt. Nun folgt mit Evigt i tiden (Ewig in der Zeit) ein formal sehr interessanter Roman. Wenn auch einzelne Kritiker der Konstruktion des Textes verständnislos gegenüberstehen (Jakob Genz in Berlingske Tidende, 13.8.2023), wird der Roman im dänischen Feuilleton überwiegend gelobt, vor allem wegen seiner sprachlichen Qualitäten. Lars Bukdahl schreibt, Jens Smærup Sørensen sei ”i højt stilistisk humør” (Weekendavisen, 15.9.2023; guter stilistischer Laune), und Erik Skyum Nielsen erfreut sich an „Jens Smærup Sørensens mesterskab […] i evnen til at skildre personer dybt indefra og forestille sig fortidens og fremtidens følelser” (Information, 8.9.2023; Jens Smærup Sørensens meisterlicher Fähigkeit, das tiefe Innere von Personen zu zeigen und sich vergangene und zukünftige Gefühle vorzustellen). Und Martin Gregersen nennt den Roman treffend: ”på én gang herligt traditionel og vildt moderne” (Kristeligt Dagblad, 9.9.2023; gleichzeitig herrlich traditionell und aufregend modern).

Ein Ort – vier Zeiten

Der Ort der Handlung ist das fiktive Dorf Skovby, das sich auf die Gegend zwischen Nibe und Løgstør in Himmerland lokalisieren lässt und den Fixpunkt der weit gespannten Erzählung bietet. Denn die Handlungszeit umfasst markante Stationen einer mehr als 250-jährigen Geschichte. Sie spielt sich auf vier Ebenen ab und gliedert den Roman in drei große historische Kapitel und eine in der nahen Zukunft angesiedelte Rahmenhandlung, die zwischen die Großkapitel geschaltet ist sowie den Roman eröffnet und beschließt. So entfaltet sich ein historischer Bogen, der wichtige Phasen der dänischen Landwirtschaftsgeschichte beleuchtet, die gleichzeitig markante Epochenschwellen dänischer Geschichte ausmachen: die bedeutenden Landreformen in den 1790er Jahren, als im Zuge einer Flurbereinigung die Dorfgemeinschaften zugunsten von individualisierter und neu gegliederter Bodennutzung aufgelöst wurden, die Zeit der Genossenschafts- und Volkshochschulbewegungen und der Produktivitätssteigerung Ende des 19. Jahrhunderts sowie die gegenwärtige Transformation des Agrarsektors, wobei sich eine industrielle und eine ökologisch ausgerichtete Richtung unversöhnlich gegenüberstehen. Durch die Rahmenhandlung, die nach einer nicht definierten (und den handelnden Personen unerklärlichen) Katastrophe spielt und einen zögernden Neubeginn nach Jahren der Dunkelheit, der Verödung des Landes, des Hungers, vieler Todesfälle und zusammengebrochener Kommunikation andeutet, bleibt es offen, ob die gezeigte Entwicklung ein Fortschritts- oder ein Niedergangsmodell abbildet. Die fortschreitende Effizienz- und Ertragssteigerung, die Erhöhung des Wohlstands und die Verbesserung der Lebensbedingungen stehen der zunehmenden Technologisierung und Entfremdung von der Arbeit, der (für Mensch und Tier) ungesunden Massentierhaltung, der Umweltbelastung durch Pestizide, Düngemittel und Gestank sowie dem Beitrag der Agrarwirtschaft zur Klimaerwärmung gegenüber. Wenn auch die Sympathien auf der Seite der nunmehr ökologisch wirtschaftenden Protagonisten liegen, bleibt dennoch unentschieden, welches der aktuell vorherrschenden Landwirtschaftsmodelle sich durchsetzen wird, ebenso wie unklar bleibt, was die offensichtlich globale Katastrophe ausgelöst hat.

Geschichte als Geschichten erzählen

Dieser Ambivalenz wird nicht nur durch die Struktur des Romans Ausdruck gegeben, sondern auch durch die narrative Präsentation. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Familie von Lone und Jakob Gojesen, erzählt wird aber auch von ihren vier Kindern, ihren Bediensteten und ihren Nachbarn sowie diversen anderen Familien aus Skovby. So entsteht ein polyphoner Roman, in dem eine Vielzahl von Stimmen und Meinungen ohne Wertung nebeneinander montiert ist. Eine übergeordnete Erzählebene ist kaum vorhanden, die Narration ist (vor allem im dritten Teil) dialogreich, in erster Linie aber durch wechselnde Fokalisierung auf die Gedankenwelt diverser handelnder Personen charakterisiert. Diese Art der narrativen Präsentation bedeutet auch, dass die historischen Ereignisse nicht aus einer auktorialen Perspektive berichtet werden, sondern nur implizit durch das Figurenbewusstsein gefiltert hervorgehen. Es gibt keine Jahreszahlen oder Nennung von Fakten; die den dänischen Lesenden sicher in groben Zügen bekannten Geschehnisse lassen sich nur aus den Konsequenzen erschließen, die sie für das Leben und Arbeiten der Menschen haben.

Der Clou der Narration ist, dass wir die gleichen (oder dieselben?) Personen auf allen vier Handlungsebenen treffen, wobei sie nur um wenige Jahre gealtert sind: Ein historischer Verlauf von gut 250 Jahren wird mit ca. 30 Jahren im Leben der Menschen analog gesetzt. Damit wird der etwas rätselhafte Romantitel Evigt i tiden auf der Figurenebene umgesetzt: Er deutet auf ein Geschichtsverständnis, das zwar evolutionär, aber nicht teleologisch ausgerichtet ist, das von Veränderung und Entwicklung ausgeht, aber auch Gleichbleibendes annimmt, das menschliches Miteinander sowie familiäre und nachbarschaftliche Konflikte betrifft. Während die Agrarthematik also den Horizont der Handlung ausmacht, sind es Emotionen, Beziehungen und zwischenmenschliche Konflikte, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie entstehen nicht zuletzt, weil die handelnden Personen in ihrer jeweiligen Zeit mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sind, die auf ihr Leben einwirken und die sie bewältigen müssen. Doch Liebe, Stolz, Schuld, Zweifel, Angst und Trauer werden keinesfalls als zeitlos präsentiert, sondern durch die jeweilige historische Situation unterschiedlich kontextualisiert und ausgeprägt. Im 18. Jahrhundert sind es z.B. das lange Leiden und der schwere Tod der alten Mutter, der das Ehepaar Lone und Jakob bewegt, im 19. Jahrhundert ist es die ungewollte Schwangerschaft der Tochter Margrethe, die nicht nur ihrem Vater verborgen bleibt, sondern auch für die Lesenden nie direkt ausgesprochen wird. Auf der Gegenwartsebene dann sind es die sehr unterschiedlichen Lebenswege der vier Kinder, die urbane und globale Milieus in die Handlung integrieren und mit der Tochter Else den Protest gegen die moderne technisierte Landwirtschaft auch politisch artikulieren.

Sprache als Fremdheitsbarriere

Nicht nur strukturell, sondern auch sprachlich gibt sich der Wandel Ausdruck. Denn erzählt wird überwiegend in erlebter Rede und mit ständig wechselnder Fokalisierung aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Menschen des 18., des 19. und des 21. Jahrhunderts sprachlich und gedanklich durch ihre jeweilige Zeit geprägt sind. So wird in den historischen Kapiteln eine ganze Reihe von dialektalen Wörtern verwendet, die aus der Sprache der dänischen Gegenwart verschwunden sind. Entscheidend aber ist, dass nicht jeweils einleitend explizit markiert wird, in wessen erlebte Rede und Gedanken wir als Lesende gerade eintauchen. Dadurch fügt der Roman eine gewisse Fremdheitsbarriere ein, die die historischen Personen in den beiden ersten Großkapiteln auch als solche hervortreten lassen. Eine besonders lustige Passage führt uns in die Gedankenwelt des geisteskranken Königs Christian VII, der zu Besuch nach Skovby kommt und für seine Landreformen verehrt werden will:

„Men så sætter jeg mig. De beder mig så mindeligt, jeg er nådig. Af Guds nåde, det forpligter, hvor meget jeg end foretrækker at vandre. Rundt om bordet, med og mod uret, med henblik på at tjene rigets interesser går jeg af og til ned på knæ. Det er af ikke ringe betydning at anskue dem fra enhver vinkel. Jeg lægger mig på gulvet og betragter deres hvide lægge.” (40)

„Aber ich setze mich. Sie bitten mich so inständig, ich bin gnädig. Von Gottes Gnaden, die verpflichtet, wiewohl ich es auch vorziehe zu wandern. Um den Tisch herum, mit und gegen die Uhr, im Hinblick darauf, den Interessen des Reiches zu dienen, gehe ich ab und zu in die Knie. Es ist von nicht geringer Bedeutung, sie aus jedem Winkel anzuschauen. Ich lege mich auf den Boden und betrachte ihre weißen Beine.“

Meist aber sind es die Protagonisten Jakob und Lone, deren Perspektiven, Gefühle und Überlegungen vermittelt werden. So steht Jakob dem Wunsch seiner Frau, eigenständig ein Stück des Ackers umzupflügen, verständnislos gegenüber, doch sie setzt sich durch und er muss mit ansehen, wie sie sich tapfer quält bei der Urbarmachung der Heide:

„Selvfølgelig havde han ikke tilladt hende at trække af sted med studene. Hun kunne følge med ham hvis hun ikke havde andet at tage sig til. Hvis der ikke var nok at gøre med husholdningen, børnene, med at koge og bage, vaske, salte og sylte, og lappe og hvad hun ellers lavede. Hun kunne få lov til at følge med ham ud på heden. Ja, hun kunne da, hvis det endlig skulle være, også godt få lov til at prøve sig, hvis det virkelig skulle være dét hun var så opsat efter og så forhippet på, og var han bange for det, for noget som helst, nej sgu da, værsgo, ploven er din! Så længe hun orkede. Skulle blive sjovt at se.”

„Selbstverständlich hatte er ihr nicht erlaubt, mit den Ochsen loszuziehen. Sie konnte mit ihm kommen, wenn sie nichts anderes zu tun hatte. Wenn da nicht genug zu tun war mit dem Haushalt, mit den Kindern, mit dem Kochen und Backen, Waschen, Salzen und Einkochen und Flicken und was sie sonst so machte. Sie durfte doch mit ihm zusammen auf die Heide gehen. Ja, sie konnte doch, wenn es unbedingt sein musste, es auch selbst mal versuchen, wenn es wirklich das war, was sie unbedingt wollte und so wild drauf war, und hatte er Angst davor, vor irgendwas, nein verdammt, bitte, der Pflug gehört dir! So lange wie sie es schaffte. Würde lustig aussehen.“

Ein Ehekonflikt über weibliches Emanzipationsstreben im bäuerlichen 18. Jahrhundert zeigt „das Ewige in der Zeit“, wie der Titel des Romans programmatisch ankündigt. Die Figuren sind Repräsentanten ihres Standes und ihrer Zeit, aber auch durch individuelle Schwächen und Konflikte als Charaktere gezeichnet. Diese erzählerischen Mittel und die komplexe Struktur machen einen vielschichtigen Roman aus, der mehr ist als ein ökokritischer Debattenbeitrag: ein Regionalroman mit repräsentativem Anspruch, ein historischer und ein Gegenwartsroman über die gesellschaftliche Bedeutung und die aktuelle Problematik der Landwirtschaft, aber auch ein Roman mit dystopischen Zügen, der vor den Gefahren der aktuellen Entwicklung warnt. Unentschieden bleibt, wie und ob die globale Katastrophe der Rahmenhandlung mit der Entwicklung der Landwirtschaft zusammenhängt. In jedem Fall tragen die erzählerischen Mittel dazu bei, die Landwirtschaft als im Fadenkreuz der gesellschaftlichen Entwicklung stehend hervortreten zu lassen.

Jens Smærup Sørensen: Evigt i tiden. Roman, København: Grif, 2023.

(Annegret Heitmann, LMU München)

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