Kleine Ode an die Unwahrscheinlichkeit

Peter Adolphsens Kurzroman Ellepigen Pif & 42, den tavse guru, der im April 2024 erschienen ist, hat viel zu bieten. Dem Text wäre eine Übersetzung ins Deutsche und in weitere Sprachen nur zu wünschen. „Das Elfenmädchen Pif und der schweigende Guru 42“ steht in einem weit gefassten Zusammenhang mit Brummstein (dänisch 2003, deutsch 2005 von Hanns Grössel) und Machine (dänisch 2006, deutsch Das Herz des Urpferds 2008 von Hannes Gröschel).

Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen, an zwei Schauplätzen und zeitlich versetzt: 1) Der erste Handlungsstrang spielt in Aalborg in den 1980er Jahren, wo eine Elfen-Familie mit drei Teenagertöchtern, darunter Pif, und eine menschliche Familie mit dem Sohn Peter leben. Dieser Teil ist mit einem fulminanten Auftakt über das Paralleluniversum versehen, näher bestimmt als „astralplanet, åndeverdenen, det swedenborgske rum“ („Astralplanet, Geisterwelt, Swedenborg’scher Raum“, S. 10), und kommt spielerisch-charmant daher. Die Elfen und andere ‚Unterirdische‘ wohnen in Elektrogeräten und anderen an das Stromnetz angeschlossenen Apparaturen wie Neonreklamen, Ventilatoren, Stromkästen oder Ampelgehäusen. In diesen Quartieren ernähren sie sich von Staubpartikeln, die sie mittels Stromnutzung auch in Übertragungsenergie verwandeln können: Astralwatte und Astralnebel. Dieser Wirkstoff verleiht den Elfen die spezielle Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle ausgewählter Menschen sehr konkret ‚hineinversetzen‘ zu können. In einer Mondscheinnacht invadiert die Elfe Pif die Innenwelt des Jungen Peter und verführt ihn dazu, den Turm von Aalborg zu erklimmen, wo sie für seinen Absturz sorgt. Mit Peters inszeniertem Suizid und dem einseitigen tragischen Liebestod will die psychotisch gewordene Pif ihre eigene Schuld kompensieren, da sie zuvor unwillentlich den tödlichen Unfall ihrer Mutter bei einem Kurzschluss ausgelöst hat.

https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Aalborgt%C3%A5rnet?uselang=de#/media/File:Aalborgtaarnet.jpg

2) Der zweite Handlungsstrang entfaltet sich auf dem Wüstengrundstück lot 42 an Rackensack Canyon Road in Arizona in den 1960er Jahren. Drei Autoreisende geben sich einem LSD-Rausch hin, woraufhin Denis Bixel, der sich später Phorty Too nennt und unfreiwillig zum Sektenbegründer wird, eine Feengestalt mit den Worten erscheint: „Du sitzt unter einem Schild, das dir die ultimative Wahrheit verrät: 42. Und du sitzt im Garten des Paradieses.“ („Du sidder under skiltet med den ultimative sandhed: 42. Og du sidder i Paradisets Have.“, S. 23) Phortys Oase lockt erst die aus Mexiko geflohene, misshandelte und verstummte Carolina Cabomba an, die Schutz bei Phorty findet, und dann eine Gruppe von Hippies, in der Todd die Führung beansprucht. Allerlei Zahlenmystik wird betrieben, um zu begründen, warum just dieser zufällig angesteuerte Ort ein spirituelles und ökologisches Epiphanie-Erlebnis ermöglicht, so dass alle Elemente in einer höheren Einheit aufgehen. Der Aufstieg und Fall der Sekte „The Cult of 42“, die bis in die Mitte der 1980er Jahre bestand, wird von einer Figur namens Peter Adolphsen aufgearbeitet, die auf einem Roadtrip durch die USA eine Hinweistafel auf die Wüstenkolonie entdeckt. Die Tafel berichtet vom Massenselbstmord der 42 Mitglieder, die als Jünger von Phorty betrachtet werden, im Jahr 1984. Niemand ahnt, dass Phorty noch lebt und dass Carolina den Sektenmitgliedern ein Ende bereitete. Diese drastischen Ereignisse bilden ein Pendant zum tragischen Liebestod des abgestürzten Teenagers Peter.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=CANYON+Arizona&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image

Aalborger Schaltkreise

Es sind nicht nur parallel geführte Ereignisse oder ähnliche Figurencharakteristiken, die beide Romanstränge verbinden, sondern auch die Aalborger Elfen, deren Einfluss bis nach Arizona reicht. Außerdem verschalten Themen und Denkfiguren, die in früheren Romanen Adolphsens durchgespielt worden sind, die Verwicklungen in Jütland und die Entgleisungen in Arizona: Das Verhältnis von romantisierender Naturwahrnehmung zu wissenschaftlicher Kategorisierung, poetische Potenziale einer Wiederverzauberung der technisierten Alltagswelt, die Denkfigur des sich verzweigenden Netzwerks in den Anthropozän-Debatten, zirkuläre Verläufe und mythische Zeitkonzepte ꟷ und vor diesem Hintergrund wiederum die völlig unvorhersehbare oder unwahrscheinliche Verkettung von Ereignissen. Das narrative Setting ermöglicht eine Erweiterung des Fantasy-Genres sowohl hinsichtlich der Elfenthematik als auch hinsichtlich der Science fiction, so dass eine Intellektualisierung dieser beiden überwiegend als populär geltenden Genres stattfindet. Im Unterholz des verdichteten Formats lässt sich aber auch einige Polemik gegen naive Esoterik und gegen gängige psychologische Erklärungsmuster menschlichen Verhaltens unterbringen.

Besonders faszinierend erscheint, wie Ellepigen Pif die Macht des Zufalls nicht nur demonstriert und erzählerisch bis ins kleinste Detail nachvollzieht, sondern Kontingenz und Beliebigkeit satirisch maßlos übertreibt. Einerseits werden kausale Erklärungen sabotiert, andererseits neue intrikate Herleitungen herbeifabuliert, oft in sachlichen Deskriptionen formuliert oder im wissenschaftlichen Duktus gehalten. Diesen Griff verwendet der Autor seit längerer Zeit, versteht es aber, das Verfahren mittels der komplexer gewordenen Genrekombination und durch die Bezugnahme auf digitale Quellen auf verblüffende Weise zu erneuern.

Die Erzählstränge zeichnen sich darüber hinaus durch ein metafiktives Binnenmanöver aus: Die Elfen spielen, dass sie in einem Hofstaat leben (wie u.a. aus H.C. Andersens Märchen bekannt). Indem sie sich in menschliche Innenwelten begeben, suchen sie ein ‚Traumtheater‘ auf. Sie verschaffen sich – invasiv oder auch parasitär wie die Figuren der Pilzmyzelien, die für den zweiten Strang entscheidend sind ­– Zugang zu einem quasi cineastischen Medium (dem Menschen), der ihnen eine eskapistische Auszeit ermöglicht. Diese Rückzugsphase ist sozial orientiert und zugleich doch verinselt, ganz ähnlich wie der protokollierte Fernsehkonsum von Peters Familie, der in einer ethnographisch anmutenden Tabelle mit köstlich absurden Inhaltsangaben zu den Sendungen dargeboten wird: Von der Jugendsendung um 15 Uhr, zu der Peter und sein Bruder eine Scheibe Schwarzbrot mit Makrelensalat verzehren, bis zu den Abschlussnachrichten, bei denen der Familienvater von Rotwein und Zigaretten auf Porterbier und Zigaretten umschaltet (vgl. S. 50-54). Die Familie schaut übrigens ab 19.45 Uhr gemeinsam ein archäologisch-ethnographisches Quiz mit Zuschauerbeteiligung, was natürlich als Kommentierung der Unerklärlichkeiten in Ellepigen Pif & 42, den tavse guru gedeutet werden kann oder soll: „Hvad er det?“ („Was ist das?“, S. 53). Der humoristische Effekt des ethnographischen Blicks auf die Alltagsroutinen wird durch das erzählerische Timing gesteigert, indem der halbe Fernsehtag erst dann präsentiert wird, nachdem die medialen Tricks der Elfen und die Wirkung von LSD eingeführt worden sind. Überhaupt besteht ein großer Teil des Lesevergnügens im Staunen über das Timing bei der wechselseitigen Kommentierung der Stränge. Ebenso vergnüglich ist die inszenierte Mündlichkeit mit ihren Klangeffekten (etwa durch Binnenreime und code mixing). Das modernisierte Märchenspiel flirtet mit realistischen Referenzmöglichkeiten und macht sich gleichzeitig wie nebenbei über eine potenzielle autobiographische Lesart lustig (Adolphsen 1972 geb. in Aalborg), ohne diese Option auszuschließen.

Pif war halb Elektrizitäts-Mädchen und halb Süßwasseralf, weil ihre Mutter, Fafarelle, ursprünglich aus einer Alfenfamilie stammte, die sich die Schwimmhalle in Haraldslund mit den Uurpern geteilt hatte (eine Familie von Bachtrollen), seit der Eröffnung des Bades 1959. Sowohl bei Süßwasseralfen als auch bei Bachtrollen war das Chlorwasser sehr beliebt: Sie fühlten sich die ganze Zeit sauber, und auf paradoxe Weise roch es immer so gut.

Pif var halvt elektricitets-ellepige og halvt ferskvandsalf, fordi hennes mor, Fafarelle, oprindeligt var ud af en alfeslægt, som havde delt svømmehallen Haraldslund med Uurperne (en familie af bæktrolde), siden den blev opført i 1959. For både ferskvandsalfter og bæktrolde var klorvandet eftertragtet: De følte sig rene hele tiden, og det duftede så dejligt på en paradoksal måde.“ (S. 25)

Dieser Blick auf ein provinzielles Hallenbad widerspricht einer Komplett-Rationalisierung der heutigen Lebenswelt. Eine Wiederverzauberung selbst des Unscheinbaren scheint, nicht allein durch Nostalgie, selbst im technisch-medial-digitalen Zeitalter mit fiktionalen Mitteln durchführbar.

Der Pif-Roman ist im Anfangsteil oft leicht und licht wie der ephemere Elfenname in Titel, in seiner dunklen Sektenthematik und in den Gewaltschilderungen wirkt der Roman dagegen schwer und schwarz. Dabei wird der bittere Ton relativiert durch das Spiel im Spiel der Figuren auch in Arizona (sowie durch fiktionsmarkierende intertextuelle Bezüge): Die Gruppe um Phorty zitiert lediglich die Rituale einer Sekte und legitimiert dadurch Todds Machtansprüche. Ohne direkte eigene Mitwirkung wird Phorty die Rolle des Gurus zugewiesen, da er das Sprechen beinahe verlernt hat, in den stillen Jahren der mit Carolina Cabomba geteilten Einsamkeit. Carolina bleibt bis zum Showdown im Kampf mit Todd in ihrem Versteck im Wald verborgen. Die ersten Hippies halten Phorty für einen weisen Eremiten und deuten das Klopfen seines Wanderstabs auf den Boden als Zustimmung oder Ablehnung, sogar als gemeinschaftlich das phrasenreiche Gründungsmanifest für die Sekte „Cult of 42“ verfasst wird, das später im Buchhandel zirkuliert („The 42nd Paradise“ 1978). Natürlich fühlen wir uns durch den markierten Einsatz derartiger Requisiten wie des Stabes sogleich an die Ausstattung des elfischen Hofstaates erinnert: „der Wortmeldungs-Apfel, das Mecker-Zepter und die Ich-darf-bestimmen-Krone („snakke-æblet, brokke-sceptret og bestemme-kronen“ S. 17). Die pseudo-archäologisch inspirierte Suche der Autorfigur nach Hinterlassenschaften der 42-Sekte zwischen Flagstaff und Phoenix ist sowieso schon im Voraus ironisiert.

Bitterböse Aussteigerwelt

Bereits im zynischen postapokalyptischen Kurzroman År 9 efter Loopet („9 Jahre nach dem Loop“ 2013) wird Gewalt in exzessiver Weise geschildert, vermittelt durch den misogynen Antihelden Mark, dessen Berserkergang bezeichnenderweise durch die Forscherin Sushmita gestoppt wird, die den Loop mittels ihrer wissenschaftlichen Erfindung rückgängig macht. Sushmita verbindet das Wieder-in-Gang-Setzen der Welt beiläufig mit Marks Exekution, obwohl dieser noch kurz zuvor ihr Liebhaber war. Im Pif-Roman ist die Figur Carolina Cabomba, der Phorty das Leben rettet, nachdem sie auf das Schwerste misshandelt und sexueller Gewalt ausgesetzt worden war, nicht etwa Retterin der Menschheit, sondern planlos agierende exzessive Rachegöttin. Als unheilvolles 43. Mitglied hat sie abseits der Kolonie gelebt. Durch das Zusammenwirken eines Pilzes, einer südamerikanischen Elfenfigur (Alux) bei einem tätlichen Angriff des Oberhippies Todd wird – wie durch einen Kurzschluss – Carolinas Rache für die an ihr begangenen Verbrechen entfesselt. Auf groteske Weise wird damit auch die über die Kolonie hinausgehende, zeittypische patriarchale Machtvollkommenheit gesühnt. Phorty, mit dem Carolina zwei Jahrzehnte in schweigender platonischer Harmonie verbracht hat, hält nach der Mordaktion weiter zu ihr, was zumindest anteilig Aalborger Elfeneinfluss geschuldet ist: Pifs atmosphärische Überreste, die von Aalborg mit dem Jetstream in den Südwesten der USA übertragen werden, nimmt Phorty über eine Schneeflocke auf. Von der romantischen Liebe infiziert, kümmert er sich fürsorglich um die nun hoch gefährliche Carolina, damit sie der Jagd nachgehen und ihre blutrünstigen Aggressionen kompensieren kann. An dieser Stelle könnte der holperige Neustart des Paares im höllenhaften Paradies wieder einsetzen. Aber selbstverständlich kommt es ganz anders: Als Phorty seine Partnerin nach Jahrzehnten stummer Keuschheit zum ersten Mal küsst, löst sich Carolina Cabomba in einen stinkenden Teerklumpen auf. Diese schwarzklebrige Substanz hinterlässt zwei symmetrische Flecken in Phortys Gesicht, die die Konturen eines Rorschachtests haben (vgl. S. 140). Mit dieser Szene wird zum einen das romantische Liebeskonzept zersetzt, zum anderen jeglicher Psychologisierung literarischer Charaktere eine hämische Absage erteilt.

Erkundungen der wechselseitigen Ansteckung von Genres und der digitalen Recherche von literarischem Stoff

Adolphsens Kurzroman feiert die Unvorhersehbarkeit, wobei eine paradoxe Dynamik hervortritt: Obwohl auf Seiten der Lesenden die Erwartung besteht, dass sich Optionen für die wechselseitige Erhellung der Stränge ergeben, werden sie bei fortgesetzter Lektüre möglicherweise erstaunt oder irritiert darauf reagieren, welche Interferenz dann jeweils in Kraft tritt oder dass die angeführte Erklärung wenig plausibel oder haarsträubend sein mag.

Der Themenkomplex ‚Zufall‘ und ‚Konditionen und Prämissen von Wahrscheinlichkeit‘ ist zudem in der intertextuellen Konstellation begründet. Das Figurenverzeichnis zu Beginn, mit seinen 19 Namen, bereitet die Lesenden auf den kruden Genremix vor. H.C. Andersens Märchenwelt trifft auf Thomas Pynchons Crying of the Lot 49 (1965) und Douglas Adams The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy (1984). Die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts und die Folkloristik treffen auf das Genre Graphic Novel, wenn es heißt, dass sich der dunkle hohle Rücken einer Elfenschwester bei den Discotanz-Pirouetten so schnell dreht, dass nur noch ein verwischter schwarzer Strich zu erkennen ist (vgl. S. 18). New Age-Schriften der 1970er und 1980er treffen auf medizinhistorische Miasmentheorien und Corona-Verschwörungsmutmaßungen. Darüber hinaus werden Beiträge zur Erforschung von Pilzmyzelien oder psychoaktiven Substanzen sowie ethnographische Materialien synthetisiert. Das intertextuelle Konstrukt wird vorausweisend veralbert: Anspielungen und Zahlencodes seien „easter eggs“, eigens versteckt, um von den Lesenden gefunden zu werden (vgl. S. 20). Einige der überbordenden Details führen denn auch erwartungsgemäß in die Irre.

Der Pif-Roman tritt als ein Demonstrationsbeispiel für gestaltbare Un-Wahrscheinlichkeiten hervor und weist das Unwahrscheinliche – und im Hinblick auf die Elfen sogar das romantische ‚Wunderbare‘ – als zentrales Kompetenzgebiet von Literatur und Kunst aus. Selbst in einem kompositorisch strengen Konstrukt lässt sich eine Vielfalt der Optionen improvisierend und tastend hervorschreiben. Im Gesamtplot triumphiert das Böse in Form der Pilzmyzelien und der dämonischen Einflüsse übel gesonnener ‚Unterirdischer‘ über die spontanen und kaum reflektierten Handlungen der Aalborger Elfen. In beiden Strängen wird Intentionalität in Frage gestellt, nicht zuletzt weil sich Ereignisketten während des Geschehens grundlegend wandeln oder Einflüsse von außen die Oberhand gewinnen. Ein Initialereignis ist als solches später weder zu identifizieren noch anhand seiner Folgen oder Resultate rekonstruierbar.

Wie die obigen Fotos aus Wikimedia Commons verdeutlichen sollen, ist die Wahl der Schauplätze markiert fiktiv: Geschichten aller Art können heute jederzeit ‚ergoogelt‘ oder von KI zu Text prozessiert und zu Literatur deklariert werden. Komplexere poetische Griffe und eine mehrdimensionale Spracharbeit dürften indessen bis auf weiteres dem Esprit schreibender Personen vorbehalten bleiben. Nichtsdestotrotz macht der Roman selbst auf die Relevanz digitaler Ressourcen aufmerksam, wie auch der Rezensent Alexander Vesterlund verzeichnet (Politiken 23.5.2024): Er beobachtet den Einsatz von ‚Wikipedia-Sprache‘, die er stilistisch als „beladen mit Substantiven und reich an Feststellungen“ („substantivtung og rig på konstateringer“) bestimmt. Dennoch handelt es sich nicht um einen Nominalstil, der in den Bizarrerien des Handlungsverlaufs schwerfällige Bocksprünge unternimmt; vielmehr wird eine assoziativ schwebende und etwas unverbindliche sprachliche Recherchespur hinterlassen, die surfenden Suchbewegungen entsprechen mag. Viele der Lesenden werden nämlich voraussichtlich nicht nur von der Suche der „easter eggs“ und von der Auslotung der Verknüpfungsmöglichkeiten absorbiert sein, sondern fragen sich auch nach der möglichen viralen Verbreitung vergangener und aktueller Mythen und Legenden (siehe beispielsweise https://mexiconewsdaily.com/news/what-is-an-alux-amlo-helps-a-mythical-mayan-elf-go-viral/). Diese Stoffe und Themen bilden gleichsam die Astralwatte für das literarische Schreiben.

Für anregende Gespräche bedanke ich mich bei Hannes Langendörfer.

Peter Adolphsen: Ellepigen Pif & 42, den tavse guru. Roman. Gyldendal, 2024.

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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Postpandemische Vergewisserungsliteratur

Mikaela Strömberg: Rågången. Helsingfors: Förlaget, 2023.

Git Laudrup hat bisher ein vorhersehbares Leben im finnischen Esbo geführt, in einem sicheren Anstellungsverhältnis an der Landvermessungsbehörde. Sie und ihr gutmütiger Ehemann Måsse gehen auf die 60 zu, als sich Git während der Pandemie etwas ruckartig für einen Berufswechsel entscheidet. An dem satirisch dargestellten neuen Arbeitsplatz, einem Advokatenbüro, kommt es zu einem sprichwörtlich handgreiflichen Konflikt, und Git wird wegen der gegen sie erstatteten Anzeige auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Dies ist der etwas holprige Auftakt des Romans Rågången (in etwa Grenzklärungsgang) und die von Zufällen begünstigte Rechtfertigung dafür, dass die ansonsten so nüchterne und strukturiert vorgehende Git in einem Abenteuer mit offenem Ausgang landet.

Kindheit und Jugend hat die Protagonistin im (fiktiven) Dorf Starrängarna (´Starenwiesen‘) in Östnyland, der Region um Helsinki, verbracht, bevor sie im dänischen Århus ihre allseits respektierte Ausbildung absolvierte und wieder nach Finnland zog. Sie bewegt sich in einem finnlandschwedischen Milieu, ohne dass der Sprachgebrauch eigens erwähnt wird. Gits Dänischkenntnisse sind allerdings unverzichtbar im Umgang mit dem Vater, der vom Altenpflegepersonal in Esbo nicht mehr verstanden wird. Der realistische, oft satirisch zugespitzte kleine Roman Rågången unterläuft mit dieser Konstruktion die erwartbaren soziokulturellen, nationalen bzw. minoritätssprachlichen Differenzen. Dabei kann Git durchaus als leicht anschlussfähige Angehörige einer zweiten Zuwanderungsgeneration aufgefasst werden.

Die Pflege von Anachronismen

Eine nicht zu unterschätzende Pointe des Romans besteht darin, dass das Wort „rågången“ laut Svenska Akademiens Ordbok nicht mehr gebräuchlich ist (https://saob.se/artikel/?unik=R_3543-0057.n7o3&pz=5 ). Das Wort ist mit dem Zeichen † markiert. Die vielfältigen Grenzklärungen, welche die Figuren, die juristischen Konflikte und die Dorfgeschichte betreffen, werden damit als Analogien zu sprachlichen Anachronismen dargeboten. Während die Grenzkonflikte in mehrfacher Bedeutung genutzt und damit auch negativ aufgeladen sind, dominiert in vielen Dorfschilderungen eine musealisierende Attitüde, wie etwa in der Schilderung der Spazierfahrten mit dem Pferdegespann, die der Bauer Riåkarn unternimmt:

„Den här gubben som åker runt med sin häst. En gammal vallack. Men för att vara ärlig är den ingen krake. Gubben har haft koll på hur en häst skall skötas. Den där kunskapen försvann aldrig, och varför skulle den försvinna. Det är väl som att cykla.

Så där vill man att hästar skall se ut, passliga i hullet, pigga och med skötta hovar.“ (S. 106)

„Dieser alte Mann, der mit dem Pferd herumfährt. Ein alter Wallach. Aber um ehrlich zu sein, ist es kein Klepper. Der alte Mann hat immer gewusst, wie ein Pferd zu pflegen ist. Diese Kenntnisse sind nie verlorengegangen, und warum sollten sie das auch. Es ist wie beim Fahrradfahren.  

So sollten alle Pferde aussehen, gestriegeltes Fell, munter und mit gepflegten Hufen.“

Indem der Umgang mit Pferden zur Körpertechnik deklariert wird, scheint einerseits die automobilfreie präkapitalistische Idylle auf, die sofort durch Gits Begeisterung für das Autofahren wieder aufgefangen wird. Andererseits wird der Entschleunigungsbedarf der Zivilisationsgeschädigten illustriert, ein bekanntes soziales Phänomen, das sich in Folge der Pandemie verstärkt hat und wahlweise die Uckermark, die Provence, Oslo Marka oder eben in die dünn besiedelten Gebiete Nylands im Südosten Finnlands betrifft. Die Dorfkultur wiederzubeleben heißt dann bezeichnenderweise auch, sich selbst mit unerprobten Ressourcen auszustatten, um zur Besinnung zu kommen – vielleicht doch eher ein subjektives als ein gemeinschaftliches Projekt?

Mikaela Strömberg, heute als Schriftstellerin und Juristin tätig, ist für ihre ländlichen, bisweilen harmonisierenden oder historisierenden Schilderungen der ausgestorbenen Dörfer in Östnyland seit 2000 bekannt, als sie den Preis der Schwedischen Literaturgesellschaft in Finnland für ihr Debüt erhielt. Die Revitalisierung dörflicher Gemeinschaften ist ihr zweifellos ein Anliegen. 

Muster(v)erkennung

Die Kombination von Erwartbarem und Zufälligem kann dazu führen, dass unerwartete Ereignisse eintreffen oder gängige Muster unterlaufen werden. Dies mag neben der erheiternden Hauptfigur in der Doppelkrise auch das Umschlagbild von Rågången veranschaulichen: Eine historische topographische Karte, wenn auch in graphisch verfremdeter Form, die Besitzrechte und Territorialität fokussiert. Auf dem unteren bräunlichen Kartenblatt sind Flächenangaben und Grenzlinien zu erkennen, einige Äcker und Weideflächen tragen schwedische Eigennamen (Brännåkern, Ängråkern, Stobbån, Tistelängen). Die physische Buchausgabe und die Abbildung der Verlagswerbung im Internet weisen eine bemerkenswerte Abweichung auf: Während der konkrete Bucheinband nur den Eintrag „[…] bys egor“ (Eigentum  des Dorfes xy) zeigt, wurde bei der digitalen Abbildung der Ausschnitt etwas verschoben, so dass das ansonsten fiktive Dorf nun doch geographisch lokalisierbar wird: „Labby bys egor“, historisch belegt seit Mitte des 16. Jahrhunderts (siehe https://bebyggelsenamn.sls.fi/bebyggelsenamn/2133/labby-lovisa/). Dieser Ort liegt rund 100 km von Esbo entfernt, was übrigens die seltene Anwesenheit von Gits berufstätigem Ehemann erklärt.

Gerade das auf dem Bild links unten dargestellte Gebiet für die gemeinschaftliche Nutzung, die Fläche im Dorfeigentum, die nicht weiter aufgeteilt werden darf, ist metaphorisch bedeutsam für die Verheißung ländlicher Gemeinschaft, die bei Strömberg zwar beschworen, aber nur in den erzählerisch synthetisierten Erinnerungen realisiert wird – sowohl auf Seiten der Figuren als auch im schlingernden Erzählprozess.

Die obere grüngestreifte Hälfte des Titelblatts verweist auf Wald oder nicht erschlossenes Gebiet. Zwischen den beiden Hälften ist ein weißer Riss zu erkennen, in dessen Mitte der schwungvolle, nach schräg oben strebende Schriftzug „Rågången“ prangt. Eine markante Linie durchzieht und verbindet beide Bildhälften, wobei sie auf dem weißen Grund rot eingefärbt ist. Diese Linie verweist offensichtlich nicht auf eine Grenze, sondern auf eine Route. Auf das farbig hervorgehobene Intervall zwischen Möglichkeit und Zweckbestimmung – oder umgekehrt zwischen vorausschauender Strukturiertheit und sich chaotisch ansammelnden Erfahrungen, die sämtliche Zeitstufen betreffen – kommt es in Rågången also an, angeblich in der Landschaft wie im Leben.

Die übertragene Bedeutung bestätigt sich, indem die vertikale rote Linie die Endsilbe des Titels durchstreicht: Es geht um Lebensbilanzen mit integrierten Grenzverlaufsklärungen (im Sinne von „rågång-rannsakning“ laut SAOB), im Besonderen und im Allgemeineren.

Retrospektiv Sicherheit gewinnen und unlösbare Fragen aufwerfen

Die dänisch-finnlandschwedische Git ermöglicht in ihrer professionellen Position als juristisch befugte Landvermesserin die Beilegung eines Grenzstreits in Starrängarna. Mit dem habgierigen Waldbesitzer Raymond S. Markelund (man beachte die sprechenden Namen) führt sie einen Grenzgang durch, bei dem es zu zwei überraschenden Funden kommt. So findet sie eine im Boden verankerte alte Steinröse, die den genauen Verlauf der Grenze rechtssicher festlegt. Markelunds dreiste Landnahme, die sich auf aktuelle GPS-Kartendaten beruft, kann daher abgeschmettert werden. Mit dieser materiell anschaulichen Rückverlängerung der Dorfgeschichte kommt ein erinnerungspolitischer Appell des Romans zum Ausdruck, und ganz beiläufig wird mit dem Kartenumschlagbild die schwedische Vorgeschichte eines Teils des finnischen Staatsgebiets ins Gedächtnis gerufen.

Bei dem Grenzgang wird außerdem die Leiche von Pekka Riåkarn entdeckt. Der unaufgeklärte Todesfall bildet ersatzhaft einen roten Faden für die Episoden rund um die Dorfbewohner, die Git meist von einem neu gewonnenen Freund, Bernt, übermittelt werden. In den Gesprächen während der Renovierungsarbeiten von Gits kleinem Hof (einem Torp) kehrt Bernt immer wieder auf die Ereignisse rund um den Leichenfund und auf das Schicksal der Familie Riåkarn zurück, Bernt gehört ebenfalls der Heimkehrer-Generation an.

Eine allwissende, kommentierende, mitunter zu scherzhaften Bemerkungen aufgelegte Erzählinstanz sorgt für eine konzeptuelle Mündlichkeit des Erzählens. Dies macht den Unterhaltungswert aus, der meiner Einschätzung eine deutsche Übersetzung von Rågången erwarten lässt – eventuell sogar im Fahrwasser der Erfolge von Dörte Hansens Mittagsstunde (2018; siehe Hansens Thema der Flurbereinigung, d.h. der Anpassung von Gemeindegrenzen und der modernisierenden Umgestaltung von Knicklandschaften im 20. Jahrhundert).

Zur Figurengalerie gehören neben der Ehefrau auch die Töchter der Bauernfamilie Riåkarn, Pee und Emm genannt, die ihren inzwischen verwitweten alten Vater immer häufiger besuchen. Für die gesamte Familiengeschichte ist die anspruchslose Zuwanderin Laila aus Uleåborg wichtig, mit ihr hatte Pekka ein kurzes Glück erlebt, bevor er wieder psychisch erkrankte und im Alter von 40 Jahren im Moor umkam. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit dieser intuitiv begabten Viehwirtschafterin Laila, der schwarzhaarigen Schönheit aus dem hohen Norden Stereotype der Alterität, nicht zuletzt von indigener Naturverbundenheit aufgerufen werden. Bernt weiß zu berichten, dass das Ehepaar Riåkarn den Kontakt zu Laila hielt, nachdem diese mit ihrem fast neugeborenen Enkel plötzlich abgereist war. Die näheren Umstände von Pekkas Ableben bleiben dennoch ungeklärt. Als bei der Abwicklung des Hofes die namentlich bekannten Kühe verabschiedet werden, reagieren auch die mittlerweile stadtorientierten Schwestern Pee und Emm betroffen.

Logbuch Romanbaustelle

Git lässt sich in Starrängarna treiben, gewinnt Abstand und richtet sich im Renovierungsprovisorium ein, so wie die Lesenden angehalten sind, die locker gefügten Plauderepisoden spekulativ zusammenzuführen. Zwischen den Zeitstufen der Dorferinnerungen wird hin- und hergeschaltet: „Allt som kraschade“ (Alles was zusammenbrach, S. 167), „Bygget logg höst 2“ (Die Baustelle im Herbst 2, Loggbuch, S. 141), „Mormor, det vill säga Momi från kyrkbyn“ (Großmutter, besser gesagt Omi aus dem Kirchspiel, S. 116).

Gemeinschaft entsteht dem Roman zufolge nicht allein durch Gespräche, Überlieferung, Spekulationen und Dorftratsch, sondern auch durch gemeinsames Schweigen. Als Bernt Git anvertraut, dass er vielleicht – den Eltern oder sich selbst zuliebe – doch früher nach Starrängarna hätte zurückgehen gehen sollen, spielt sich die folgende etwas zähe Szene ab:

„ – Jag borde kanske ha kommit hem då, sa Bernt.

Men så lämnade han temat. Han satte ytterligare en sockerbit i sitt kaffe, han var lite udda på det viset att hans rutiner varierade. Ibland var det en bit, ibland två, ibland till och med inget socker alls. Men sätter man två bitar så måste man röra lite extra. Git hade lust att fråga lite mer om det där eventuella kommandet, men det var kanske känsligt, eller något han inte ville diskutera. Då er det förstås bäst att man är tyst. Git suckade, det var här med det eviga snöandet också, mitt i allt hade det börjat vräka ner fast det egentligen var höst enligt almanackan.“ (S. 155)

„- Ich hätte vielleicht schon damals heimkommen sollen, sagte Bernt.

Aber dann ging er nicht mehr auf das Thema ein. Für seinen Kaffee nahm er noch ein Stück Zucker, er war etwas eigenartig in seinen Gewohnheiten. Manchmal nahm er ein Stück, mal zwei oder gar keinen Zucker. Wenn man zwei Stücke nimmt, muss man den Kaffee etwas länger umrühren. Git hätte gerne mehr zu dieser eventuellen früheren Heimkehr gefragt, aber vielleicht war das ein heikles Thema oder eine Sache, zu der er sich nicht austauschen wollte. Dann ist es natürlich besser, nichts zu sagen. Git seufzte, und dann auch noch dieser ewige Schnee, in all dem hatte es losgeschneit, obwohl laut Kalender Herbst war.“

Im letzten Abschnitt erfährt Pee von ihrem Vater, wer den Anbau des kleinen Nachbarhofs im dänischen Sommerhausstil umgestaltet hat: „- En lantmätare, så Riåkarn, här från mejeriet.“ (Eine Landvermesserin, sagte Riåkarn, hier von der Molkerei, S. 222)

Erst an dieser Stelle deutet sich der mögliche Beginn eines intensiveren Kontaktes zwischen den Ortsansässigen und den Zugewanderten an, der über die Vertrautheit mit der Dorfgeschichte legitimiert wird. Die Anwendung von Regiolekt und Soziolekt in den Dialogen legt nahe, dass Kriterien von Herkunft und Abstammung bzw. von nachweislicher ländlicher Sozialisation Voraussetzungen für soziale Anerkennung bleiben.

Auch wenn einige Höfe verlassen und die ehemalige Molkerei stillgelegt bleiben werden, scheinen das Teilen von gruppenspezifischen Geschichten und eine geteilte Historiographie am ehesten eine Selbstidentifikation als Bestandteil einer Gemeinschaft zu ermöglichen, ein Selbstverständnis, das städtische Lebensformen – frei nach dem Konzept von Ferdinand Tönnies 1887 – nicht bieten könnten.

Die nostalgische Wehmut und die engagierte regionale Geschichtsvergewisserung im Hinblick auf die Abwanderungsgebiete, die seit der Pandemie aufgewertet wurden, sollen offenkundig tröstenden Halt in unübersichtlichen Zeiten bieten. Vielleicht wird sogar im zweiten Band, falls es diesen geben sollte, Gits jütländischer Käse verkostet?

(Antje Wischmann, Universität Wien)

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Wer bin ich und wenn ja, was ist mein Leben?

In einem Video auf Youtube kann man sehen, wie Jonas Hassen Khemiri scherzhaft bemerkt, er habe mit seinem neuen Roman ein lang ersehntes Ziel erreicht: ein so dickes Buch zu schreiben, dass der Titel horizontal auf den Buchrücken gesetzt werden kann. Khemiris Roman Systrarna (Die Schwestern) über die drei Schwestern Anastasia, Evelyn und Ina nimmt mit seinen gut 700 Seiten im Bücherregal dementsprechend einigen Raum ein, ist aber auch in manch anderer Hinsicht ein großer Roman. Mit stilistisch eleganten, manchmal über fast eine Seite dahinfließenden Sätzen breitet Khemiri in 137 Kapiteln ein 35 Jahre und drei Kontinente umspannendes Familienpanorama aus, das sich vielleicht am besten als Mashup aus Paul Austers postmoderner New-York-Trilogie und den Monumentalromanen des Russischen Realismus charakterisieren lässt.

Aus dem breitgefächerten intertextuellen Netzwerk von Systrarna ragt allerdings ein Text heraus, der sich schon wegen seines Genres keinem der beiden Pole so recht zuordnen lässt: Anton Tschechows im Titel des Romans anklingendes Drama Drei Schwestern. Der Klassiker, der mit seiner ungewöhnlichen Dramaturgie als einer der innovativsten europäischen Theatertexte um 1900 gilt, wird im Roman selbst an zentraler Stelle von einer der Schwestern, Evelyn, zur Aufführung gebracht. Verbindungen zu Drei Schwestern lassen sich aber auch abseits davon viele herstellen, von der Figurenkonstellation bis zu der prominenten Position des abwesenden Vaters, von den Motiven der Sehnsucht und des Wartens auf ein wirkliches Ankommen bis zum Ringen um eine eigene Handlungsmacht. Noch deutlicher jedoch als inhaltlich scheint das Theaterstück Khemiri formal inspiriert zu haben. Denn er überträgt Tschechows Technik des undramatischen Dramas ohne Zielspannung gewissermaßen auf den Roman. Viele Handlungsstränge werden in Systrarna lediglich angerissen, verlaufen oder überlappen sich auf ähnlich unzusammenhängende Weise wie Tschechows lange, häufig ins kommunikative Nichts führende Monologe. So entsteht weniger eine lineare Geschichte als ein flächiges Panorama aus oft nur lose verbundenen und mit großem räumlichen oder zeitlichen Abstand stattfindenden Episoden ohne tatsächlichen Fluchtpunkt. Dieses Fehlen einer eigenen zusammenhängenden Lebensgeschichte wird im Roman selbst regelmäßig thematisiert und dabei von den Figuren stets als Manko empfunden. So heißt es z.B. über das Leben der jüngsten der drei Schwestern Anastasia:

„Om allt hade varit en bok så hade saker kunnat göra mer logiska, språkkursen i Tunis hade lett till något konkret, något mer än ett krossat hjärta och några snabbt bortglömda verbböjningar, något mer än ett besök hos ett medium som hon aldrig återvände till. Men Anastasias liv var ingen bok, långt därifrån, hennes liv var bara ett antal slumpmässigt sammansatta scener och ibland, vid väldigt sällsynta tillfällen, hade hon känt att allt hade mening, att hennes liv hade en plats i ett större narrativ, att hon hängde ihop med det förflutna och den ofrånkomliga framtiden, men sen när drogerna lämnade kroppen var hon tillbaka i sin egen kropp och alltings slumpmässighet.“ (564)

(Wenn das Ganze ein Buch gewesen wäre, so hätten die Dinge mehr Sinn ergeben, der Sprachkurs in Tunis hätte zu etwas Konkretem geführt, zu mehr als einem gebrochenen Herzen und ein paar schnell wieder vergessenen Konjugationen, zu mehr als einem Besuch bei einem Medium, das sie niemals mehr aufsuchen würde. Aber Anastasias Leben war kein Buch, ganz im Gegenteil, ihr Leben bestand nur aus einer Reihe zufällig zusammengesetzter Szenen, und manchmal, ganz selten, hatte sie das Gefühl, als hätte alles hätte einen Sinn, als wäre ihr Leben Teil einer größeren Erzählung, als wäre sie mit der Vergangenheit und der unvermeidbaren Zukunft verbunden, aber später, wenn die Drogen den Körper wieder verließen, war sie zurück in ihrem eigen Körper und der allgemeinen Zufälligkeit.)

Große Fragen

Hilft der Verweis auf Tschechow dabei, den Roman formal zu fassen, bleibt eine kurze und dem ausufernden Text gerecht werdende inhaltliche Annäherung kompliziert. Im Laufe des Romans treten so viele Figuren auf, die schnell wieder verschwinden, verlaufen so viele Nebenhandlungen und Konflikte im Sande, geschehen so viele unwahrscheinliche und absurde Dinge, dass es schwerfällt, einen roten Faden auszumachen. Abstrakt, allerdings auch unspezifisch formuliert, ließe sich vielleicht sagen, dass es in Systrarna um die Zeit geht und um das Gefühl, dass sie mit fortschreitendem Alter immer schneller vergeht. Daran anknüpfend stellt der Text fast zwangsläufig die großen Fragen nach der Herkunft und Bestimmung des Lebenswegs, nach Sinnstiftung und (erreichten) Zielen.

Solche anthropologischen Grundfragen bergen immer die Gefahr, in Klischees und Banalitäten zu münden. In Systrarna geschieht dies zum Glück nicht. Sie werden nie platt oder schwer, sondern stets mit einer gewissen Leichtigkeit und Humor verhandelt, ohne dass der Text seine Tiefsinnigkeit verlieren würde. Dies gelingt auch deshalb so vorzüglich, weil der Roman, wie bei Khemiri üblich, eine feine, zum Ende verstärkt in den Vordergrund drängende selbstreflexive Ebene enthält, die alle Antworten und Erkenntnisse sofort wieder in Zweifel zieht. Auf ihr spiegeln sich die existenziellen Fragen der Handlung als metapoetische Diskussion. Wie konstruiert sich das eigene Ich durch Sprache? Ist es angesichts der Undurchdringlichkeit des eigenen Ichs und Schicksal nicht müßig, das Leben als (logische) Erzählung zu begreifen? Und wenn man es trotzdem tut: Wo endet meine und wo beginnen fremde Lebensgeschichten, wie beeinflussen und verändern sie sich je nach Perspektive? Und wer ist überhaupt dafür geeignet, eine solche Geschichte zu entwerfen und zu erzählen?

Der Fluch

Wechselt man von diesem abstrakten Niveau auf die Plotebene, scheint es sinnvoll, zunächst den Moment zu suchen, an dem die Geschichte um die drei Mikkolaschwestern einsetzt. Eine Aufgabe, die in diesem Text mit seinen vielen Rückblenden, Vorausschauen und parallelen Handlungen gar nicht so leicht zu bewältigen ist. Getreu der Tatsache, dass sich kausallogische Verbindungen oft erst im Nachhinein erkennen lassen, bringt das Ende des Romans zumindest etwas Licht in das verwirrende Dunkel. Dort wird erzählt, dass die Geschichte mit Selima, der Tante der Schwestern, und einem Fluch beginnt: Das, was ihr am meisten liebt, wird euch genommen werden.

Auch wenn das Romanende anderes andeutet, taucht der von Selima ausgesprochene Fluch im Verlauf der Ereignisse allerdings zu selten auf, um als Leitmotiv oder handlungstreibendes Element dienen zu können. Wenn man möchte, kann man ihn aber zumindest als Hintergrundrauschen wahrnehmen, zum Beispiel, wenn die Ehen von Evelyn und später auch von Ina scheitern, wenn Anastasia sich wegen einer Kleinigkeit von der Liebe ihres Lebens Daniela verabschiedet, wenn die Mutter der Mikkolaschwestern stirbt, oder wenn sich die drei selbst für lange Zeit aus den Augen verlieren und es ihnen misslingt, die Wurzeln ihrer Familiengeschichte in New York zu recherchieren. Aber auch in Randepisoden, z.B. wenn Anastasias Basketballteam trotz ihrer Klasse stets im entscheidenden Moment versagt, wenn Evelyn durch ihre Schauspielausbildung, die sie erst nicht wollte, und dann nicht beendet, ihre beste Freundin verliert, oder wenn Ina trotz ihrer Disziplin und ihres Durchhaltevermögens das Glück in ihrem Beruf verwehrt bleibt.

Verflucht hat Selima ihre Schwester, als diese in den 1970er Jahren ihre Identität gestohlen und aus Tunesien nach Europa aufgebrochen ist, um dort als falsche Selima das Leben zu führen, das die echte Selima immer hatte führen wollen. Vom Ende des Romans aus gedacht steht also am Anfang eine Migrationsgeschichte, die allerdings (wegen des Fluches?) anders verläuft als erwartet. Die falsche Selima findet zwar eine neue Heimat in Schweden, zieht in ein Wohnviertel des schwedischen Millionenprojekts, heiratet, bekommt drei Töchter, aber sie stürzt auch in zahlreiche psychische Krisen, findet in Schweden nie wirklich eine Heimat und verliert zudem ihren Mann. Und auch zu Ina, Evelyn und Anastasia gestaltet sich ihr Verhältnis bis zu ihrem Tod, ungefähr in der Mitte des Romans, äußerst kompliziert, ist gleichzeitig geprägt von tiefer Zuneigung und bitteren Vorwürfen. Blickt man genau hin, übernimmt der Fluch in diesem im Großen und Ganzen unglücklichen Leben lediglich den Platz einer Erklärungsstrategie. Er mystifiziert die Schicksalsschläge und kaschiert auf diese Art sowohl die eigenen Fehler wie auch das Versagen der schwedischen Migrationspolitik und das Scheitern des Millionenprojekts.

Postmodernes Verwirrspiel

Am Anfang steht aber auch, so erzählt es wiederum der Beginn des Romans, eine Party am Silvesterabend des Jahres 1999: „And so it was told att historien om Mikkolasystrarna började den sista december, på milleniets sista dag” (11; And so it was told, dass die Geschichte der Mikkolaschwestern am letzten Dezember, am letzten Tag des Jahrtausends begann), lautet der erste märchenhafte Teilsatz des Romans, von dem aus sich das Geflecht unterschiedlicher Lebensgeschichten entspinnt. Von hier aus betrachtet werden Roman und Handlung weniger durch den Fluch als durch eine vierte Hauptfigur zusammengehalten: Jonas Khemiri, der sich um die Leben der drei Schwestern herum und in sie hineinschreibt und dabei zugleich seine eigene Geschichte erzählt.

Das Leben treibt Jonas nicht nur zu denselben Orten wie die Schwestern, nach New York, zum Sprachkurs nach Tunesien, in eine deutsche Kleinstadt, wie sie sind auch er und seine zwei Brüder als Halbtunesier in Drakenberg im Stockholmer Stadtteil Södermalm aufgewachsen. Je mehr sich die Prallelen und Querverbindungen zwischen Jonas’ Leben und dem der Schwestern häufen, desto merkwürdiger und unwahrscheinlicher wirken sie. Jonas als Erzähler scheint dies selbst zu bemerken, wenn er sie gegen Ende des Romans sogar noch auf biologische Füße stellt und andeutet, sein Vater habe eine Beziehung mit der Mutter der Mikkolaschwestern gehabt und sie könnten Halbgeschwister sein.

Abseits seines Lebens mit, für und durch die Schwestern führt Jonas auch ein Leben als Schriftsteller, das in groben Zügen Khemiris eigener Karriere gleicht. So erfahren wir z.B. von seinem ersten großen Erfolg im Jahr 2003 mit Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker), davon, dass er verschiedene, erfolgreiche Theaterstücke geschrieben hat, 2015 mit Allt jag inte minns (Alles was ich nicht erinnere) einen teilweise in Berlin spielenden Roman veröffentlicht hat und im Jahr 2021, ein Jahr verspätet durch die Auswirkungen der Coronapandemie, mit seiner Familie nach New York zog, um dort als Cullman Fellow in der renommierten New York Public Library einen Roman zu schreiben, nämlich eben jenen monumentalen Roman Systrarna:

„Jag skriver dessa ord i januari 2022, jag sitter i mitt rum på New York Public Library, en ny våg av covid har lett till nya restriktioner, alla har fortfarande munskydd, i tunnelbanan, inomhus, i skolan. Biblioteket är stängt för allmänheten idag, det är bara jag och några säkerhetsvakter här.“ (577)

(Ich schreibe diese Worte im Januar 2022, ich sitze in meinem Zimmer in der New York Public Library, eine neue Coronawelle hat zu neuen Restriktionen geführt, alle tragen immer noch Masken, in der U-Bahn, in Innenräumen, in der Schule. Die Bibliothek ist heute für die Allgemeinheit geschlossen, es sind nur ich und einige Sicherheitsleute hier.)

Diese in den Roman eingewobenen biografischen Elemente überziehen den übrigen Text mit einem Schleier der Unsicherheit, werfen die Fragen auf, was ist Khemiri tatsächlich passiert und was ist nur erfunden. Verstärkt wird diese provokative Situation für den Leser noch dadurch, dass Jonas auch private Dinge verrät, die nicht immer so leicht zu verifizieren sind wie die Meilensteine von Khemiris Autorenkarriere. So berichtet Jonas z.B., wie er seine Frau Diane kennenlernte, von psychischen Problemen, die ihn in eine Therapie gezwungen haben, vom frühen Tod seiner besten Freundin, davon, dass er Vater zweier Söhne und Bruder eines Schauspielers ist, vom komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, etc.

Seinen Höhepunkt findet das Spiel mit dem Rezeptionsverhalten der Leser im vorletzten Teil des Romans. Hier kommt es in New York zu einer Art Showdown zwischen Jonas und Evelyn, die im Laufe des Romans mehr und mehr ins Zentrum der Handlung drängt. Mit dieser zunehmenden Konzentration auf Evelyn etabliert sich eine neue oder nun zumindest deutlicher sichtbare auktoriale Erzählinstanz, die sich zwischen den realen Autor Jonas Hassen Khemiri und den fiktiven schreibenden Ich-Erzähler Jonas schiebt. Aus dem berichtenden Ich wird nun plötzlich ein recht aufdringliches Er, das Evelyn mit E-Mails bedrängt:

„Den 20 juni 2020 fick Evelyn ett underligt mail från en man som hon hade varit ytligt bekant med när hon var barn, han påstod att de var gamla vänner, han berättade att han hade ägnat hela sitt liv åt att försöka förstå sitt liv genom Evelyn och hennes systrar […]“ (631).

(Am 20. Juni 2020 bekam Evelyn eine merkwürdige E-Mail von einem Mann, mit dem sie als Kind flüchtig bekannt gewesen war, er behauptete, sie wären alt Freunde, er erzählte, er habe sein ganzes Leben damit verbracht, sein Leben durch das von Evelyn und ihren Schwestern zu verstehen […])

Dieser erzählerische Perspektiv- und Autoritätswechsel hat für Jonas wie für die Leser entscheidende Konsequenzen. Denn er stellt innerhalb der Diegese den Wahrheitsgehalt des bisher Gelesenen und speziell die von Jonas stets betonte enge Beziehung zu Evelyn in Frage. Glaubt man Evelyn, so entstammt Vieles, was Jonas über sie erzählt, nur Jonas’ Fantasie:

„Han tar det som ett skämt, men hon hade inte menat det som ett skämt. Istället börjar han prata om den gången när de såg ett Jas-plan krascha på Långholmen. Hon skakar på huvudet. / Inte en chans, säger hon. Det här minns jag tydligt. Jag var på Långholmen själv. Och sen skällde Ina ut mig för att jag hade lovat att stå på andra sidan Västerbron. / Jag var också där, säger han. / Det kanske du var, men vi var inte där ihop. Och om du var där såg du mig på avstånd och inbillade dig att du var där med mig. Det kanske är det som du har gjort hela livet, tittat på oss från utsidan och hoppats att du var med oss så mycket att det blev sant.“ (697)

(Er fasst das als Scherz auf, aber sie hat das nicht als Scherz gemeint. Stattdessen beginnt er davon zu reden, wie sie einmal einen Jetabsturz auf Långholmen gesehen hätten. Sie schüttelt den Kopf. / Keine Chance, sagt sie. Daran erinnere ich mich deutlich. Ich war selbst auf Långholmen. Und später schimpfte Ina mit mir, weil ich versprochen hatte, auf der anderen Seite der Västerbron zu stehen. / Ich war auch da, sagt er. / Vielleicht warst du das, aber wir waren da nicht zusammen. Wenn du da gewesen bist, dann hast du mich von weitem gesehen und dir eingebildet, dass du mit mir zusammen da wärst. Vielleicht hast du das dein ganzes Leben getan, uns von außen beobachtet und gehofft, dass du bei uns wärst, so sehr, dass es wahr wurde.)

Das, was innerhalb der Diegese wahr und was nur erfunden ist, bleibt so bis zum Ende des Romans zweifelhaft. Trotzdem bringt der letzte Teil des Romans und die enger werdende Beziehung zwischen Jonas und Evelyn etwas Klarheit in das Verwirrspiel, eine Klarheit allerdings, die nur innerhalb der Fiktion gilt und so die Möbiusschleife des schreibenden geschriebenen Ichs noch enger zieht. Die heterogene Form des Romans mit seinen vielen losen Enden wird innerhalb der Diegese nämlich als ein von Jonas vervollständigtes Monologprojekt von Evelyn erklärt, in dem sie zunächst einfach ihre Familiengeschichte erzählen wollte, das sich aber mit der Zeit verändert hat:

„Först ville jag berätta min historia, säger hon. Sen blev min historia kopplad till mina systrars historia, och våra föräldrars historia, och sen tänkte jag att det skulle handla om förbannelsen, och sen skyskraporna och sen förstod jag att hela monologen måste kretsa kring tid, så nu håller jag på att strukturera om allt material i sju delar, och varje del täcker en kortare och kortare tidsperiod, ett år ned till en minut, målet är att monologen ska reflektera känslan av att tiden går snabbare och snabbare när vi åldras.“ (699)

(Zuerst will ich meine Geschichte erzählen, sagt sie. Dann wird meine Geschichte mit den Geschichten meiner Schwestern verbunden, und mit der Geschichte unserer Eltern, und dann habe ich gedacht, dass es um den Fluch gehen müsste, und dann die Skyscraper, und dann verstand ich, dass der ganze Monolog um die Zeit kreisen musste, und jetzt strukturiere ich das ganze Material in sieben Teile um, und jeder Teil deckt eine kürzere Zeitspanne ab, von einem Jahr bis zu einer Minute, der Monolog soll das Gefühl reflektieren, dass die Zeit schneller und schneller vergeht, wenn wir altern.)

Jonas hat diese Form, das zeigt der fertige Roman Systrarna, übernommen oder, auch das deutet Evelyn an, gestohlen und zu eigen gemacht – genauso wie er sich das Leben der Schwestern zu eigen gemacht und versucht hat, sich in die Leben der Schwestern hineinzuschreiben und Wände zwischen Realität und Fantasie einzureißen. Dass durch diese Übernahme zwangsläufig eine andere Geschichte der Mikkolaschwestern entsteht, als sie Evelyn erzählen wollte, gesteht auch Jonas ein: „texten handlar ju mer om min bild av er än om era riktiga jag, säger han.“ (709; Der Text handelt eben mehr von einem Bild von euch als von euren richtigen Ichs, sagt er).

Als würde in diesem großen, virtuosen Roman nicht schon genug verhandelt, schreibt sich Khemiri mit dieser Frage nach den Rechten einer ausgedachten Figur auf ironische Weise in die typischen Debatten der Migrations- und Autofiktionsliteratur um Repräsentation und Persönlichkeitsrechte ein. Anders als andere sehr erfolgreiche skandinavische Autorinnen und Autoren der letzten Jahre diskutiert Khemiri diese Fragen allerdings in einem für ihn typischen spielerischen Rahmen mit vielen doppelten Böden. Und das gelingt ihm auch noch auf eine so elegante und feinfühlige Weise, dass der Text trotz aller postmoderner Verschachtelungen pure Unterhaltung und jede Menge Lesevergnügen bietet. Kurz, Khemiri ist mit Systrarna ein Roman gelungen, dem man gerne einen größeren Platz im Bücherregal einräumt.

(Patrick Ledderose, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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