Wer bin ich und wenn ja, was ist mein Leben?

In einem Video auf Youtube kann man sehen, wie Jonas Hassen Khemiri scherzhaft bemerkt, er habe mit seinem neuen Roman ein lang ersehntes Ziel erreicht: ein so dickes Buch zu schreiben, dass der Titel horizontal auf den Buchrücken gesetzt werden kann. Khemiris Roman Systrarna (Die Schwestern) über die drei Schwestern Anastasia, Evelyn und Ina nimmt mit seinen gut 700 Seiten im Bücherregal dementsprechend einigen Raum ein, ist aber auch in manch anderer Hinsicht ein großer Roman. Mit stilistisch eleganten, manchmal über fast eine Seite dahinfließenden Sätzen breitet Khemiri in 137 Kapiteln ein 35 Jahre und drei Kontinente umspannendes Familienpanorama aus, das sich vielleicht am besten als Mashup aus Paul Austers postmoderner New-York-Trilogie und den Monumentalromanen des Russischen Realismus charakterisieren lässt.

Aus dem breitgefächerten intertextuellen Netzwerk von Systrarna ragt allerdings ein Text heraus, der sich schon wegen seines Genres keinem der beiden Pole so recht zuordnen lässt: Anton Tschechows im Titel des Romans anklingendes Drama Drei Schwestern. Der Klassiker, der mit seiner ungewöhnlichen Dramaturgie als einer der innovativsten europäischen Theatertexte um 1900 gilt, wird im Roman selbst an zentraler Stelle von einer der Schwestern, Evelyn, zur Aufführung gebracht. Verbindungen zu Drei Schwestern lassen sich aber auch abseits davon viele herstellen, von der Figurenkonstellation bis zu der prominenten Position des abwesenden Vaters, von den Motiven der Sehnsucht und des Wartens auf ein wirkliches Ankommen bis zum Ringen um eine eigene Handlungsmacht. Noch deutlicher jedoch als inhaltlich scheint das Theaterstück Khemiri formal inspiriert zu haben. Denn er überträgt Tschechows Technik des undramatischen Dramas ohne Zielspannung gewissermaßen auf den Roman. Viele Handlungsstränge werden in Systrarna lediglich angerissen, verlaufen oder überlappen sich auf ähnlich unzusammenhängende Weise wie Tschechows lange, häufig ins kommunikative Nichts führende Monologe. So entsteht weniger eine lineare Geschichte als ein flächiges Panorama aus oft nur lose verbundenen und mit großem räumlichen oder zeitlichen Abstand stattfindenden Episoden ohne tatsächlichen Fluchtpunkt. Dieses Fehlen einer eigenen zusammenhängenden Lebensgeschichte wird im Roman selbst regelmäßig thematisiert und dabei von den Figuren stets als Manko empfunden. So heißt es z.B. über das Leben der jüngsten der drei Schwestern Anastasia:

„Om allt hade varit en bok så hade saker kunnat göra mer logiska, språkkursen i Tunis hade lett till något konkret, något mer än ett krossat hjärta och några snabbt bortglömda verbböjningar, något mer än ett besök hos ett medium som hon aldrig återvände till. Men Anastasias liv var ingen bok, långt därifrån, hennes liv var bara ett antal slumpmässigt sammansatta scener och ibland, vid väldigt sällsynta tillfällen, hade hon känt att allt hade mening, att hennes liv hade en plats i ett större narrativ, att hon hängde ihop med det förflutna och den ofrånkomliga framtiden, men sen när drogerna lämnade kroppen var hon tillbaka i sin egen kropp och alltings slumpmässighet.“ (564)

(Wenn das Ganze ein Buch gewesen wäre, so hätten die Dinge mehr Sinn ergeben, der Sprachkurs in Tunis hätte zu etwas Konkretem geführt, zu mehr als einem gebrochenen Herzen und ein paar schnell wieder vergessenen Konjugationen, zu mehr als einem Besuch bei einem Medium, das sie niemals mehr aufsuchen würde. Aber Anastasias Leben war kein Buch, ganz im Gegenteil, ihr Leben bestand nur aus einer Reihe zufällig zusammengesetzter Szenen, und manchmal, ganz selten, hatte sie das Gefühl, als hätte alles hätte einen Sinn, als wäre ihr Leben Teil einer größeren Erzählung, als wäre sie mit der Vergangenheit und der unvermeidbaren Zukunft verbunden, aber später, wenn die Drogen den Körper wieder verließen, war sie zurück in ihrem eigen Körper und der allgemeinen Zufälligkeit.)

Große Fragen

Hilft der Verweis auf Tschechow dabei, den Roman formal zu fassen, bleibt eine kurze und dem ausufernden Text gerecht werdende inhaltliche Annäherung kompliziert. Im Laufe des Romans treten so viele Figuren auf, die schnell wieder verschwinden, verlaufen so viele Nebenhandlungen und Konflikte im Sande, geschehen so viele unwahrscheinliche und absurde Dinge, dass es schwerfällt, einen roten Faden auszumachen. Abstrakt, allerdings auch unspezifisch formuliert, ließe sich vielleicht sagen, dass es in Systrarna um die Zeit geht und um das Gefühl, dass sie mit fortschreitendem Alter immer schneller vergeht. Daran anknüpfend stellt der Text fast zwangsläufig die großen Fragen nach der Herkunft und Bestimmung des Lebenswegs, nach Sinnstiftung und (erreichten) Zielen.

Solche anthropologischen Grundfragen bergen immer die Gefahr, in Klischees und Banalitäten zu münden. In Systrarna geschieht dies zum Glück nicht. Sie werden nie platt oder schwer, sondern stets mit einer gewissen Leichtigkeit und Humor verhandelt, ohne dass der Text seine Tiefsinnigkeit verlieren würde. Dies gelingt auch deshalb so vorzüglich, weil der Roman, wie bei Khemiri üblich, eine feine, zum Ende verstärkt in den Vordergrund drängende selbstreflexive Ebene enthält, die alle Antworten und Erkenntnisse sofort wieder in Zweifel zieht. Auf ihr spiegeln sich die existenziellen Fragen der Handlung als metapoetische Diskussion. Wie konstruiert sich das eigene Ich durch Sprache? Ist es angesichts der Undurchdringlichkeit des eigenen Ichs und Schicksal nicht müßig, das Leben als (logische) Erzählung zu begreifen? Und wenn man es trotzdem tut: Wo endet meine und wo beginnen fremde Lebensgeschichten, wie beeinflussen und verändern sie sich je nach Perspektive? Und wer ist überhaupt dafür geeignet, eine solche Geschichte zu entwerfen und zu erzählen?

Der Fluch

Wechselt man von diesem abstrakten Niveau auf die Plotebene, scheint es sinnvoll, zunächst den Moment zu suchen, an dem die Geschichte um die drei Mikkolaschwestern einsetzt. Eine Aufgabe, die in diesem Text mit seinen vielen Rückblenden, Vorausschauen und parallelen Handlungen gar nicht so leicht zu bewältigen ist. Getreu der Tatsache, dass sich kausallogische Verbindungen oft erst im Nachhinein erkennen lassen, bringt das Ende des Romans zumindest etwas Licht in das verwirrende Dunkel. Dort wird erzählt, dass die Geschichte mit Selima, der Tante der Schwestern, und einem Fluch beginnt: Das, was ihr am meisten liebt, wird euch genommen werden.

Auch wenn das Romanende anderes andeutet, taucht der von Selima ausgesprochene Fluch im Verlauf der Ereignisse allerdings zu selten auf, um als Leitmotiv oder handlungstreibendes Element dienen zu können. Wenn man möchte, kann man ihn aber zumindest als Hintergrundrauschen wahrnehmen, zum Beispiel, wenn die Ehen von Evelyn und später auch von Ina scheitern, wenn Anastasia sich wegen einer Kleinigkeit von der Liebe ihres Lebens Daniela verabschiedet, wenn die Mutter der Mikkolaschwestern stirbt, oder wenn sich die drei selbst für lange Zeit aus den Augen verlieren und es ihnen misslingt, die Wurzeln ihrer Familiengeschichte in New York zu recherchieren. Aber auch in Randepisoden, z.B. wenn Anastasias Basketballteam trotz ihrer Klasse stets im entscheidenden Moment versagt, wenn Evelyn durch ihre Schauspielausbildung, die sie erst nicht wollte, und dann nicht beendet, ihre beste Freundin verliert, oder wenn Ina trotz ihrer Disziplin und ihres Durchhaltevermögens das Glück in ihrem Beruf verwehrt bleibt.

Verflucht hat Selima ihre Schwester, als diese in den 1970er Jahren ihre Identität gestohlen und aus Tunesien nach Europa aufgebrochen ist, um dort als falsche Selima das Leben zu führen, das die echte Selima immer hatte führen wollen. Vom Ende des Romans aus gedacht steht also am Anfang eine Migrationsgeschichte, die allerdings (wegen des Fluches?) anders verläuft als erwartet. Die falsche Selima findet zwar eine neue Heimat in Schweden, zieht in ein Wohnviertel des schwedischen Millionenprojekts, heiratet, bekommt drei Töchter, aber sie stürzt auch in zahlreiche psychische Krisen, findet in Schweden nie wirklich eine Heimat und verliert zudem ihren Mann. Und auch zu Ina, Evelyn und Anastasia gestaltet sich ihr Verhältnis bis zu ihrem Tod, ungefähr in der Mitte des Romans, äußerst kompliziert, ist gleichzeitig geprägt von tiefer Zuneigung und bitteren Vorwürfen. Blickt man genau hin, übernimmt der Fluch in diesem im Großen und Ganzen unglücklichen Leben lediglich den Platz einer Erklärungsstrategie. Er mystifiziert die Schicksalsschläge und kaschiert auf diese Art sowohl die eigenen Fehler wie auch das Versagen der schwedischen Migrationspolitik und das Scheitern des Millionenprojekts.

Postmodernes Verwirrspiel

Am Anfang steht aber auch, so erzählt es wiederum der Beginn des Romans, eine Party am Silvesterabend des Jahres 1999: „And so it was told att historien om Mikkolasystrarna började den sista december, på milleniets sista dag” (11; And so it was told, dass die Geschichte der Mikkolaschwestern am letzten Dezember, am letzten Tag des Jahrtausends begann), lautet der erste märchenhafte Teilsatz des Romans, von dem aus sich das Geflecht unterschiedlicher Lebensgeschichten entspinnt. Von hier aus betrachtet werden Roman und Handlung weniger durch den Fluch als durch eine vierte Hauptfigur zusammengehalten: Jonas Khemiri, der sich um die Leben der drei Schwestern herum und in sie hineinschreibt und dabei zugleich seine eigene Geschichte erzählt.

Das Leben treibt Jonas nicht nur zu denselben Orten wie die Schwestern, nach New York, zum Sprachkurs nach Tunesien, in eine deutsche Kleinstadt, wie sie sind auch er und seine zwei Brüder als Halbtunesier in Drakenberg im Stockholmer Stadtteil Södermalm aufgewachsen. Je mehr sich die Prallelen und Querverbindungen zwischen Jonas’ Leben und dem der Schwestern häufen, desto merkwürdiger und unwahrscheinlicher wirken sie. Jonas als Erzähler scheint dies selbst zu bemerken, wenn er sie gegen Ende des Romans sogar noch auf biologische Füße stellt und andeutet, sein Vater habe eine Beziehung mit der Mutter der Mikkolaschwestern gehabt und sie könnten Halbgeschwister sein.

Abseits seines Lebens mit, für und durch die Schwestern führt Jonas auch ein Leben als Schriftsteller, das in groben Zügen Khemiris eigener Karriere gleicht. So erfahren wir z.B. von seinem ersten großen Erfolg im Jahr 2003 mit Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker), davon, dass er verschiedene, erfolgreiche Theaterstücke geschrieben hat, 2015 mit Allt jag inte minns (Alles was ich nicht erinnere) einen teilweise in Berlin spielenden Roman veröffentlicht hat und im Jahr 2021, ein Jahr verspätet durch die Auswirkungen der Coronapandemie, mit seiner Familie nach New York zog, um dort als Cullman Fellow in der renommierten New York Public Library einen Roman zu schreiben, nämlich eben jenen monumentalen Roman Systrarna:

„Jag skriver dessa ord i januari 2022, jag sitter i mitt rum på New York Public Library, en ny våg av covid har lett till nya restriktioner, alla har fortfarande munskydd, i tunnelbanan, inomhus, i skolan. Biblioteket är stängt för allmänheten idag, det är bara jag och några säkerhetsvakter här.“ (577)

(Ich schreibe diese Worte im Januar 2022, ich sitze in meinem Zimmer in der New York Public Library, eine neue Coronawelle hat zu neuen Restriktionen geführt, alle tragen immer noch Masken, in der U-Bahn, in Innenräumen, in der Schule. Die Bibliothek ist heute für die Allgemeinheit geschlossen, es sind nur ich und einige Sicherheitsleute hier.)

Diese in den Roman eingewobenen biografischen Elemente überziehen den übrigen Text mit einem Schleier der Unsicherheit, werfen die Fragen auf, was ist Khemiri tatsächlich passiert und was ist nur erfunden. Verstärkt wird diese provokative Situation für den Leser noch dadurch, dass Jonas auch private Dinge verrät, die nicht immer so leicht zu verifizieren sind wie die Meilensteine von Khemiris Autorenkarriere. So berichtet Jonas z.B., wie er seine Frau Diane kennenlernte, von psychischen Problemen, die ihn in eine Therapie gezwungen haben, vom frühen Tod seiner besten Freundin, davon, dass er Vater zweier Söhne und Bruder eines Schauspielers ist, vom komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, etc.

Seinen Höhepunkt findet das Spiel mit dem Rezeptionsverhalten der Leser im vorletzten Teil des Romans. Hier kommt es in New York zu einer Art Showdown zwischen Jonas und Evelyn, die im Laufe des Romans mehr und mehr ins Zentrum der Handlung drängt. Mit dieser zunehmenden Konzentration auf Evelyn etabliert sich eine neue oder nun zumindest deutlicher sichtbare auktoriale Erzählinstanz, die sich zwischen den realen Autor Jonas Hassen Khemiri und den fiktiven schreibenden Ich-Erzähler Jonas schiebt. Aus dem berichtenden Ich wird nun plötzlich ein recht aufdringliches Er, das Evelyn mit E-Mails bedrängt:

„Den 20 juni 2020 fick Evelyn ett underligt mail från en man som hon hade varit ytligt bekant med när hon var barn, han påstod att de var gamla vänner, han berättade att han hade ägnat hela sitt liv åt att försöka förstå sitt liv genom Evelyn och hennes systrar […]“ (631).

(Am 20. Juni 2020 bekam Evelyn eine merkwürdige E-Mail von einem Mann, mit dem sie als Kind flüchtig bekannt gewesen war, er behauptete, sie wären alt Freunde, er erzählte, er habe sein ganzes Leben damit verbracht, sein Leben durch das von Evelyn und ihren Schwestern zu verstehen […])

Dieser erzählerische Perspektiv- und Autoritätswechsel hat für Jonas wie für die Leser entscheidende Konsequenzen. Denn er stellt innerhalb der Diegese den Wahrheitsgehalt des bisher Gelesenen und speziell die von Jonas stets betonte enge Beziehung zu Evelyn in Frage. Glaubt man Evelyn, so entstammt Vieles, was Jonas über sie erzählt, nur Jonas’ Fantasie:

„Han tar det som ett skämt, men hon hade inte menat det som ett skämt. Istället börjar han prata om den gången när de såg ett Jas-plan krascha på Långholmen. Hon skakar på huvudet. / Inte en chans, säger hon. Det här minns jag tydligt. Jag var på Långholmen själv. Och sen skällde Ina ut mig för att jag hade lovat att stå på andra sidan Västerbron. / Jag var också där, säger han. / Det kanske du var, men vi var inte där ihop. Och om du var där såg du mig på avstånd och inbillade dig att du var där med mig. Det kanske är det som du har gjort hela livet, tittat på oss från utsidan och hoppats att du var med oss så mycket att det blev sant.“ (697)

(Er fasst das als Scherz auf, aber sie hat das nicht als Scherz gemeint. Stattdessen beginnt er davon zu reden, wie sie einmal einen Jetabsturz auf Långholmen gesehen hätten. Sie schüttelt den Kopf. / Keine Chance, sagt sie. Daran erinnere ich mich deutlich. Ich war selbst auf Långholmen. Und später schimpfte Ina mit mir, weil ich versprochen hatte, auf der anderen Seite der Västerbron zu stehen. / Ich war auch da, sagt er. / Vielleicht warst du das, aber wir waren da nicht zusammen. Wenn du da gewesen bist, dann hast du mich von weitem gesehen und dir eingebildet, dass du mit mir zusammen da wärst. Vielleicht hast du das dein ganzes Leben getan, uns von außen beobachtet und gehofft, dass du bei uns wärst, so sehr, dass es wahr wurde.)

Das, was innerhalb der Diegese wahr und was nur erfunden ist, bleibt so bis zum Ende des Romans zweifelhaft. Trotzdem bringt der letzte Teil des Romans und die enger werdende Beziehung zwischen Jonas und Evelyn etwas Klarheit in das Verwirrspiel, eine Klarheit allerdings, die nur innerhalb der Fiktion gilt und so die Möbiusschleife des schreibenden geschriebenen Ichs noch enger zieht. Die heterogene Form des Romans mit seinen vielen losen Enden wird innerhalb der Diegese nämlich als ein von Jonas vervollständigtes Monologprojekt von Evelyn erklärt, in dem sie zunächst einfach ihre Familiengeschichte erzählen wollte, das sich aber mit der Zeit verändert hat:

„Först ville jag berätta min historia, säger hon. Sen blev min historia kopplad till mina systrars historia, och våra föräldrars historia, och sen tänkte jag att det skulle handla om förbannelsen, och sen skyskraporna och sen förstod jag att hela monologen måste kretsa kring tid, så nu håller jag på att strukturera om allt material i sju delar, och varje del täcker en kortare och kortare tidsperiod, ett år ned till en minut, målet är att monologen ska reflektera känslan av att tiden går snabbare och snabbare när vi åldras.“ (699)

(Zuerst will ich meine Geschichte erzählen, sagt sie. Dann wird meine Geschichte mit den Geschichten meiner Schwestern verbunden, und mit der Geschichte unserer Eltern, und dann habe ich gedacht, dass es um den Fluch gehen müsste, und dann die Skyscraper, und dann verstand ich, dass der ganze Monolog um die Zeit kreisen musste, und jetzt strukturiere ich das ganze Material in sieben Teile um, und jeder Teil deckt eine kürzere Zeitspanne ab, von einem Jahr bis zu einer Minute, der Monolog soll das Gefühl reflektieren, dass die Zeit schneller und schneller vergeht, wenn wir altern.)

Jonas hat diese Form, das zeigt der fertige Roman Systrarna, übernommen oder, auch das deutet Evelyn an, gestohlen und zu eigen gemacht – genauso wie er sich das Leben der Schwestern zu eigen gemacht und versucht hat, sich in die Leben der Schwestern hineinzuschreiben und Wände zwischen Realität und Fantasie einzureißen. Dass durch diese Übernahme zwangsläufig eine andere Geschichte der Mikkolaschwestern entsteht, als sie Evelyn erzählen wollte, gesteht auch Jonas ein: „texten handlar ju mer om min bild av er än om era riktiga jag, säger han.“ (709; Der Text handelt eben mehr von einem Bild von euch als von euren richtigen Ichs, sagt er).

Als würde in diesem großen, virtuosen Roman nicht schon genug verhandelt, schreibt sich Khemiri mit dieser Frage nach den Rechten einer ausgedachten Figur auf ironische Weise in die typischen Debatten der Migrations- und Autofiktionsliteratur um Repräsentation und Persönlichkeitsrechte ein. Anders als andere sehr erfolgreiche skandinavische Autorinnen und Autoren der letzten Jahre diskutiert Khemiri diese Fragen allerdings in einem für ihn typischen spielerischen Rahmen mit vielen doppelten Böden. Und das gelingt ihm auch noch auf eine so elegante und feinfühlige Weise, dass der Text trotz aller postmoderner Verschachtelungen pure Unterhaltung und jede Menge Lesevergnügen bietet. Kurz, Khemiri ist mit Systrarna ein Roman gelungen, dem man gerne einen größeren Platz im Bücherregal einräumt.

(Patrick Ledderose, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Über Existenzkrisen und die Farbe des Erinnerns

2019 wurde die schwedische Autorin Ellen Mattson, die bereits seit Anfang der 1990er Jahre fiktionale Literatur schreibt, Mitglied der Schwedischen Akademie. Den svarta månens år (2021, Das Jahr des schwarzen Mondes) ist nun der erste Roman seit Übernahme der Position und entsprechend hoch sind vielleicht bei vielen die Erwartungen. Er handelt von David Svarthed, einem Mann mittleren Alters und Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität, der allerdings infolge einer Suspension wegen Fehlverhaltens und einer Kopfverletzung nach einem Unfall nicht mehr arbeitet. Der knapp 200 Seiten lange Roman wurde von den Rezensent*innen zwar hauptsächlich positiv aufgenommen, wegen der etwas zerfahrenen Plotstruktur teils aber auch kritisiert.

Insbesondere zu Beginn des Textes kommt der Universität eine gewichtige Rolle zu: Neben Fragen nach dem richtigen sozialen Umgang mit Studierenden werden die Bedingungen wissenschaftlichen Schreibens, der Schwund an Immatrikulationen in den Geisteswissenschaften und eine Hinwendung derselben zu den Digital Humanities thematisiert. Zwar gewinnt Den svarta månens år durch diese hochschulpolitischen Themen auch eine gesellschaftsengagierte Dimension, hauptsächlich handelt der Text jedoch von einer individuellen und existentiellen Krise des Protagonisten, die eng mit seinem Gesundheitszustand zusammenhängt.

Erschütterungen

Das zentrale Ereignis im Roman ist ein Sturz gleich am Anfang der Handlung: Auf dem vereisten Bürgersteig rutscht David aus, fällt, verletzt sich am Kopf und erleidet einen Gedächtnisverlust. Darüber hinaus beginnt er zu halluzinieren, stellt sich etwa Vögel und Fischschwärme vor, die sein Sehvermögen beeinträchtigen, und leidet an Schlaflosigkeit sowie an Sprachverwirrungen, die sich auch in der formalen Gestaltung des Romans kenntlich machen, denn der Text erzählt in weiten Teilen stark assoziativ. Davids Halluzinationen und der titelgebende dunkle Mond, zu dem er im Laufe der Handlung immer wieder hinaufblickt, bilden dabei Ankerpunkte in einer Erzählung, deren Plotstruktur – und hier kann den oben erwähnten kritischen Rezensionen widersprochen werden – gerade durch die Parallelisierung von Gedächtnisverlust und sprunghafter Erzähltechnik besticht.

Der Text beginnt als eine Art Kriminalroman, da der Protagonist bei seinem Sturz ein Buch verliert und annimmt, dass es ihm gestohlen wurde – das vermuten auch zwei Jugendliche, die ihm nach dem Sturz aufhelfen und gesehen haben wollen, dass er nicht von selbst gefallen, sondern von einem Paar niedergeschlagen wurde. Zusammen mit den beiden Jugendlichen macht David sich auf die Suche nach dem Buch und dem Paar, das den Jugendlichen durch eine außergewöhnliche Körpergröße aufgefallen ist. Durch einige zunächst etwas absurd und wenig realistisch wirkende Zufälle erhält der Protagonist Hinweise darauf, um wen es sich bei dem Paar handeln könnte. Diese scheinbaren Deus-ex-machina-Lösungen verfolgt er jedoch auffälligerweise nie, im weiteren Verlauf besteht der Roman stattdessen vielmehr aus einer Schilderung seines Alltags und psychischen Verfalls. Dabei wird das Genre des Krimis in einem Gespräch, das der Protagonist mit einer Bibliothekarin führt, aufgegriffen und poetologisch reflektiert, indem die Bibliothekarin kritisiert, dass der Handlungsverlauf von Krimis oft voraussehbar sei und die menschliche Psyche darin unterkomplex dargestellt werde. Auf diese Weise hebelt Mattson in ihrem Roman also typische Erzählstrukturen des Krimis aus, ironisiert sie und verweigert sich der Einordnung in das Genre.

Das Buch, das David sucht, wird im weiteren Verlauf als sprachliches und visuelles Zeichen lesbar, das auf kein spezifisches Wissen verweist, sondern mit diversen, wechselnden Bedeutungen geladen erscheint. Wegen seiner Gedächtnislücken erinnert David sich nämlich nicht an den Inhalt, wohl aber an den ansehnlichen roten Einband des Buches mit goldenen Verzierungen. In seiner Schlaflosigkeit und Sprachverwirrung führt ihn die Farbe Rot assoziativ in seine Kindheit. Als er sich ins Bett legt, erscheinen ihm im Dämmerzustand Bilder und Szenen vor dem inneren Auge:

Hans ögon fylldes med dödsdagg som också rann genom munnen och näsan, men en kraftig snarkning ryckte upp honom, bar bort honom i ett gudomligt töcken, det lyste något rött på trädgårdsbordet eller passerade kanske bara i form av ett klädesplagg snabbt förbi den smala dörrspringan, han hörde de torra kloten smälla och det var sant, de hade spelat krocket den dagen. Det kunde också vara en tillbringare med saft som samlade ljuset på trädgårdsbordet under hagtornsträdet.

Hade mamma något rött, det skulle han fråga Therese i morgon och hon skulle veta, hon mindes sådant han glömde, men det var inte nostalgi, hon hade bara ett mer utpräglat minne för detaljer. (S. 66)

Seine Augen füllten sich mit einem Todestau, der auch durch Mund und Nase rann, doch ein lautes Schnarchen ließ ihn auffahren, trug ihn fort in einen göttlichen Nebel, etwas Rotes leuchtete auf dem Gartentisch auf oder huschte vielleicht nur in Form eines Kleidungsstücks am schmalen Türschlitz vorbei, er hörte die trockenen Kugeln aneinanderprallen und es war richtig, sie hatten an diesem Tag Krocket gespielt. Es konnte auch eine Kanne mit Saft gewesen sein, die das Licht auf dem Gartentisch unter dem Weißdorn sammelte.

Hatte Mutter etwas Rotes, das wollte er morgen Therese fragen und sie würde es wissen, sie erinnerte sich an das, was er vergaß, doch nicht aus Nostalgie, sie hatte einfach ein besser ausgeprägtes Gedächtnis für Details.

Therese mit dem scharfen Verstand, die auf diese Weise auch als Kontrastfigur zum Protagonisten gelesen werden kann, ist seine Schwester. Diese jedoch kann ihm kaum weiterhelfen. Er selbst ist es, der, nachdem er einmal doch länger schlafen kann, die prinzipielle Mehrdeutigkeit der Farbe erkennt:

När han vaknade hade det börjat mörkna och han visste att det röda inte fanns och aldrig hade funnits, det som fanns var en isfläck som han halkat på utanför kaféet och en glömska som han kallat röd fast den lika gärna kunde kallas något annat, en saknad som kunde bero på vad som helst i det förflutna: en borttappad leksak eller en solnedgång i en gammal bilderbok eller känslan av övergivenhet när någon gick ifrån honom på kvällen. Han gav det namnet röd och lät det vaktas av två långa personer, men de fanns inte heller, det som fanns var isfläcken, marken där han föll, skakningen i hans hjärna [.] (S. 155)

Als er aufwachte wurde es allmählich dunkel und er wusste, dass es das Rote nicht gab und nie gegeben hat, das was existierte war Glatteis vor dem Café, wo er ausgerutscht war, und ein Erinnerungsverlust, den er als Rot bezeichnete, obwohl er genauso gut anders hätte heißen können, eine Sehnsucht, die auf allem Möglichen aus der Vergangenheit beruhen konnte: verlorenem Spielzeug, einem Sonnenuntergang in einem alten Bilderbuch oder dem Gefühl der Trennung, wenn jemand ihn abends verließ. Er gab dem den Namen Rot und ließ es von zwei großen Menschen überwachen, doch auch sie gab es nicht, sondern nur das Glatteis, die Stelle an der er fiel, die Erschütterung in seinem Hirn [.]

Medien des Erinnerns

Das Erinnern ist grundsätzlich ein zentrales Thema im Roman. Immer wieder schwanken die Reflexionen des Protagonisten zwischen dem Willen, sich selbständig an Vergangenes erinnern zu wollen, und der sich aufdrängenden, vom Protagonisten aber gern verdrängten Notwendigkeit, sich im Hier und Jetzt wegen des Hirnschadens behandeln lassen zu müssen. So werden zum einen die zeitliche Dimension des Erinnerns betont, zum anderen aber auch Abhängigkeitsverhältnisse und Beziehungen des Protagonisten zu anderen Figuren – den beiden Jugendlichen, die ihm bei der Suche nach dem großen Paar helfen, der Schwester oder etwa dem Arzt, der ihn behandelt.

Dabei geht es im Roman um ganz verschiedene Aspekte des Erinnerns. Kurz nachdem er an einem Hafen nach Hinweisen auf das erwähnte Paar sucht, diese Suche nur wenig später aber aufgrund der Kälte und der Nässe beendet, reflektiert der Protagonist etwa über die Bedingungen des Erinnerns: Ihm fällt auf, dass die wiederholte und intensive Beschäftigung mit einem spezifischen Ereignis hilfreich für ein langes Erinnern daran ist und dass seine eigene Vergesslichkeit auch darin begründet liegt, sich dem Erlebten gedanklich zu selten zu widmen.

Mit einer solchen Kognitionsarbeit verbunden ist im Roman auch das kulturelle Erinnern, das etwa thematisiert wird, wenn der Protagonist eine Veranstaltung zu einem wiederentdeckten Schiffswrack besucht oder wenn er bedauert, dass viele großartige Texte der Weltliteratur heute kaum mehr rezipiert werden. Spätestens als David einmal auf alte schwedische Gedichte stößt, die er aus seiner eigenen Schulzeit kennt und kurzerhand beschließt, die – noch immer lebende – Autorin zu besuchen, wird das Erinnern außerdem im Kontext des Alterns thematisiert. Die etwas dement und überfordert wirkende Poetin kann ihm auf seine Frage, weshalb sie aufgehört habe zu schreiben, schlichtweg nicht antworten. Sie redet teils wirr, kann die Realität nicht klar von ihrer Vorstellung trennen – und unterscheidet sich in ihrem Verhalten auf diese Weise nur marginal von David selbst.

Hier, insbesondere aber noch einmal in einer rätselhaften Passage zum Ende des Romans, wird die in Den svarta månens år immer wieder angedeutete Verschränkung von Erinnern, Schreiben und Literatur deutlich. Um das rote Buch doch noch zu finden, schleicht sich der Protagonist an einem Abend in das Magazin der Bibliothek, da er vermutet, es sei ihm vielleicht doch nicht beim Sturz abhandengekommen, sondern er habe es zuvor schon versehentlich gemeinsam mit geliehenen Büchern in den Rückgabekasten der Bibliothek geworfen. Im Magazin, das deutlich größer ist als von ihm erwartet, trifft er überraschenderweise auf verkleidete Besucher*innen eines – vermutlich von ihm imaginierten – Maskenballs. Die Atmosphäre dieser ausgelassenen Feier bewirkt bei David allerdings eine Zerstreuung – ein wenig wie Goethes Faust in den Walpurgisnachtszenen erscheint er verzaubert von dem traumartigen Geschehen und abgelenkt von seinem Vorhaben. Ob er das Buch findet, bleibt so auch unklar – ihm fällt eine Leerstelle in einem Regal auf; das Buch, das zuvor dort stand, wird während des Balls von einem Praktikanten gelesen, erfährt er etwas später am selben Abend. Da ist es ihm jedoch schlicht nicht mehr wichtig. In dem Moment, in dem er das Buch möglicherweise hätte finden und dessen Inhalt erfahren können, verliert es seinen Reiz und der Protagonist wendet sich wieder dem Bann des Maskenballs zu, der in seiner Rätselhaftigkeit und Phantastik dem konkreten, textuell konservierten und daher potentiell immer zugänglichen Wissen der Bücher im Magazin entgegensteht. Vielleicht ist Davids Desinteresse an dem Buch und damit an eindeutigem, unveränderlichem Wissen also auch als Lust am Phantasieren, am bewussten Erinnerungsverlust oder zumindest dem nur vagen Erinnern zu deuten, das Raum für allerhand Ideen lässt, die Gedächtnislücken zu füllen.

Gerade durch die vielen phantastischen und assoziativ erzählten Passagen, die oft poetische Sprache und die umfassenden Reflexionen des Protagonisten über das Erinnern und das Schreiben handelt es sich bei Den svarta månens år von Ellen Mattson um einen schönen und zugleich ungewöhnlichen Roman. Störend sind leider einige trivial und romantisch verklärend wirkende Reflexionen und Gespräche im Text, etwa wenn die erwähnte Bibliothekarin David erzählt, dass ihr Hund einmal entlaufen und sieben Stunden später wieder zurückgekehrt sei. Er solle deshalb darauf vertrauen, dass das verlorene Buch auftauchen werde, denn „också döda ting har en benägenhet att göra det, sa hon, som flintyxor som pressar sig själva upp ur jorden efter femtusen år och plötsligt ligger framför en på stigen eller skedar som kommer fram när man gräver i komposten. De var aldrig borta på riktigt.“ (S. 62, „auch tote Dinge neigen dazu, das zu tun, sagte sie, wie steinerne Pfeilspitzen, die sich nach fünftausend Jahren selbst aus der Erde pressen und plötzlich vor einem auf dem Weg liegen, oder Löffel, die zum Vorschein kommen, wenn man im Kompost gräbt. Sie waren niemals wirklich weg.“) Auf solche Passagen hätte Mattson verzichten können, doch auch wenn nicht alle Erwartungen erfüllt werden, handelt es sich bei Den svarta månens år zweifellos um ein ungewöhnliches und intensives Leseerlebnis.

Ellen Mattson: Den svarta månens år, Stockholm: Bonnier, 2021.

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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Sie erzählte, sie erzählt. Helle Helle in Topform

Helle Helle ist zurück: in Topform und mit voller Kraft. Wer gedacht hatte, dass sie ihre Experimentierlust mit wohlbekanntem Material und exzentrischen Erzählperspektiven ausgeschöpft hatte, wird eines Besseren belehrt. Hier kommt ein krachend origineller Roman, der mit Recht die einhellige Begeisterung des dänischen Feuilletons geweckt hat. „Jeg misunder alle, der har denne roman til gode“ (Ich beneide alle, die diesen Roman noch vor sich haben), schreibt Lilian Munk Rösing in Politiken (2.9.2023). Hafni fortæller (Hafni erzählt) bekräftigt Helle Helles Position als Dänemarks derzeit wahrscheinlich führende Autorin. Auch auf dem deutschen Buchmarkt ist die Autorin keine Unbekannte; die meisten ihrer Romane sind von Flora Fink ins Deutsche übersetzt und vom Schweizer Dörlemann Verlag herausgegeben worden. Zuletzt sind die beiden bis vor kurzem jüngsten Romane de (sie) und Bob als Doppelband erschienen. Und auch auf Neues Lesen ist Helle schon vorgestellt worden (9. September 2011).

Auf den ersten Blick scheint das Projekt, genau wie etliche andere von Helles Romanen, ein reichlich ausgeklügeltes Konstrukt zu sein: Ein Erzähler erzählt, dass Hafni erzählt. Der Text lebt von der Spannung zwischen zwei weit verschiedenen Erzählebenen, die trotzdem unbeschwert ineinander übergehen. Auf der einen Ebene haben wir Hafni, die mit ihren eigenen Worten ”plappert” und sich immer wieder dafür entschuldigt. Wie eine Stimme aus dem Jenseits ruft sie eine Bekannte an, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, und berichtet ausführlich von diesem und jenem. Hauptthema ist eine soeben überstandene sog. ”smørrebrødsrejse” (Smörrebrödreise) quer durch Dänemark auf der Route Frederikssund, Roskilde, Ringsted, Korsør, Nyborg, Svendborg, Faaborg, Bøjden-Fynshav ”og slutteligt det store sønderjyske kaffebord i Gråsten med tre gange syv slags kager” (9; und am Schluss die große nordschleswigsche/südjütische Kaffeetafel in Gråsten mit dreimal sieben Arten von Kuchen). Damit ist der geographische Rahmen abgesteckt für ein spannendes literarisches Roadmovie, wo beinah nichts passiert wie geplant. Synchron mit Schilderungen von Hotelzimmern, Jugendherbergen, Räucherlachs, Wienerschnitzeln, Entenpasteten, Labskaus und Fährüberfahrten werden existentielle Probleme wie Liebe, Ehe, Mutterschaft und Tod behandelt. Was soll eine 48-jährige Frau mit ihrem Dasein anfangen nach dem Auszug der Kinder und nach der bevorstehenden Scheidung? Wenn sie ihren langjährigen Traum von einer ”smørrebrødsrejse” quer durch Dänemark verwirklicht hat, was dann?

Auf der übergeordneten Erzählebene haben wir eine diskrete und subtil sprachbewusste Erzählinstanz, deren Kunstgriffe und sparsam vorgebrachte Metareflexionen als ein Gegengewicht zu Hafnis plapperndem small talk fungieren. Zusammen ergeben die beiden Stimmen eine geniale Kakofonie, die dem leicht zugänglichen Text Zweifel und existentielle Fragen hinzufügen. Oft in einem Satz ineinander übergehend, unterscheiden sich die Erzählebenen nur durch den Tempusgebrauch, deren ständiger Wechsel einen verfremdenden Effekt mit sich führt: ”Hafni siger: Så findes den talemåde altså i virkeligheden, hun sagde: Hvad for noget af det?” (33; Hafni sagt: Dann gibt es diese Ausdrucksweise also in der Wirklichkeit, sie sagte: Was davon?) Die beiden Ebenen kommunizieren wie ein raffinierter narrativer Bikini mit viel Luft in der Mitte, mit gigantischen Leerstellen, die die Lesenden – wie bei Helle üblich – füllen müssen. Das klingt etwas absurd, funktioniert aber ebenso gut wie Helles frühere exzentrische Erzählkonstruktionen und Experimente. Nur sie kann es sich leisten, einen Roman mit einer so extremen in medias res-Technik einzuleiten, wo selbst der Anfangsbuchstabe des ersten Wortes klein geschrieben wird: ”at hun skal skilles” (7; dass sie sich scheiden lassen wird).

Der Erzählrahmen ist auf einem Rastplatz in der Nähe von Ringe angesiedelt, von dem aus sie ihre Freundin anruft. Der Ortsname ist mehrdeutig, einerseits kann das Wort (als Adjektiv gelesen) gering, minderwertig bedeutet, andererseits ist es der Plural des Substantivs Ring oder Kreis – alles passt zu Hafnis Situation. Als Verb gelesen bedeutet es anrufen, und genau dieser Wortbedeutung kommt Hafni nach, in dem sie ihr Telefon zur Hand nimmt. Der Anlass für einen Anruf ist die zufällige Begegnung mit Bob, einem gemeinsamen Bekannten, den sie auf der Fähre getroffen hat. ”Hun siger: Nu må du ikke blive ked af det” (168; Sie sagt: nun darfst du nicht traurig sein), denn Bob ist der Exfreund der Freundin.  Mit dieser Bemerkung kurz vor Ende des Textes schreibt sich der Roman ein in ein Gewebe, das in den zwei vorherigen Texten (de (2018) und BOB (2021)) bereits geknüpft wurde. Die diskreten Andeutungen machen Hafni fortæller zum dritten Band einer Trilogie, denn die Hauptperson ist eine alte Bekannte. In de war Hafni eine Nebenfigur, die bewunderte Freundin der namenlosen Hauptperson am Gymnasium, und die Titelfigur in BOB ist also der Exfreund dieser Figur. Das bedeutet, dass die Empfängerin von Hafnis Redestrom mit großer Wahrscheinlichkeit die rätselhafte Erzählerin von BOB ist und auch in diesem Text wieder zur übergeordneten Erzählinstanz wird, die erstaunlicherweise selbst wiederum nicht in Erscheinung tritt.

Es verwundert nicht, dass Bob, der mittlerweile Mitte vierzig sein dürfte, Vater zweier kleiner Mädchen ist: ”[…] jeg kom jo sent i gang” (168-69; ich habe ja spät angefangen). Der gutaussehende kinderliebe Mann zögerte lange auf der Schwelle ins Erwachsenenleben, BOB erzählte nur von einem seiner vielen Jahre der Unentschlossenheit. Wir konnten ihn als Lesende gut leiden, daher waren wir froh, ihn nun in glücklichen Umständen wiederzusehen. Und unsere Rezeptionshaltung zeigt die Wirkung von Helles Fiktionsaufbau: die Schaffung von psychologischer Nähe einerseits und die Repräsentation eines bestimmten Milieus und einer Generation andererseits. Doch es gibt noch einen ganz anderen Effekt dieses Verfahrens, der die Problematisierung des Fiktionsstatus mit sich führt: Das Verhältnis von Fiktion und Realität wird nicht nur porös, wenn man literarische Figuren als reale Personen zu erkennen glaubt, sondern auch, wenn eine Figur auftaucht, die gewissermaßen ein Zitat aus einem anderen Text ist. Helles Erzählverfahren treibt also ein Verwirrspiel mit uns als Lesenden, ihre Alltagssprache deckt Mehrdeutigkeiten auf (Ringe), ihre Erzählverfahren fordern etablierte Lesegewohnheiten heraus, indem sie Erzählniveaus und Fiktionsgrenzen verwischen.

Doch zurück zu Hafni. Im Gegensatz zu Bob ist sie irritierend und keine Sympathieträgerin. In de war sie die smarte und selbständige Freundin, doch jetzt verstehen wir, dass ihre Coolness nur Fassade war. Hafni erlebt nicht nur eine Midlife-Krise, sie leidet an einer ganzen Reihe von ernsten Phobien, ihr Gefühlsleben ist von Scham beherrscht: ”Evig flovhed forfølger hende” (16; Ewige Peinlichkeit verfolgt sie). Hafni wird von einer beinahe krankhaften Angst vor Blamagen geplagt, in vielen Nächten wird sie von Erinnerungen an soziale Fehltritte und Versprecher heimgesucht sowie an Szenen, in denen sie unbeabsichtigt andere Menschen verletzt hat. Ihre Kühnheit war nur eine Methode, den Schein von Normalität aufrecht zu erhalten, die zu immer wahnsinnigeren Handlungen führt. Deren Beschreibung ist gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen, weckt unser Mitgefühl und ist dennoch ungeheuer komisch.

Sie wird fortwährend von rätselhaften Angstanfällen geplagt, von vorübergehenden depressiven Zuständen. Wie so viele von Helles Protagonistinnen will sie eine andere sein: ”Jeg vil ikke være mig./ Jeg vil lave mig selv om./ Jeg ved ikke, hvordan jeg skal lave mig selv om” (10; Ich will nicht ich sein./ Ich will mich ändern./ Ich weiß nicht, wie ich mich ändern kann). Die Reise ist ein vergeblicher Lösungsversuch, denn die Probleme reisen natürlich mit, und die Heldin bewegt sich von einer Minikatastrofe in die nächste. Die eine Szene, in der Hafni wirklich nicht sie selbst ist, ist alles andere als ein euphorisches Erlebnis der Entkörperlichung, sondern geradezu eine Kulmination der Peinlichkeiten: missglückter Sex im betrunkenen Zustand im Freien. Wie so oft gehen Helles Frauenfiguren mit dem Falschen ins Bett. Hier ist es ein Chemielehrer mit einer gewagten Badehose: ”Det var ikke mig. Hafni bag en busk med en kemilærer, hun så det hele oppefra. Det var ikke mig, jeg stod ikke sådan på Sørup Herregaard. Han havde de orange badebukser på under sine jeans.” (34; Das war nicht ich. Hafni hinter einem Busch mit einem Chemielehrer, sie sah das Ganze von oben. Das war nicht ich, so stand ich nicht auf dem Herrenhof Sørup. Er hatte die orangefarbene Badehose unter seiner Jeans an.) So lakonisch, distanziert und unprätentiös kann verunglückter Sex geschildert werden, und so diskret, dass mehrere Rezensenten behaupten, es gäbe gar keinen Sex in diesem Roman.

Hafnis Reaktion stellt eine Parallele zu der Roars dar, dem Erzähler aus dem Roman Hvis det er (Wenn du magst) aus dem Jahr 2014, dessen Eröffnungssatz wie ein Echo in dem obigen Zitat anklingt: ”Det er ikke mig. Jeg står ikke sådan bag et træ i skoven” (7; ”Das bin nicht ich. Niemals stehe ich so hinter einem Baum im Wald”; 5). Genau wie Hafni hat der gehemmte und sozial unangepasste Mann Roar sich in seinem Leben (und im Wald) verlaufen und ist ein merkwürdig passiver, von Existenzangst geprägter Betrachter. Kenner von Helles Texten stoßen also wiederum auf ein Selbstzitat, auf eine Verknüpfung von Text zu Text, von zwei fiktiven Welten.

Da die Spannung zwischen Hafni und der Erzählerin im Laufe des Romans intensiver wird, kann die merkwürdige Romanheldin vielleicht sogar als eine Selbstparodie der Autorin fungieren: ”[…] hun har et fortællemæssigt problem, bagatelgrænsen er minimal” (sie hat ein erzähltechnisches Problem, die Grenze zur Bagatelle ist minimal). Aber gerade Hafnis permanenter sprachlicher und existentieller Krisenmodus trägt zur Komik des Textes bei. Vielleicht ist Hafni sowohl eine narrative Marionette als auch ein Metakommentar zu Helles Erzähltechnik und deren Rezeption: ”Det er blevet hende fortalt, at hun husker alt, men tænker småt, hvilket er sandt” (52; Man hat ihr erzählt, dass sie alles erinnert, aber klein denkt, was wahr ist). Zu dem klassischen, autoritativen Erzähler, wie wir ihn z.B. von Karen Blixen (die sich wiederholt als ”storyteller” bezeichnet hat) kennen, wird eine Distanz etabliert: ”Jeg er ingen storyteller. Selv mit kolon kommer som ventet” (34; Ich bin kein storyteller. Sogar mein Doppelpunkt kommt wie erwartet). Doch der Doppelpunkt ist bekanntermaßen ein Zeichen der Schrift und nicht der Sprache, so dass dieser Satz eher auf die Autorin Helle als auf die Figur Hafni verweist. Das Verwirrspiel zwischen den Erzählniveaus setzt sich fort.

Doch es gibt auch Anhaltspunkte, Verstehenshilfen wie z. B. der subtile Verweis auf Herman Bang. Die Kritik hat mehrfach auf die Parallele zu dem bekannten Autor der Jahrhundertwende aufmerksam gemacht, mit dem Helle einen verknappten, aber andeutungsreichen und suggestiven Stil und den diskreten Humor teilt. Im Laufe der Reise besucht Hafni Bangs Geburtshaus auf Alsen, und das auch noch am Geburtstag des Meisters. Ich (Dag Heede) kann mir nicht verkneifen zu erwähnen, dass Hafni im Pastorat von Asserballe auf eine merkwürdige Loge stößt, die sich die Bangschen Morgenmänner nennt und zu der ich selbst die Ehre habe zu gehören. So wird wiederum die Fiktion (der Figuren) in die Realität (eines Ortes) überführt und ein Angebot an die Lesenden zur Identifikation gemacht. Anderen dänischen Lesern und Leserinnen wird es bei anderen Szenen in Svendborg, in Korsør oder auf der Fähre von Bøjden nach Fynshav so gehen, im Hotel in Roskilde oder in dem Campingplatz in Nyborg.

Die Konkretheit der Orte, Dinge und vor allem der Mahlzeiten, all der Wienerschnitzel, Schnäpse und Hühnersalate führen zu einer physischen Präsenz des Erzählten, einer Materialität, die Sinnlichkeit und Lebensfreude vermitteln, allerdings auch auf die Gefahren einer Ersatzbefriedigung verweisen. Hafni isst und trinkt für ihr Leben gern, aber oft zu viel und allzu oft allein. So sind die Mahlzeiten Erfüllung und Sehnsucht zugleich. Zudem steht die Konkretheit der Essensszenen im krassen Gegensatz zu der reservierten Erzählhaltung, die Hafni und die Erzählerin teilen. Sie sind keine allwissenden Erzähler mit Überblick und einem Interpretationsmonopol. Ihrer beider Verhältnis zur Sprache ist zögernd, zweifelnd, prüfend, vorsichtig, entschuldigend, gelegentlich stammelnd und permanent die Worte prüfend. Das Ergebnis ist ein flimmerndes, fragmentiertes Puzzle einer Erzählung, in dem über die Hälfte der Teile fehlt. Die Ehe wird nur in Umrissen durch das Anreißen minimaler Szenen und beinahe mikroskopische Erinnerungsfetzen gezeichnet: der Heiratsantrag während eines Kinobesuchs in einem falschen Film, und das Jawort als ein Fehler; die Gartenszene, in der sie ankündigt, sich scheiden lassen zu wollen; eine verschlissene Jacke mit einem rätselhaften Fleck. Auch die Kinder zeichnen sich durch Abwesenheit aus, werden repräsentiert durch einen Anrufbeantworter in Aarhus bzw. Kopenhagen. Die Auslassungen kulminieren in Passagen mit einer staccatoartig aufzählenden Syntax, die Erinnerungsfetzen ihres Lebens vermitteln: ”Flovt at dække bord på forhånd. Flovt at vente bag ruden. Flot med arrangerede bøger. Flovt med pletfri komfur, nyt lys i stage.” (77; Peinlich den Tisch vorher zu decken. Peinlich, am Fenster zu warten. Peinlich mit arrangierten Büchern. Peinlich mit fleckenfreiem Herd, neue Kerze im Kerzenständer). Oft sind diese Passagen im Infinitiv formuliert und verraten auf diese Weise mangelnde Handlungskraft, die Wiederholungen lassen ihr Leben als von Zwängen reglementiert hervortreten.

Wie nicht anders zu erwarten, ist das Finale der Reise eine gigantische Antiklimax. Der Gasthof in Gråsten serviert die berühmte Kaffeetafel nur jeden zweiten Sonntag, und Hafni kommt natürlich am verkehrten Sonntag an. Der Wendepunkt der Reise und Hafnis Tiefpunkt ist jedoch nicht die verpasste Kaffeetafel, sondern das Dorf Pøl, ein weiterer sprechender Ortsname, der den Endpunkt der Reise im doppelten Sinn in einer Pfütze stattfinden lässt. Denn in einer absurden Jagd nach dem Besitzer eines in Roskilde vergessenen Mobiltelefons verirrt sich Hafni in einem Dorf auf Alsen, wo sie in einem verlassenen Haus gegen eine Leiter stößt, über ihr Schnürband stolpert und auf der Nase in einer Pfütze landet: ”På nær en minimal del af hagen var hele hendes forside dækket af mudder” (157; Abgesehen von einem minimalen Teil des Kinns war ihre gesamte Vorderseite voller Dreck). Zu allem Überfluss befindet sie sich auch noch in dem falschen ”pøl”, auf Alsen gibt es nämlich zwei Orte mit diesem merkwürdigen Namen. Hafni muss offenbar ganz am Boden liegen, bevor es weitergehen kann mit ihrem Leben. Sie ist nämlich kurz vorher auch noch bestohlen worden und musste ihre verschmutzte Kleidung an einem Kleidercontainer austauschen. Wenn also Bob auf der Fähre zu ihr sagt ”Hafni, hvor ser du godt ud” (Hafni, du siehst aber gut aus), sagt das mehr über seine Freundlichkeit als über das heruntergekommene Aussehen Hafnis aus.

Und dann sind wir also wieder auf dem Rastplatz in Ringe, einer der vielen Leerstellen des Textes. Er liegt im Schatten eines Grabhügels, und Hafni denkt über einen Besuch nach, vielleicht als ein memento mori, oder besser ein memento vivere. Die Konfrontation mit dem Tod ist bei Helle oft eine Einladung, sich dem Leben zu stellen. Der letzte Satz des Romans lautet ”Jeg skal også høre, hvordan du har det” (Ich wollte auch hören, wie es dir geht), verweist möglicherweise auf Helles nächsten Roman und spricht auch die Lesenden an. Nach zwei aufeinanderfolgenden Lektüren dieses subtilen und tragikomischen Romans ist unsere Antwort: bereichert.

Helle Helle: Hafni fortæller, Gutkind, 2023.

(Dag Heede, Syddansk Universitet & Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität, München)

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