Sie erzählte, sie erzählt. Helle Helle in Topform

Helle Helle ist zurück: in Topform und mit voller Kraft. Wer gedacht hatte, dass sie ihre Experimentierlust mit wohlbekanntem Material und exzentrischen Erzählperspektiven ausgeschöpft hatte, wird eines Besseren belehrt. Hier kommt ein krachend origineller Roman, der mit Recht die einhellige Begeisterung des dänischen Feuilletons geweckt hat. „Jeg misunder alle, der har denne roman til gode“ (Ich beneide alle, die diesen Roman noch vor sich haben), schreibt Lilian Munk Rösing in Politiken (2.9.2023). Hafni fortæller (Hafni erzählt) bekräftigt Helle Helles Position als Dänemarks derzeit wahrscheinlich führende Autorin. Auch auf dem deutschen Buchmarkt ist die Autorin keine Unbekannte; die meisten ihrer Romane sind von Flora Fink ins Deutsche übersetzt und vom Schweizer Dörlemann Verlag herausgegeben worden. Zuletzt sind die beiden bis vor kurzem jüngsten Romane de (sie) und Bob als Doppelband erschienen. Und auch auf Neues Lesen ist Helle schon vorgestellt worden (9. September 2011).

Auf den ersten Blick scheint das Projekt, genau wie etliche andere von Helles Romanen, ein reichlich ausgeklügeltes Konstrukt zu sein: Ein Erzähler erzählt, dass Hafni erzählt. Der Text lebt von der Spannung zwischen zwei weit verschiedenen Erzählebenen, die trotzdem unbeschwert ineinander übergehen. Auf der einen Ebene haben wir Hafni, die mit ihren eigenen Worten ”plappert” und sich immer wieder dafür entschuldigt. Wie eine Stimme aus dem Jenseits ruft sie eine Bekannte an, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, und berichtet ausführlich von diesem und jenem. Hauptthema ist eine soeben überstandene sog. ”smørrebrødsrejse” (Smörrebrödreise) quer durch Dänemark auf der Route Frederikssund, Roskilde, Ringsted, Korsør, Nyborg, Svendborg, Faaborg, Bøjden-Fynshav ”og slutteligt det store sønderjyske kaffebord i Gråsten med tre gange syv slags kager” (9; und am Schluss die große nordschleswigsche/südjütische Kaffeetafel in Gråsten mit dreimal sieben Arten von Kuchen). Damit ist der geographische Rahmen abgesteckt für ein spannendes literarisches Roadmovie, wo beinah nichts passiert wie geplant. Synchron mit Schilderungen von Hotelzimmern, Jugendherbergen, Räucherlachs, Wienerschnitzeln, Entenpasteten, Labskaus und Fährüberfahrten werden existentielle Probleme wie Liebe, Ehe, Mutterschaft und Tod behandelt. Was soll eine 48-jährige Frau mit ihrem Dasein anfangen nach dem Auszug der Kinder und nach der bevorstehenden Scheidung? Wenn sie ihren langjährigen Traum von einer ”smørrebrødsrejse” quer durch Dänemark verwirklicht hat, was dann?

Auf der übergeordneten Erzählebene haben wir eine diskrete und subtil sprachbewusste Erzählinstanz, deren Kunstgriffe und sparsam vorgebrachte Metareflexionen als ein Gegengewicht zu Hafnis plapperndem small talk fungieren. Zusammen ergeben die beiden Stimmen eine geniale Kakofonie, die dem leicht zugänglichen Text Zweifel und existentielle Fragen hinzufügen. Oft in einem Satz ineinander übergehend, unterscheiden sich die Erzählebenen nur durch den Tempusgebrauch, deren ständiger Wechsel einen verfremdenden Effekt mit sich führt: ”Hafni siger: Så findes den talemåde altså i virkeligheden, hun sagde: Hvad for noget af det?” (33; Hafni sagt: Dann gibt es diese Ausdrucksweise also in der Wirklichkeit, sie sagte: Was davon?) Die beiden Ebenen kommunizieren wie ein raffinierter narrativer Bikini mit viel Luft in der Mitte, mit gigantischen Leerstellen, die die Lesenden – wie bei Helle üblich – füllen müssen. Das klingt etwas absurd, funktioniert aber ebenso gut wie Helles frühere exzentrische Erzählkonstruktionen und Experimente. Nur sie kann es sich leisten, einen Roman mit einer so extremen in medias res-Technik einzuleiten, wo selbst der Anfangsbuchstabe des ersten Wortes klein geschrieben wird: ”at hun skal skilles” (7; dass sie sich scheiden lassen wird).

Der Erzählrahmen ist auf einem Rastplatz in der Nähe von Ringe angesiedelt, von dem aus sie ihre Freundin anruft. Der Ortsname ist mehrdeutig, einerseits kann das Wort (als Adjektiv gelesen) gering, minderwertig bedeutet, andererseits ist es der Plural des Substantivs Ring oder Kreis – alles passt zu Hafnis Situation. Als Verb gelesen bedeutet es anrufen, und genau dieser Wortbedeutung kommt Hafni nach, in dem sie ihr Telefon zur Hand nimmt. Der Anlass für einen Anruf ist die zufällige Begegnung mit Bob, einem gemeinsamen Bekannten, den sie auf der Fähre getroffen hat. ”Hun siger: Nu må du ikke blive ked af det” (168; Sie sagt: nun darfst du nicht traurig sein), denn Bob ist der Exfreund der Freundin.  Mit dieser Bemerkung kurz vor Ende des Textes schreibt sich der Roman ein in ein Gewebe, das in den zwei vorherigen Texten (de (2018) und BOB (2021)) bereits geknüpft wurde. Die diskreten Andeutungen machen Hafni fortæller zum dritten Band einer Trilogie, denn die Hauptperson ist eine alte Bekannte. In de war Hafni eine Nebenfigur, die bewunderte Freundin der namenlosen Hauptperson am Gymnasium, und die Titelfigur in BOB ist also der Exfreund dieser Figur. Das bedeutet, dass die Empfängerin von Hafnis Redestrom mit großer Wahrscheinlichkeit die rätselhafte Erzählerin von BOB ist und auch in diesem Text wieder zur übergeordneten Erzählinstanz wird, die erstaunlicherweise selbst wiederum nicht in Erscheinung tritt.

Es verwundert nicht, dass Bob, der mittlerweile Mitte vierzig sein dürfte, Vater zweier kleiner Mädchen ist: ”[…] jeg kom jo sent i gang” (168-69; ich habe ja spät angefangen). Der gutaussehende kinderliebe Mann zögerte lange auf der Schwelle ins Erwachsenenleben, BOB erzählte nur von einem seiner vielen Jahre der Unentschlossenheit. Wir konnten ihn als Lesende gut leiden, daher waren wir froh, ihn nun in glücklichen Umständen wiederzusehen. Und unsere Rezeptionshaltung zeigt die Wirkung von Helles Fiktionsaufbau: die Schaffung von psychologischer Nähe einerseits und die Repräsentation eines bestimmten Milieus und einer Generation andererseits. Doch es gibt noch einen ganz anderen Effekt dieses Verfahrens, der die Problematisierung des Fiktionsstatus mit sich führt: Das Verhältnis von Fiktion und Realität wird nicht nur porös, wenn man literarische Figuren als reale Personen zu erkennen glaubt, sondern auch, wenn eine Figur auftaucht, die gewissermaßen ein Zitat aus einem anderen Text ist. Helles Erzählverfahren treibt also ein Verwirrspiel mit uns als Lesenden, ihre Alltagssprache deckt Mehrdeutigkeiten auf (Ringe), ihre Erzählverfahren fordern etablierte Lesegewohnheiten heraus, indem sie Erzählniveaus und Fiktionsgrenzen verwischen.

Doch zurück zu Hafni. Im Gegensatz zu Bob ist sie irritierend und keine Sympathieträgerin. In de war sie die smarte und selbständige Freundin, doch jetzt verstehen wir, dass ihre Coolness nur Fassade war. Hafni erlebt nicht nur eine Midlife-Krise, sie leidet an einer ganzen Reihe von ernsten Phobien, ihr Gefühlsleben ist von Scham beherrscht: ”Evig flovhed forfølger hende” (16; Ewige Peinlichkeit verfolgt sie). Hafni wird von einer beinahe krankhaften Angst vor Blamagen geplagt, in vielen Nächten wird sie von Erinnerungen an soziale Fehltritte und Versprecher heimgesucht sowie an Szenen, in denen sie unbeabsichtigt andere Menschen verletzt hat. Ihre Kühnheit war nur eine Methode, den Schein von Normalität aufrecht zu erhalten, die zu immer wahnsinnigeren Handlungen führt. Deren Beschreibung ist gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen, weckt unser Mitgefühl und ist dennoch ungeheuer komisch.

Sie wird fortwährend von rätselhaften Angstanfällen geplagt, von vorübergehenden depressiven Zuständen. Wie so viele von Helles Protagonistinnen will sie eine andere sein: ”Jeg vil ikke være mig./ Jeg vil lave mig selv om./ Jeg ved ikke, hvordan jeg skal lave mig selv om” (10; Ich will nicht ich sein./ Ich will mich ändern./ Ich weiß nicht, wie ich mich ändern kann). Die Reise ist ein vergeblicher Lösungsversuch, denn die Probleme reisen natürlich mit, und die Heldin bewegt sich von einer Minikatastrofe in die nächste. Die eine Szene, in der Hafni wirklich nicht sie selbst ist, ist alles andere als ein euphorisches Erlebnis der Entkörperlichung, sondern geradezu eine Kulmination der Peinlichkeiten: missglückter Sex im betrunkenen Zustand im Freien. Wie so oft gehen Helles Frauenfiguren mit dem Falschen ins Bett. Hier ist es ein Chemielehrer mit einer gewagten Badehose: ”Det var ikke mig. Hafni bag en busk med en kemilærer, hun så det hele oppefra. Det var ikke mig, jeg stod ikke sådan på Sørup Herregaard. Han havde de orange badebukser på under sine jeans.” (34; Das war nicht ich. Hafni hinter einem Busch mit einem Chemielehrer, sie sah das Ganze von oben. Das war nicht ich, so stand ich nicht auf dem Herrenhof Sørup. Er hatte die orangefarbene Badehose unter seiner Jeans an.) So lakonisch, distanziert und unprätentiös kann verunglückter Sex geschildert werden, und so diskret, dass mehrere Rezensenten behaupten, es gäbe gar keinen Sex in diesem Roman.

Hafnis Reaktion stellt eine Parallele zu der Roars dar, dem Erzähler aus dem Roman Hvis det er (Wenn du magst) aus dem Jahr 2014, dessen Eröffnungssatz wie ein Echo in dem obigen Zitat anklingt: ”Det er ikke mig. Jeg står ikke sådan bag et træ i skoven” (7; ”Das bin nicht ich. Niemals stehe ich so hinter einem Baum im Wald”; 5). Genau wie Hafni hat der gehemmte und sozial unangepasste Mann Roar sich in seinem Leben (und im Wald) verlaufen und ist ein merkwürdig passiver, von Existenzangst geprägter Betrachter. Kenner von Helles Texten stoßen also wiederum auf ein Selbstzitat, auf eine Verknüpfung von Text zu Text, von zwei fiktiven Welten.

Da die Spannung zwischen Hafni und der Erzählerin im Laufe des Romans intensiver wird, kann die merkwürdige Romanheldin vielleicht sogar als eine Selbstparodie der Autorin fungieren: ”[…] hun har et fortællemæssigt problem, bagatelgrænsen er minimal” (sie hat ein erzähltechnisches Problem, die Grenze zur Bagatelle ist minimal). Aber gerade Hafnis permanenter sprachlicher und existentieller Krisenmodus trägt zur Komik des Textes bei. Vielleicht ist Hafni sowohl eine narrative Marionette als auch ein Metakommentar zu Helles Erzähltechnik und deren Rezeption: ”Det er blevet hende fortalt, at hun husker alt, men tænker småt, hvilket er sandt” (52; Man hat ihr erzählt, dass sie alles erinnert, aber klein denkt, was wahr ist). Zu dem klassischen, autoritativen Erzähler, wie wir ihn z.B. von Karen Blixen (die sich wiederholt als ”storyteller” bezeichnet hat) kennen, wird eine Distanz etabliert: ”Jeg er ingen storyteller. Selv mit kolon kommer som ventet” (34; Ich bin kein storyteller. Sogar mein Doppelpunkt kommt wie erwartet). Doch der Doppelpunkt ist bekanntermaßen ein Zeichen der Schrift und nicht der Sprache, so dass dieser Satz eher auf die Autorin Helle als auf die Figur Hafni verweist. Das Verwirrspiel zwischen den Erzählniveaus setzt sich fort.

Doch es gibt auch Anhaltspunkte, Verstehenshilfen wie z. B. der subtile Verweis auf Herman Bang. Die Kritik hat mehrfach auf die Parallele zu dem bekannten Autor der Jahrhundertwende aufmerksam gemacht, mit dem Helle einen verknappten, aber andeutungsreichen und suggestiven Stil und den diskreten Humor teilt. Im Laufe der Reise besucht Hafni Bangs Geburtshaus auf Alsen, und das auch noch am Geburtstag des Meisters. Ich (Dag Heede) kann mir nicht verkneifen zu erwähnen, dass Hafni im Pastorat von Asserballe auf eine merkwürdige Loge stößt, die sich die Bangschen Morgenmänner nennt und zu der ich selbst die Ehre habe zu gehören. So wird wiederum die Fiktion (der Figuren) in die Realität (eines Ortes) überführt und ein Angebot an die Lesenden zur Identifikation gemacht. Anderen dänischen Lesern und Leserinnen wird es bei anderen Szenen in Svendborg, in Korsør oder auf der Fähre von Bøjden nach Fynshav so gehen, im Hotel in Roskilde oder in dem Campingplatz in Nyborg.

Die Konkretheit der Orte, Dinge und vor allem der Mahlzeiten, all der Wienerschnitzel, Schnäpse und Hühnersalate führen zu einer physischen Präsenz des Erzählten, einer Materialität, die Sinnlichkeit und Lebensfreude vermitteln, allerdings auch auf die Gefahren einer Ersatzbefriedigung verweisen. Hafni isst und trinkt für ihr Leben gern, aber oft zu viel und allzu oft allein. So sind die Mahlzeiten Erfüllung und Sehnsucht zugleich. Zudem steht die Konkretheit der Essensszenen im krassen Gegensatz zu der reservierten Erzählhaltung, die Hafni und die Erzählerin teilen. Sie sind keine allwissenden Erzähler mit Überblick und einem Interpretationsmonopol. Ihrer beider Verhältnis zur Sprache ist zögernd, zweifelnd, prüfend, vorsichtig, entschuldigend, gelegentlich stammelnd und permanent die Worte prüfend. Das Ergebnis ist ein flimmerndes, fragmentiertes Puzzle einer Erzählung, in dem über die Hälfte der Teile fehlt. Die Ehe wird nur in Umrissen durch das Anreißen minimaler Szenen und beinahe mikroskopische Erinnerungsfetzen gezeichnet: der Heiratsantrag während eines Kinobesuchs in einem falschen Film, und das Jawort als ein Fehler; die Gartenszene, in der sie ankündigt, sich scheiden lassen zu wollen; eine verschlissene Jacke mit einem rätselhaften Fleck. Auch die Kinder zeichnen sich durch Abwesenheit aus, werden repräsentiert durch einen Anrufbeantworter in Aarhus bzw. Kopenhagen. Die Auslassungen kulminieren in Passagen mit einer staccatoartig aufzählenden Syntax, die Erinnerungsfetzen ihres Lebens vermitteln: ”Flovt at dække bord på forhånd. Flovt at vente bag ruden. Flot med arrangerede bøger. Flovt med pletfri komfur, nyt lys i stage.” (77; Peinlich den Tisch vorher zu decken. Peinlich, am Fenster zu warten. Peinlich mit arrangierten Büchern. Peinlich mit fleckenfreiem Herd, neue Kerze im Kerzenständer). Oft sind diese Passagen im Infinitiv formuliert und verraten auf diese Weise mangelnde Handlungskraft, die Wiederholungen lassen ihr Leben als von Zwängen reglementiert hervortreten.

Wie nicht anders zu erwarten, ist das Finale der Reise eine gigantische Antiklimax. Der Gasthof in Gråsten serviert die berühmte Kaffeetafel nur jeden zweiten Sonntag, und Hafni kommt natürlich am verkehrten Sonntag an. Der Wendepunkt der Reise und Hafnis Tiefpunkt ist jedoch nicht die verpasste Kaffeetafel, sondern das Dorf Pøl, ein weiterer sprechender Ortsname, der den Endpunkt der Reise im doppelten Sinn in einer Pfütze stattfinden lässt. Denn in einer absurden Jagd nach dem Besitzer eines in Roskilde vergessenen Mobiltelefons verirrt sich Hafni in einem Dorf auf Alsen, wo sie in einem verlassenen Haus gegen eine Leiter stößt, über ihr Schnürband stolpert und auf der Nase in einer Pfütze landet: ”På nær en minimal del af hagen var hele hendes forside dækket af mudder” (157; Abgesehen von einem minimalen Teil des Kinns war ihre gesamte Vorderseite voller Dreck). Zu allem Überfluss befindet sie sich auch noch in dem falschen ”pøl”, auf Alsen gibt es nämlich zwei Orte mit diesem merkwürdigen Namen. Hafni muss offenbar ganz am Boden liegen, bevor es weitergehen kann mit ihrem Leben. Sie ist nämlich kurz vorher auch noch bestohlen worden und musste ihre verschmutzte Kleidung an einem Kleidercontainer austauschen. Wenn also Bob auf der Fähre zu ihr sagt ”Hafni, hvor ser du godt ud” (Hafni, du siehst aber gut aus), sagt das mehr über seine Freundlichkeit als über das heruntergekommene Aussehen Hafnis aus.

Und dann sind wir also wieder auf dem Rastplatz in Ringe, einer der vielen Leerstellen des Textes. Er liegt im Schatten eines Grabhügels, und Hafni denkt über einen Besuch nach, vielleicht als ein memento mori, oder besser ein memento vivere. Die Konfrontation mit dem Tod ist bei Helle oft eine Einladung, sich dem Leben zu stellen. Der letzte Satz des Romans lautet ”Jeg skal også høre, hvordan du har det” (Ich wollte auch hören, wie es dir geht), verweist möglicherweise auf Helles nächsten Roman und spricht auch die Lesenden an. Nach zwei aufeinanderfolgenden Lektüren dieses subtilen und tragikomischen Romans ist unsere Antwort: bereichert.

Helle Helle: Hafni fortæller, Gutkind, 2023.

(Dag Heede, Syddansk Universitet & Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität, München)

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»Was wir sehen, blickt uns an.«

Vom Wiederfinden verschwundener Familien

Gewinner des diesjährigen Literaturpreises des Nordischen Rates ist Joanna Rubin Drangers Ihågkom oss till liv (2022, Erinnere uns zum Leben). Als Comic hebt sich das Buch schon in seiner äußeren Form von den übrigen Nominierungen ab. Dass nun ausgerechnet dieses Buch zum Aushängeschild der aktuellen skandinavischen Literatur wird, ist zu begrüßen. Denn da es von Juden und Jüdinnen, vom Holocaust und dem Leben mit Antisemitismus erzählt, wird der Preis  – nach nicht einmal einem Monat seit dem Mord von 1400 Israelis durch die Hamas – zu einem politischen Statement. Leider – Verpasste Chance! – haben die Regisseure der Preisverleihung am 31.10. in der Osloer Oper sich dagegen entschieden, den Glamour der Veranstaltung zu gefährden.

Der etwas sperrige Titel zitiert eine Formulierung – »Zochreinu Le-Chayim« – aus dem jüdischen Gebet Amidah, das an den zehn Tagen zwischen Rosh ha-Shanah (dem Neujahrstag des jüdischen Kalenders) und Yom Kippur (dem Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Feiertag) gebetet wird: »Erinnere uns zum Leben, Herr, der will, dass wir leben, und schreibe uns in das Buch des Lebens, um deinetwillen«!

Auf dem Umschlag von Drangers über vierhundert Seiten starkem großformatigen Bildband treibt der Titel Ihågkom oss till liv Blätter und kleine Blüten aus. Diese floralen Elemente sind nicht gleichmäßig verteilt, sondern sie nehmen mit dem Buchstabenverlauf zu. Zeigen sich auf dem »Ihågkom« (›Erinnere‹) erst am Fuße des letzten Buchstabens zaghaft zwei Blättchen und eine Knospe, rankt das Pflänzchen am Gestänge des folgenden Wortes »oss« (›uns‹) immer weiter in die Höhe, bis »till liv« (›zum Leben‹) ganz und gar von pflanzlichem ›Leben‹ überwuchert ist. In der Überschrift wird die Bitte des Gebets also erhört. Und tatsächlich präsentiert sich das Buch als ein säkulares Erinnerungsprojekt, das dem Vergessen entgegenwirken will. Unter der Überschrift blättert eine schwarz-weiß gezeichnete Figur ein Fotoalbum durch; diese Figur wird auf den kommenden 400 Seiten Joanna Rubin Dranger repräsentieren; außerdem ist auf der Rückseite und der hinteren Innenseite des Umschlags ein Teppich von Fotos ausgebreitet: ›Meine Tante Susanne und ich als Kind‹, ›Perla, ca. 1938‹, ›Mein Großvater David als junger Mann mit Freunden oder Verwandten, ca. 1919‹, ›Faivel und Sonia im Sommer 1939‹. Erinnere uns zum Leben!

Die graphische Gestaltung des Titels scheint also eine positive Entwicklung – vom Tod zum Leben – zu verheißen. Doch was das Buch dann in seinen sechs Kapiteln erzählt, geht eher die entgegengesetzte Richtung: Joanna Rubin Dranger rekonstruiert die Geschichte ihrer jüdischen Familie und sie erzählt gleichzeitig von dieser Rekonstruktionsarbeit, davon, wie sie mit lange gekannten und neu gefundenen Verwandten spricht, wie sie Archive durchforstet, wie Fotos und Tonbandaufnahmen schon gestorbener Generationen auftauchen, wie sie zu Recherchen nach Israel und in die USA reist. Doch das Erinnern und Vergegenwärtigen führt nicht dazu, dass das Leben aufblüht, vielmehr versinkt die Künstlerin angesichts der Schwere dessen, was sie da zutage fördert, in Hoffnungslosigkeit:

Nachdem ihr Urgroßvater Aron zwei Pogrome nur knapp überlebt hat, wandert er mit seiner Familie aus dem damaligen Zarenreich nach Schweden aus; damit gehörte sie zu den über 200.000 Juden und Jüdinnen, die zwischen 1905 und 1906 aus Russland emigrierten. In der neuen Heimat floriert die Familie in jeder Hinsicht; Aaron arbeitet sich von einem einfachen wandernden Händler zum Besitzer eines großen Kleidergeschäfts in Göteborg mit zahlreichen Angestellten hoch, die Kinder wachsen heran und gründen eigene Familien, sie finden Anschluss in der Synagoge und werden Teil der schwedischen Gesellschaft. Doch der Antisemitismus nimmt stetig zu, auch in Schweden. Obwohl die Familie von Aron und Rebekka sowie die ihrer sechs Kinder im neutralen Schweden der Shoa entgingen, lebten sie doch in der zermürbenden Unsicherheit, ob die schwedische Regierung dem Druck des mächtigen Nachbarn würde standhalten können und wollen, und in steter Angst um ihre nicht-schwedischen Verwandten. Zwar gibt es Geschichten, in denen es dem einen oder anderen gelingt, die KZs und sowjetischen Arbeitslager zu überleben und in den eben gegründeten Staat Israel zu migrieren; oder die von David und Lova, die mit ihren zwei Töchtern aus Oslo fliehen, getrennt werden und auf verschlungenen Wegen über Riga, Moskau und Tokyo nach San Francisco kommen, wo die Familie wieder vereint wird. Doch es gibt eben auch »Familjen som försvann«, ›Die Familie, die verschwand‹ – so der Titel des letzten und bei weitem längsten Kapitels, das den osteuropäischen Verwandten gewidmet ist. An einigen Fotos eines namenlosen kleinen Jungen, eines Cousins von Joannas Mutter, dessen Spuren sich in Polen verlieren, verdichtet sich das Grauen:

»Medan jag drunknar i all tillgänglig information om det fruktansvärda som Polens judar utsattes för blir mitt yngsta barn Perla sjuk. […] Det är varken allvarligt eller farligt, bara helt vanliga vintersjukdomar, men jag kan inte låta bli att tänka på hur det hade varit om det var där och då, vilket förstås var precis vad som hände – att barn och vuxna blev sjuka i ghettot, där det var brist på mat, trångt, med dåliga möjligheter till hygien, mediciner och sjukvård. Om ett barn eller förälder blev sjuk under en deportation … […] Att inte kunna skydda sina barn. Att inte kunna skydda sina barn. Att inte kunna skydda sina barn. Till slut håller mörkret på att äta upp mig. Jag inser att jag inte kan leta mer. Inte nu.« (S. 341)

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Während ich in all den verfügbaren Informationen über die Schrecken, die den polnischen Juden angetan wurden, ertrinke, wird mein jüngstes Kind Perla krank. […] Es ist nichts Ernstes oder Gefährliches, nur eine gewöhnliche Winterkrankheit, aber ich kann nicht umhin, daran zu denken, wie es gewesen wäre, wenn es dort und damals passiert wäre, denn natürlich passierte genau das – dass Kinder und Erwachsene im Ghetto krank wurden, wo es an Nahrung mangelte, wo es überfüllt war, es kaum Zugang zu Hygiene, Medizin und medizinischer Versorgung gab. Wenn ein Kind oder ein Elternteil während einer Deportation krank wurde … […] Nicht in der Lage zu sein, seine Kinder zu schützen. Nicht in der Lage zu sein, seine Kinder zu schützen. Nicht in der Lage zu sein, seine Kinder zu schützen. Am Ende frisst mich das Dunkel auf. Ich verstehe, dass ich nicht mehr suchen kann. Nicht jetzt.

An dieser Stelle bricht Dranger ihre Nachforschungen und der Comic seine Erzählung ab. Die nächste Doppelseite zeigt eine einfach gemalte Seelandschaft (sie bildet auch den Hintergrund des Titelbilds) und dann folgen mehrere Seiten mit unscharfen Wolkenbildern. Als Dranger ihre Recherchearbeit wieder aufnimmt, melden sich Zweifel, ob eine talking cure tatsächlich zur Heilung führen kann: »Jag undrar, om mamma hade levt och visste vad jag fått reda på, hade hon velat veta? Jag är inte säker.« (S. 349 – ›Ich frage mich, wenn meine Mutter noch am Leben wäre und wüsste, was ich herausgefunden habe, ob sie es hätte wissen wollen? Ich bin mir nicht sicher.‹)

Versteht man die einstmals sakrale Bitte Ihågkom oss till liv/Erinnere uns zum Leben ausschließlich als eine säkulare Forderung an die Comickünstlerin, dann handelt es sich um eine untragbare Überforderung. ›Vergiss uns, damit wenigstens Du leben kannst‹, wäre wohl der angemessenere Titel.

* * *

Johanna Rubin Dranger ist Comickünstlerin und Illustratorin. Sie wurde bekannt mit einer kleinen Zahl Comics, die in schlichtem und expressivem Strich die kleinen »großen« Probleme junger Erwachsener in einer urbanen Wohlstandsgesellschaft behandeln. Fröken Livrädd & Kärleken (1999, ›Fräulein Überängstlich & die Liebe‹) erzählt vom Liebeskummer und den daraus erwachsenden Selbstzweifeln; in Fröken Märkvärdig & Karriären (2001, ›Fräulein Merkwürdig & die Karriere‹) haben sich die Zweifel darauf verschoben, ob man den beruflichen Erwartungen gewachsen ist; Askungens syster (2005, ›Aschenputtels Schwester‹) umkreist stereotype Schönheitsvorstellungen; und in Alltid redo att dö för mit barn! (2008, ›Immer bereit, für mein Kind zu sterben!‹) thematisiert Dranger die überspannten Erwartungen an sich selbst, mit denen sich werdende Mütter das Leben schwermachen. Von 2007 bis 2017 arbeitete Dranger als Professorin für Illustration an Konstfack, der staatlichen Hochschule für Kunst, Design und Kunsthandwerk in Stockholm. In dieser Zeit setzte sie sich in der Lehre intensiv mit Rassismus in den Bildmedien auseinander, eine Beschäftigung, die 2017 in Bilders makt (Die Macht von Bildern) resultierte. Es handelt sich dabei um ein Internet-Archiv zu rassistischen Stereotypen, das die Stiftung Mångkulturellt centrum (Multikulturelles Zentrum) betreibt und das Dranger gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Moa Matthis redaktionell betreut (bildersmakt.se).

So liegt es denn nahe, dass man Ihågkom oss till liv auch als eine Auseinandersetzung mit dem Medium des Bildes lesen kann. Das beginnt schon mit dem quadratischen Format des Buchs und seiner Übergröße. Beides imitiert genau das Fotoalbum, das die Figur Joanna auf dem Titelbild aufschlägt. Die Ästhetik des Fotoalbums setzt sich auch im Inneren fort. Denn Dranger erzählt nicht, wie es für einen Comic klassischerweise üblich ist, in einer Abfolge von Bildern, die das lesende Bewusstsein zu einem Handlungsverlauf zusammensetzt. Auch solche Passagen gibt es vor allem dort, wo Dranger von ihren Recherchearbeiten erzählt; der größte Teil von Ihågkom oss till liv aber arrangiert die Geschichte der Vorfahren als eine Collage aus Texten, Bildern, Ausschnitten aus Zeitungen und anderen zeitgeschichtlichen Dokumenten – eben so, wie man es auch in einem Familienalbum tun würde. Ein Großteil der Bilder sind Zeichnungen, die erkennbar Fotografien nachzeichnen, wenn sie nicht gar (wie im Beispiel hier) mit einem Rahmen versehen sind. Auch wählt Dranger eine Schrifttype, die einem Handlettering ähnelt und so an die handschriftlichen Kommentare in einem Fotoalbum erinnern:

Ein Fotoalbum dient in der Regel der Selbstinszenierung einer Familie. Dort werden (neben dem einen oder anderen Schnappschuss) inszenierte Bilder von vermeintlichen Höhepunkten wie Ferien, Ausflügen und Besuchen, Hochzeiten, Geburten und Schulabschlüssen zu einem erinnerungswürdigen Ideal arrangiert. Geht man gar zum Fotografen, wählt man Kleidung und Mimik bewusst aus. In ein Album klebt man solche Eindrücke ein, die man sich selbst und seinen Kindern überliefern will. Und genau solche Fotos und Fotoalben tauchen im Laufe von Joannas Recherchen immer wieder auf. Doch was man über die dort abgebildeten Menschen sagen kann, steht in scharfem Kontrast zu der heiteren Stimmung, die auf dem Foto dargestellt wird: Auf Seite 278 sehen Joanna und Azriela, eine entfernte Tante, ein Fotoalbum an, das Azriela von ihrer Mutter geerbt hat. Darin sind auch Fotos von Moshe, einem Bruder von Joannas Großvater und Azrielas Vater. War er denn Fotograf?, fragt Joanna; und Azriela antwortet:

– Ja, genau! Hier, ich zeig Dir mal was. Moshes eigene Shana tova-Karten – Du weißt, Frohes neues Jahr … Sieh mal!  – Oh! Die sind ja ganz wunderbar!
– Moshe war auch ehrenamtlich beim Roten Kreuz. Als der Krieg anfing, wurde jemand auf der Straße direkt vor ihrem Haus verletzt. Moshe sprang die Treppen hinunter, um zu helfen und wurde dann selbst von den Polen umgebracht – es war eine antisemitische Attacke. Und dann sprang auch ihr Vater Eliezer auf die Straße und da wurde auch er umgebracht. Es gab ja so viel Antisemitismus in Polen!

Was also ›sagt‹ so ein Foto? ›Frohes neues Jahr!‹ oder ›Er wurde von den Polen umgebracht.‹?

* * *

Das gesamte erste Kapitel Min moster Susanne & Lotte Laserstein (Meine Tante Susanne & Lotte Laserstein) ist ganz der Frage gewidmet, wer oder was das Bild eines anderen abgeben kann. Die erste Seite zeigt ein Zimmer in der Wohnung von Joannas Großeltern; an der Wand ein Porträt von Joannas Tante Susanne in einem Alter von sieben Jahren; davor die etwa gleichaltrige Johanna, wie sie über ein Blatt gebeugt zeichnet. Dass die beiden in einem Abbildungsverhältnis stehen, darüber lässt die Erzählerin keinen Zweifel: »Sen jag var liten har jag identifierat mig med Susanne« (S. 13, ›Schon als kleines Kind habe ich mich mit Susanne identifiziert‹). Und dann folgt dieses Bild eines Bildes:

Auf bestimmten Fotografien sind sich Susanne und ich so gleich, dass ich kaum erkennen kann, ob sie es ist oder ob ich es bin.Susanne, aber sie sieht aus wie ich als Erwachsene.
Ich als Kind auf Susannas Schoß.

Äußere Ähnlichkeit und innere Identifikation zwischen Joanna und ihrer Tante haben eine tragische Dimension. Denn auch Susanne hatte sich mit der ›verschwundenen Familie‹ beschäftigt. Mit 48 Jahren erliegt sie deshalb einer Depression. Damit ist auf den ersten Seiten die emotionale Gewalt einer traumatisierenden (Post-)Erinnerung benannt, die auch Joanna am Ende des Buches einholen wird.

Wenige Seiten später wird die Kette der Ähnlichkeiten um weitere Bilder und Personen verlängert:

– Mamma! Schau mal!
Jetzt hängt Susannes Porträt bei mir zu Hause. Meine Tochter Perla ist genauso alt, wie es Susanne auf dem Bild war.

Wen aber zeigt die Zeichnung, die die kleine Perla angefertigt hat? Ist es sie selbst oder hat sie ihre Tante abgezeichnet? Wenn Perla ihre Mutter auffordert »Mamma! Titta!« (›Mama! Schau mal!‹) und ihre Zeichnung unter das Porträt von Susanne hält, will sie dann darauf hinweisen, dass ihre Zeichnung das Porträt verdoppelt hat, oder will sie zeigen, dass es sich bei ihrer Kinderzeichnung um ein Selbstporträt handelt, das dem Bild von Lotte Laserstein ähnelt? Handelt es sich bei Perlas Zeichnung also um die Abbildung einer Person (welcher? Susannes oder Perlas?) oder handelt es sich um die Abbildung eines Bilds (Lasersteins Gemälde)? Drangers Zeichnung von Perlas Zeichnung bleibt in all diesen Fragen bewusst unklar.

Dann aber erzählt der Comic über viele Seiten hinweg die Geschichte der Malerin von Susannes Porträt. Es handelt sich um eine der wichtigsten Vertreter:innen der Neuen Sachlichkeit, um Lotte Laserstein (1998-1993), die 1937 eine Ausstellung in Stockholm nutzte, um als ›Dreivierteljüdin‹ Deutschland für immer zu verlassen. In Schweden schlägt sie sich mit Porträtmalerei durch und erst 1987 findet sie die Anerkennung, die ihr gebührt. 1993 stirbt Laserstein, im selben Jahr, in dem sich Susanne das Leben nimmt. Die Grabsteine der beiden, die Dranger auf den Seiten 34 und 35 gegenüberstellt, werden zu weiteren Repräsentationen der Toten. Doch diesmal handelt es sich nicht um ikonische, sondern um indexikalische Zeichen, also um Zeichen, die den Personen, auf die sie hinweisen, nicht ähnlich sehen, sondern wie ein Pfeil auf sie, bzw. ihre letzte Ruhestätte hinweisen. Doch dass Lotte Laserstein so großen Platz in Drangers Erinnerungscomic bekommt, hat noch einen anderen, sehr viel gewichtigeren Grund:

[W]ährend einige der Porträts, die Lotte in Schweden gemalt hat, wohl nicht in der Lage waren, ihre volle Hingabe zu aktivieren, und fast zu zeigen scheinen, wie die Auftragsarbeiten ihre künstlerische Geschliffenheit auszehrten, glaube ich, in dem Porträt von Susanne die gleichen Augen und den gleichen Blick zu sehen wie in Lottes Selbstporträts. Bilde ich mir das nur ein? Oder könnte es so gewesen sein, wie ich es mir vorstelle, dass Lotte in dem kleinen schwedisch-jüdischen Mädchen, das im Schatten des Holocaust aufgewachsen ist, etwas von sich selbst wiedererkannt hat?

Aus dem Porträt blickt also nicht nur Susanne, sondern Joanna wird auch von Lotte Laserstein angeblickt. Und da sie, Joanna, der Tante zum Verwechseln ähnlich sieht, blickt – so die intonierte Bildlogik des Kapitels – durch die Augen ihrer Tante bzw. der Malerin auch Johanna aus dem Porträt auf sich selbst. Wer hier Subjekt/Malerin/Comickünstlerin und wer Objekt/Modell/Zeichnung ist, verschwimmt in dieser komplexen Konstellation, deren Pointe der Kunsthistoriker George Didi-Huberman 1990 auf die Formel Ce que nous voyons, ce qui nous regarde gebracht hat: Was wir sehen, blickt uns an.

Da es sich bei dem ersten Kapitel um eine Art Vorwort handelt, das der Rekonstruktion der Familiengeschichte vorangestellt ist, setzt die Reflexion der verschlungenen Repräsentationswege des Bildmediums den Basso continuo für das gesamte Erinnerungsprojekt. Dort, wo Joanna über die Fotografien in die Augen der verschwundenen Familienmitglieder blickt, blickt aus diesen Augen sie selbst zurück. Und da sie diese Fotos abzeichnet, hat sie ihren eigenen Blick in die Augen der Fotografierten gelegt, der wiederum uns – die Rezipient:innen von Ihågkom oss till liv – anblickt. In diesen Zeichnungen – so die künstlerische These des Buchs – soll man die Künstlerin selbst sehen, so wie Joanna die Malerin Laserstein in den Augen von Susannes Porträt erblickt. Das Schicksal der Verschwundenen verschmilzt mit dem Joannas, und wir sehen dieser Verschmelzung zu. Johannas Leben verlöscht in dem Mord an ihren Verwandten und das Leben der Verwandten wird in Johannas Leben gerettet. Zochreinu Le-Chayim!

Joanna Rubin Dranger: Ihågkom oss till liv, Albert Bonniers Förlag, 2022.

(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Die Bitterkeit von Quitten

Kaum ein Roman hat in den letzten beiden Jahrzehnten in Dänemark soviel massenmediale Aufmerksamkeit erregt wie Knud Romers 2006 erschienener Titel  Den som blinker er bange for døden (ins Deutsche übertragen als Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod, 2009). Nach einer Karriere in der Reklamebranche sowie seinem Wirken als meinungsstarker Journalist und als Gelegenheitsschauspieler (in Lars von Triers Idioterne (1998, Die Idioten)) debütierte der damals schon 46-jährige mit einem Roman, der zu einer autofiktionalen, wenn nicht sogar autobiographischen Lektüre einlud: über das Aufwachsen des Erzählers im provinziellen, xenophoben Nykøbing/Falster und über dessen Mutter, eine Deutsche, die nach dem Krieg aus Liebe nach Dänemark übersiedelte und dort dem virulenten Deutschenhass der dänischen Kleinstädter mit Hilfe von Alkohol zu entfliehen suchte.

Wie historisch korrekt die geschilderten Ereignisse tatsächlich waren, wurde in der dänischen Presse kontrovers diskutiert. Romer benutzte die Debatte nicht zuletzt, um die lange identitätskonstituierende Abgrenzung zum südlichen Nachbarn zu hinterfragen und stattdessen die dänisch-deutschen Gemeinsamkeiten zu betonen. In einem Interview in späteren Jahren formulierte er seine Position so: „Wir sind weit deutscher, als wir uns bewusst sind. Aber nach dem Krieg von 1864 und dem Zweiten Weltkrieg haben wir einander den Rücken zugewandt und eine unnatürliche Grenze zwischen den zwei Ländern gezogen, wo der Übergang in Wirklichkeit gleitend ist“ („Vi er meget mere tyske, end vi er bevidste om. Men efter krigen i 1864 og Anden Verdenskrig har vi vendt hinanden ryggen og trukket en unaturlig grænse mellem de to lande, hvor overgangen i virkeligheden er glidende“).1

Romers nächster, ebenfalls autobiographisch gefärbter Roman über u.a. seine Studienzeit in Kopenhagen und seinen Kampf, ein Insel-Verlag-würdiger Autor zu werden, Kort over Paradis (2018, auf Deutsch als Kartographie der Hölle, 2020), ließ ganze zwölf Jahre auf sich warten. Seitdem verkürzen sich jedoch die Abstände zwischen seinen Büchern. Aktuell ist Romer auf dem dänischen Buchmarkt mit seiner ersten Novellensammlung Den svenske konges hemmelige marmeladeopskrift (2023, Das geheime Marmeladerezept des schwedischen Königs) präsent. Bereits 2021 erschien der im Folgenden besprochene Roman Pigen i Violinen (Das Mädchen in der Geige), ein stramm durchkomponierter Text, der Romer von seiner stärksten Seite zeigt.

„nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich“

Gleich einleitend werden in Pigen i violinen Kontinuität wie Diskontinuität zum früheren Werk Romers markiert: Vorangestellt ist dem Text Rilkes „Liebes-Lied“ (aus: Neue Gedichte, 1907), und zwar komplett in deutscher Originalfassung ohne Übersetzung. Leser:innen von Romers Debütwerk werden sich erinnern, dass der Erzähler in Den som blinker er bange for døden aus diesem Gedicht ein deutschsprachiges Zitat für die Todesannonce der Mutter aussucht (das dann in der Annonce prompt sprachlich verhunzt wurde):

„Wie soll ich meine Seele halten, daß

sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie

hinheben über dich zu andern Dingen?

Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas

Verlorenem im Dunkel unterbringen

an einer fremden stillen Stelle, die

nicht weiterschwingt wenn deine Tiefen schwingen.

Doch alles was uns anrührt, dich und mich,

nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,

der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt?

Und welcher Spieler hat uns in der Hand?

O süßes Lied.“

Das Gedicht lässt sich allerdings nicht nur als Rückverweis auf Romers Debütwerk deuten, sondern zugleich auch als Leitgedanke für den folgenden Geigen-Roman verstehen, der eine Stimme aus zwei zugleich erklingenden Saiten zieht. Dies sind die Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren, die sich erst spät im Roman und nur für eine begrenzte Zeit treffen, aber dennoch (in Rilkes Metaphorik) auf das gleiche Instrument gespannt sind und einen Ton hervorbringen.

Das Mädchen in der Geige

Als Ich-Erzählerin fungiert diesmal eine namenlos bleibende Frau, womit der Bruch mit dem autobiographischen/autofiktionalen Kosmos der früheren Romane deutlich wird. Sie ist das titelgebende ‚Mädchen in der Geige‘, und in dem Roman blickt sie auf ihre strapaziöse Ausbildung als Geigerin von ihrem fünften Lebensjahr über die lokale Musikschule, Geigenlehrer:innen und Konservatorien bis zu ihrem ersten Auftritt als Debütantin einer Solist:innenklasse an der Wiener Hochschule für Musik zurück. Der Preis für seltene Erfahrungen von Transzendenz durch das Geigenspiel ist jedoch fatal: Der Weg zur Künstlerin geht sowohl über konstante Demütigungen tyrannischer Musikprofessoren als auch über die totale Disziplinierung des Körpers. Unsicherheit und Zweifel an der Berufung sind ebenso beständige Begleiter:innen wie Kontrollzwänge, Besessenheit, Dysmorphie und Bulimie. Künstlerische Perfektion ist nur um den Preis zu erreichen, für die Geige jedes normale Leben aufzugeben:

„Man hatte eine Wahl zu treffen und konnte nicht sowohl die Geige als auch das Leben wählen, wie es sonst aussah und was es anbot. Es war das eine oder das andere, alles oder nichts. Und wenn es misslang, verlor man beides gleichzeitig.“

„Man stod over for et valg og kunne ikke vælge både violinen og livet, som det ellers tog sig ud, og hvad det tilbød. Det var det ene eller det andet, alt eller intet. Og hvis det mislykkedes, mistede man begge dele samtidig.“ (S. 59)

Stolz notiert die Namenlose ihre „Geigennarbe“ („violinarret“, S. 85), die unter dem Kinn vom vielen Üben entstanden ist: Die Geige hat sich ihrem Körper eingeschrieben. Die Grenzen zwischen Künstlerin und Instrument werden im Laufe der Ausbildung porös, wobei die Künstlerin den passiven Part spielen muss: „Ich war auf die Saiten der Geige aufgespannt, die meine Laune bestimmte“ („Jeg var spændt ud i strengene på violinen, der bestemte mit humør“, S. 109), heißt es mit indirektem Bezug auf Rilkes „Liebes-Lied“ („Auf welches Instrument sind wir gespannt?“).

Der Masochismus, den sie beim Üben praktizieren muss, dringt jedoch in ihre Träume voller Gewalt ein, in die sie ihre aufkeimende Sexualität verdrängt hat. Kunst und Schmerz werden immer enger miteinander verwoben. Kurz vor Ende des Romans resümiert die Erzählerin: „Musik war Schmerz, nicht Lust – und je besser man spielte, desto mehr tat es weh“ („Musik var smerte, ikke lyst – og jo bedre man spillede, desto mere gjorde det ondt“, S. 135). Die Geige entpuppt sich als Äquivalent der Quitten im elterlichen Garten der Kindheit, über die die Erzählerin notiert: „Ich wunderte mich immer, wie eine Frucht, die so schön war und so herrlich duftete, so bitter schmecken konnte“ („Jeg undrede mig altid over, hvordan en frugt, der var så smuk og duftede så dejligt, kunne smage så bittert“, S. 19). Das Leben als Künstlerin ist kein lustvolles Naschen vom Apfelbaum der Erkenntnis, sondern der Biss in die Quitte.

Auftritt Iris Brendel

Parallel zur Geschichte der Ich-Erzählerin wird eine zweite Geschichte erzählt: die der zwar faktualen, aber gleichwohl fiktivisierten Iris Heymann-Gonzala, argentinische Sängerin und Keramikkünstlerin, bekannt geworden vor allem als erste Ehefrau des Ausnahmepianisten Alfred Brendel (geb. 1931), der 1960–72 mit ihr verheiratet war. In Rückblicken werden Alfred Brendels Kämpfe mit der eigenen Psyche geschildert, die lange seinen Durchbruch als Pianist von Weltrang verhinderten. Erst als 40jähriger konnte er 1971 in London überzeugen – und ging von dort aus auf eine Tournee, nach der er nicht mehr zu seiner Ehefrau in Wien zurückkehrte, die ihn all die schwierigen Jahre unterstützt hatte.

Iris Brendel begegnen die Leser:innen in der Erzählgegenwart des Romans im Wien der 1990er, wo sie mit dem Gespenst ihres Ex-Mannes in ihrer ehemals gemeinsam bewohnten Altbauwohnung lebt und versucht, der Einsamkeit zu entkommen. In dieses „versiegelte Museum“ („forseglet museum“, S. 105) zieht die Ich-Erzählerin nach über zwei Dritteln des Romans vorübergehend als Untermieterin ein. Für Alfreds Brendels ehemalige Ehefrau, die „von den Krümeln seiner Berühmtheit lebt“ („levede på krummerne af hans berømmelse“, S. 32), ist in diesem staubigen, muffigen Erinnerungsraum die gemeinsame Zeit stehengeblieben. Auch wenn der Literaturkritiker Bo Bjørnvig sich durch Romers Iris Brendel nachvollziehbar arg an Miss Havisham in Dickens Great Expectations (1861) erinnert fühlte („Hun holdt sin stemme i hånden“, in: Weekendavisen, 29.10.2021), gelingt Romer doch eine eindrückliche Beschreibung der ewigen Wiederholung des Immergleichen in Iris Brendels Welt, die mit dem Verlassen ihres Mannes gleichsam mumifiziert worden ist.

Kunst und Liebe

Auf welches Instrument aber sind diese beiden Lebensläufe gespannt? Was verbindet die aufstrebende Geigerin mit der verlassenen, in ihrer Einsamkeit erstarrten ersten Ehefrau von Alfred Brendel?

Der Roman endet mit dem Debüt der Geigerin als Solistin, doch der Roman bricht in seinen allerletzten Zeilen brutal mit der durch populäre Erzählschablonen konditionierten Erwartung der Leser:innen, die Künstlerin dürfe jetzt nach all ihrem Leiden für die Kunst wenigstens ihren wohlverdienten Triumph erfahren:

„Es schrie durch mich hindurch und schlug wie ein Blitz ein, der mich spaltete. Alles zerbrach. Es begann aus der Narbe zu bluten und verbrannte, als ich den Bogen auf die Saiten legte, ohne einen Ton zu hören.

Ich war in mir selbst eingeschlossen und für immer in der Geige gefangen und spielte kalte Noten. Weiße Flocken fielen vom Himmel auf mich herab.

Es schneite, und ich drehte mich herum und herum im Takt mit der Zeit, während das Leben an mir vorbeizog, und stand in der Mitte mit meiner Geige in der Spieldose.“

„Det skreg igennem mig og slog ned i et lyn, som skilte mig ad. Alting gik i stykker. Det begyndte at bløde fra arret og brændte op, som jeg satte buen mod strengene uden at høre en lyd.

Jeg var spærret inde i mig selv og lukket inde for evigt i violinen og spillede kolde toner. Det faldt i hvide fnug ned over mig fra himlen.

Det sneede, og jeg drejede rundt og rundt i takt med tiden, mens livet gik forbi, og stod i midten med min violin i spilledåsen.“ (S. 141)

Wie die von Alfred Brendel nach seinem Durchbruch verlassene Iris Brendel erlebt auch die namenlose Geigerin in dem Augenblick, in dem die künstlerischen Träume endlich wahr werden könnten, ihre schlimmste Niederlage. Wie diese wird sie eingesperrt und gefangen in dem kalten Augenblick des Scheiterns, verdammt zur ewigen mechanischen Wiederholung. Und wie diese wird sie zu Fall gebracht, weil sie sich dann doch auf das Instrument der Liebe und nicht der Geige hat spannen lassen. Denn kurz vor ihrem Debüt hatte die namenlose Ich-Erzählerin sich verliebt, hatte nackt mit ihrem Liebsten im Iris(!)see im Wiener Donaupark gebadet und war schließlich nachts nach Hause gekommen: „Ich war verliebt und schloss mir die Tür zum Mädchen auf, das auf mich im Zimmer wartete: bei mir selbst“ („Jeg var forelsket og låste mig ind til pigen, som ventede på mig i værelset: mig selv“, S. 137). Das von Beginn des Romanes an motivisch vorbreitete und an eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann erinnernde Ende mit dem Einsperren der Künstler:in in die dämonische Geige, ihre Reduktion zu einer Spieldosenfigur, ist damit vorgezeichnet.

Liebe und die Kunst erweisen sich als unvereinbar. Die Liebe macht einen verletzlich, wenn man auf ihr Instrument gespannt wird – das muss sowohl die Ich-Erzählerin als auch Iris Brendel erfahren. Auch dies mag man in Rilkes „Liebes-Lied“ vorweggenommen sehen, handelt das Gedicht doch auch von der Sehnsucht, dass die zwei Seelen eben nicht immer zusammen ertönen mögen.

Romers Roman über die Unvereinbarkeit von Kunst und Liebe liest sich längst nicht so allegorisch, wie es in dieser Analyse vielleicht anmuten mag. Farbig, mitunter schon karikaturhaft gezeichnete Nebenfiguren wie die exaltierte, unberechenbare Georgierin Mzia mit ihrem Familienclan oder die deutschstämmige Schlesierin Marie, die im Ausland als Begleitpianistin Geld verdient, um ihre Familie im tristen Katowice durchzubringen, während sie zugleich von einem schöneren Leben im Westen träumt, reichern die Personengalerie an und variieren das zentrale Thema des Romans. Liebevoll wird Wien mit seinem unvergleichlichen Musikmilieu geschildert. Auf marktübliche drei- bis fünfhundert Seiten ausgewalzt, wäre der Roman ermüdend. Doch Romer beschränkt sich klug auf 142 Seiten, auf denen sich allegorische Bedeutungsstruktur und die psychologischen Kosten einer Musiker:innenkarriere durchweg die Waage halten.

Knud Romer: Pigen i violinen. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021.

(Stephan Michael Schröder, Universität zu Köln)

  1. https://politiken.dk/annoncoerbetaltindhold/Nabolandskanalerne/art7560941/Knud-Romer-»Vi-danskere-er-meget-mere-tyske-end-vi-er-bevidste-om« (letzter Zugriff am 16.10.2023) ↩︎
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