»House on fire«. Die Institution Theater, ihre Klassiker und der Klassismus – Nora an den Münchner Kammerspielen

Abbildung 1 Katharina Bach als Nora – Foto: Armin Smailovic

Wer braucht nach Corona noch das Theater? Offensichtlich hat sich das deutsche Publikum daran gewöhnt, sein Bedürfnis nach herausfordernden Geschichten und fröhlicher Unterhaltung, nach kultureller Sinnfülle und nach der Bestätigung, zum kulturtragenden Teil der Gesellschaft zu gehören, nicht mehr mit einem Besuch eines mal überhitzten, mal unterkühlten Schauspielhauses zu stillen, mit umständlicher Kartenbestellung, einem verfrühten Abendessen, dem lästigen Wechsel von Alltags- zu Abendgarderobe und einem Sessel, bei dem konstant die Ellenbogen der Nachbar:innen stören. Zumindest haben die Bühnen mit einem deutlichen Besucherschwund zu kämpfen: Die Publikumszahlen haben bisher nicht das Niveau aus der Zeit vor den verschiedenen Lockdowns erreicht. Und wenn erstmal eine antrainierte Routine ausgebremst ist, merkt man vielleicht, dass einem ohne Theater gar nichts fehlt und man auch vor dem heimischen Computer oder der CD-Anlage, durch Lesen oder Musizieren glücklich werden kann – so die wenig originelle Vermutung von Publikumsforschern und Kulturmanagementprofis.

Da die Bühnenkünste sich von anderen Präsentationsformen des Literarischen ganz grundsätzlich dadurch unterscheiden, dass sie non-print und nur in der Kopräsenz von Künstler:innen und Publikum funktionieren, liegt es nahe, dass die Theater verstärkt dieses Alleinstellungsmerkmal herausstreichen, um ihre früheren Liebhaber:innen an die Freuden zu erinnern, die nur sie vermitteln können. Sie bedienen sich solcher Methoden, die den Besucherinnen das Gefühl des Hier und Jetzt vermitteln, Methoden, die jedem einzelnen Zuschauer seine Anwesenheit bewusst und erfahrbar machen – und zwar jenseits der schmerzenden Knie in zu engen Sitzreihen: Das Publikum wird von der Bühne aus direkt angesprochen, Dinge (Papiere, Blumen, Luftballons) regnen über die Zuschauer:innen, in einem Medienmix werden mehrere Sinne auf einmal aktiviert, der Theaternebel kriecht in das Parkett hinunter, Schauspieler:innen durchbrechen die vierte Wand oder steigen von der Bühne herab und agieren einen Teil ihres Textes zwischen den Sesselreihen.

All diese Techniken der Immersion benutzen auch die Münchner Kammerspiele, wenn sie derzeit – also in der Spielzeit 2022/23 – Nora auf die Bühne bringen. Und hinzu kommt an einigen Abenden noch eine Rahmung des Bühnengeschehens durch eine Einführung zur Konzeption der Inszenierung vor der Aufführung und ein Publikumsgespräch mit einigen Schauspieler:innen nach der Aufführung. Letzteres soll als Zeichen gedeutet werden, dass das Theater sein Publikum ernst nimmt, mit ihm reflektieren und von ihm Anregungen aufnehmen will; das Publikum empfängt nicht nur die Segnungen der Kunst, sondern kommuniziert mit den Theaterschaffenden, die gerade aus der Maske kommen, auf ungeschminkter Augenhöhe. Und so sitze ich gegen 22:30 Uhr mit etwa 50 anderen Interessierten auf Stühlen im Foyer vor den Logentüren, warte auf die angekündigten Schauspieler:innen und bin gespannt, ob diese Vision wirklich wird.

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Am 7.10.2022 hatte Nora Premiere im Jugendstil-Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele. Auf dem Programmzettel steht nicht einfach der zu erwartende Henrik Ibsen als Autor, sondern »Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch & Ivna Žic«. Ibsen figuriert hier als einer von vieren. Und tatsächlich kann man sich (nicht kritisch, sondern neugierig) fragen, wieviel Ibsen noch an diesem Abend zu sehen ist. Natürlich folgt das Bühnengeschehen nach wie vor der Handlung von Et Dukkehjem, Ibsens Drama aus dem Jahr 1879, das im Deutschen lange unter dem Namen seiner Protagonistin Nora aufgeführt wurde und erst seit einigen Jahren auch unter seinem eigentlichen Titel Ein Puppenheim zu haben ist. Und auch der Text folgt über weite Strecken der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Zu diesem Kern steuert Sivan Ben Yishai einen Prolog bei und Ivna Žic zwei Intermezzi. Gerhild Steinbuch greift dagegen in Ibsens Text ein und schreibt gerade dessen drei zentrale Szenen um: Noras Tarantellaprobe; das Gespräch, in dem Kristine Linde den Erpresser Krogstad überredet, seinen verhängnisvollen Brief zurückzufordern; und den Showdown des Dramas, Noras und Torvalds Auseinandersetzung, die damit endet, dass Nora das Puppenheim ihrer Ehe verlässt und die Wohnungstür »dröhnend« ins Schloss fällt. In der Inszenierung der Kammerspiele dagegen jagt sie das gesamte Haus in die Luft.

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Die An- und Umbauarbeiten am Puppenhaus in den Kammerspielen verfolgen vor allem zwei Perspektiven. Einmal wird das Schauspielen als Existenzmodalität thematisiert, zum anderen sollen die sozialen Ränder der bürgerlichen Welt (von Nora? von Ibsen? des Theaters? des Publikums?) markiert werden, die, so unsichtbar sie sind, doch diese Welt ermöglichen. Die soziale Thematik macht die Bühnenbildnerin Viva Schudt erfahrbar, indem sie die Bühne mit der Fassade eines Hauses füllt, das auf dem Kopf steht.

Abbildung 2 Katharina Bach als Nora, Svetlana Belesova als Kristine Linde – Foto: Armin Smailovic

Diese Fassade ist schräg gestellt, sodass die Figuren zwischen den Fensterrahmen mehr oder weniger geschickt umherklettern können. Nun könnte man meinen, dass das soziale Oben und Unten auf den Kopf gestellt ist, doch das Bühnenbild ist komplexer als nur eine Umkehrung der Ordnung. Selbst in der verkehrten Welt bewegen sich die Figuren, die im Puppenheim zuhause sind, geschickt und schnell auf den verschiedenen Ebenen. Weder Torvald noch Dr. Rank noch die sozial abgestiegene, aber aus einem vermögenden Hause stammende Kristine Linde haben irgendwelche Schwierigkeiten, sich auf der Schräge zu bewegen; und selbst als Nora erfährt, dass sie erpresst wird und zusammenbricht, hängt sie zwar mit verrenkten Gliedern wie eine abgelegte Marionette zwischen den Fensterrahmen der Fassade, doch bleibt sie selbst in dieser Situation elegant, sie passt ins Design des Hauses. Noch im Zusammenbruch ist das Haus ihre Bühne, in der ihre Geschichte aufgeführt wird. Der Erpresser Krogstad dagegen, der von der Angst getrieben wird, auch noch aus dem Kleinbürgertum abzustürzen, kann sich bei seinen Auftritten kaum auf der Schräge des Hauses halten, er bewegt sich nicht durch die verkehrte Welt, er stolpert und rutscht.

Schon das Durchqueren des Bühnenraums zeigt also an, wessen Geschichte erzählt wird, und sei es auch die eines Scheiterns, und wer damit eine Existenzberechtigung auf der Bühne hat. Konsequenterweise ziehen die neuen Textteile des »Thrillers« die Nebenfiguren aus ihrer Marginalität ins Scheinwerferlicht. Ivna Žics zwei Intermezzi holen Noras drei Kinder aus ihrer Unsichtbarkeit. Sie zeigt sie als Erwachsene, die auf ihre Zeit unmittelbar nach Noras Abschied aus der Familie zurückblicken und ihre Mutter angreifen oder verteidigen. Ivar, der Älteste, wird dabei zum traumatisierten Gruselzwerg im Friesennerz, der direkt aus dem Horrorklassiker Wenn die Gondeln Trauer tragen gesprungen scheint (Don’t Look Now, 1973, Regie: Nicolas Roeg).

Sivan Ben Yishais Prolog gibt den anderen lebenden Requisiten in Ibsens Text eine Stimme. Dort sitzen die Schauspieler:innen der Kammerspiele um einen Tisch und spielen Schauspieler:innen, die den Zuschauern das Drama präsentieren. Dabei verschmelzen ihre theatralen und sozialen Rollen. Das Prekariat eines Komparsen, der den Stadtboten mit nur einer Sprechzeile spielt, ist etwa nicht zu unterscheiden vom Prekariat eben dieses Stadtboten (der bei Yishai sprachlich zum ‚Paketboten‘ aktualisiert wird). Das Hausmädchen der Helmers bzw. ihre Schauspielerin wird ganz eingespart und durch eine Stimme vom Band ersetzt, die allerdings immer wieder im Gespräch der ‚realen‘ Kolleg:innen interveniert. So antwortet die Stimme, als Noras Schauspielerin pathetisch darauf hinweist, dass sie doch »alle einer höheren Geschichte dienen«, lakonisch: »Ich diene Dir!« – und das wird an der dritten marginalisierten Figur besonders deutlich, dem Kindermädchen, das vor vielen Jahren ihr eigenes Kind und ihre eigene Geschichte aufgab, um Amme für Nora und dann deren Kinder zu sein. Freilich könnten sich Kindermädchen, Hausmädchen und Nora feministisch verbünden, doch Yishai stellt die Positionen gegeneinander: Wo kommen die unterprivilegierten Zuarbeitenden in den Problemen einer privilegierten Mittelklassefrau vor? Macht die Konzentration auf die Misogynie einer historisch vergangenen Ehekonstellation den damaligen wie heutigen Klassismus unsichtbar? Diese Fragen wendet Yishai geschickt von Ibsen und seiner konkreten Geschichte weg und auf deren Möglichkeitsbedingung – die Institution Theater – hin, indem die Figuren des Prologs dem Publikum einhämmern, dass die Hauptrolle nicht Nora oder eine der anderen dramatis personae spielt, sondern »das Haus«, dass es um »das Haus« gehe, dass »das Haus« im Mittelpunkt stehe, dass alle »dem Haus« dienen. Und »das Haus« meint in einer bestimmten Sprechweise eben das Theater. Es geht also nicht nur um die soziale Relevanz und moralische Zurechnungsfähigkeit von Ibsens Drama, sondern um die Institution Theater an sich. Das Theater ist das soziale Puppenhaus, in dem Noras Geschichte mit all ihren sozialen Marginalisierungen Sinn macht.

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Gerhild Steinbuch interveniert dreimal in Ibsens Text. 1) Noras Tarantellatanz wird zu einer düsteren Version des schwedischen Popklassikers SOS, in dem sie ihren Mann Torvald, aber auch ihren Verehrer Dr. Rank anklagt – »Where are those happy days? They seem so hard to find. I try to reach for you, but you have closed your mind« – und dann sogar Torvalds Rolle vorwegnimmt: »When you’re gone, how can I even try to go on?«. 2) Den Klassismus des Prologs nimmt die neue Fassung des Gesprächs zwischen Kristine Linde und Krogstad auf. Bei Ibsen beschließen die beiden, getrieben von einer edlen Mischung aus Mitleid und Pädagogik, das Ehepaar Helmer zur gegenseitigen Aufrichtigkeit zu zwingen – ein Kniff, mit dem Kristine Linde es hinbekommt, gleichzeitig Krogstad mit dem Gefühl der moralischen Überlegenheit zu ködern und die Helmers vor der sozialen Deklassierung zu bewahren. Bei Steinbuch dagegen artet das Gespräch zwischen Linde und Krogstad zu einer Orgie des Sozialneids aus, in der die beiden Absteiger die Helmers ans Messer liefern. 3) Den größten Bruch mit dem Original vollzieht aber Steinbuchs Showdown zwischen den Eheleuten Torvald und Nora Helmer. Ibsens Nora erkennt in ihrer Ehe ein Schauspiel, dessen Kostüm sie nun im dritten Akt desillusioniert ablegt. Auch wenn Ibsens Text sehr viel komplexer ist, so muss man seiner Nora doch größte Aufrichtigkeit zugestehen. Sie will hinaus in die Welt und die Gesellschaft kennenlernen, wie sie wirklich ist – ohne Maske, gleichsam nackt, »Ich nehme von Fremden nichts an«, sagt sie, als Torvald sie wenigstens finanziell unterstützen will. Der Kontrast zur Nora der Kammerspiele könnte größer nicht sein: Hier wird Noras Abrechnung zu einer Variation über die berühmten Zeilen aus Shakespeares As you like it: »All the world’s a stage / And all the men and women merely players.« Sie wirft Torvald nicht vor, dass er schauspielt, sondern dass er seine Rolle zu ernst nimmt und nicht zu einer anderen Rolle wechseln kann. Doch die Möglichkeit des Rollenwechsels wird nicht postmodern als Quelle der Freiheit gefeiert, sondern als conditio humana mehr recht als schlecht akzeptiert. Für Nora (und hier sind sowohl die Figur als auch Ibsens Klassiker gemeint) gibt es weder einen Ausweg in die Authentizität noch in die Originalität, weil die Überfülle an Inszenierungen bereits alles erledigt hat. Nora war schon Feministin, Rationalistin, Hysterikerin, Mörderin, Heilige … mal verließ sie Torvald, mal erschoss sie ihn, mal blieb sie und sang mit allen anderen Figuren »My Least Favorite Life«, mal legt sie nur eine Zigarettenpause von ihrer Ehe ein. Die Story ist erschöpft und kann sich nicht mehr erneuern, so die Nora der Kammerspiele. Was wäre angesichts einer solchen Diagnose anderes möglich als die Zerstörung des Klassikers. Entsprechend schlägt Nora nicht einfach die Wohnungstür zu, sondern jagt das gesamte Haus in die Luft. Die Explosion und der anschließende Brand werden in Dauerschleife auf der Leinwand hinter Nora gezeigt, solange sie ihren Monolog spricht. Da das Publikum aber aus dem Prolog weiß, dass es sich bei dem Haus sowohl um Torvalds und Noras Zuhause handelt, wie um das pars pro toto der Gesellschaft oder des Systems, vor allem aber um »das Haus«, die Kammerspiele, das Theater an sich, fliegt Nora und dem Publikum die gesamte Institution mit ihrem selbstbezüglichen Klassismus um die Ohren. Die Zerstörung wird zur Klass/en/ikerkritik.

Das Theater als Institution und die Klassiker sind ohne soziale Ausgrenzung nicht zu haben, alle sind ineinander verwoben und stützen und schützen einander; man scheint sie – so der Tenor des »Thrillers«, zu dem die Kammerspiele Nora gemacht haben – auch nur gemeinsam loszuwerden. Und doch birgt diese These bei aller Analogie ein Paradox: Die Zerstörung des Theaters wird mit Mitteln erreicht, die das Theater feiern: kreative Interaktion verschiedenster Gewerke, ein komplexes Bühnenbild, grandiose Schauspielkunst, die wunderbare Stimme von Katharina Bach, die zum Glück des Publikums gleich zweimal singen darf … Die Zerstörung des Theaters ist ein beglückender Moment theatraler Imagination und ohne das Theater nicht zu haben.

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So ausgerüstet sitze ich gegen 22:30 Uhr mit etwa 50 anderen Interessierten auf Stühlen im Foyer vor den Logentüren und warte auf das Publikumsgespräch, eine Gattung, die auf der Prämisse aufbaut, dass hier die stummen Zuschauer:innen zu Sprechenden werden und den Schauspieler:innen jenseits ihrer Rollen begegnen; hier – so der Gattungsvertrag – ist der Ort der Wahrheit, an dem alle in derselben Welt agieren und man ohne Schminke über das spricht, was man gerade gemeinsam hinter sich gebracht hat.

Da meldet sich zunächst ein älterer Herr, der findet, dass eigentlich keine der Figuren sympathisch war, ein Statement, das noch so manch ein:e andere:r aufnimmt; dann eine Dame mittleren Alters, die bekennt, dass sie vor dem Abend nochmal Ibsens Text gelesen hat, und nun darüber sprechen möchte, wie krank Torvalds Ehe- und Gendervorstellungen sind – wohlgemerkt die Vorstellungen, die sie in Ibsens Text gefunden hat; der ältere Herr meldet sich nochmals und merkt an, dass ihm die Musikeinspielung von SOS zu laut war; dann äußert sich eine Frau, die ebenfalls Schauspielerin ist, dahingehend, dass der Prolog doch recht platt war (auch wenn sie das sehr viel schöner sagt), woraufhin ein Literaturwissenschaftler sich bemüßigt fühlt, die Komödie zu verteidigen.

Was sollen die Schauspieler:innen zu solchen Gesprächsangeboten sagen? Ganz sicher nicht, was sie denken. Stattdessen markieren sie durch ihre zugewandte Körperhaltung, wie interessiert sie doch an den Kommentaren sind und wie überraschend doch jede Bemerkung ist und dass jede Äußerung einen bedenkenswerten Aspekt besitzt. Anders könnte es ja auch nicht sein, denn die Veranstaltung hat ja den Zweck, jede:n Einzelne:n an die Institution des Theaters (die man gerade in die Luft gesprengt hat) zu binden und zum weiteren fleißigen Theatergang zu ermutigen. Und so wird das Publikumsgespräch zu einem Epilog, der die eben gesehene Aufführung im Modus der Farce wiederholt: Eben predigte Nora noch, dass das Leben ein Schauspiel sei, in dem es keine Authentizität gibt, sondern jeder seine Rolle spielt, die man aber auch nicht zu ernst nehmen dürfe; und nun tun alle so, wie wenn man sich ohne Schminke und ohne Rolle gegenübersitzt. Das Publikumsgespräch zwingt die Schaupieler:innen weiterhin zu schauspielen; sie kommen aus der Maske, doch sind sie deshalb nicht maskenlos. Haben sie in ihren Rollen noch grandioses Theater geboten, so bestätigt dieser Versuch der Vermittlung eher die einleitend konstatierte Krise des Theaters. Zur Komödie fügt das Publikumsgespräch allerdings einen Akt hinzu. Deshalb wäre es schade, wenn man diesen ulkigen Epilog verpasst, den weder Yishai, Ibsen, Steinbuch oder Žic geschrieben haben – sondern das Publikum.

Nora. Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch & Ivna Žic

Premiere: 7.10.2022 an den Münchner Kammerspielen

In den Rollen: Katharina Bach, Svetlana Belesova, Vincent Redetzki, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper und Katharina Schuberts Stimme im Prolog

Regie: Felicitas Bruckner

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(Ver-)Fallstudie einer Großstadt

Das prachtvolle Gebäude der Kopenhagener Oper sieht auf einmal so verletzlich aus. Die Hälfte des Daches liegt am Boden und der leere Konzertsaal offenbart sich. Was ist hier geschehen, dass die Menschen die Kulturstätte derart verfallen ließen? Trotz der düsteren Untergangsstimmung ist im selben Bild eine Hand zu sehen. Sie schreibt. Oder zeichnet. Ihre schaffende Kraft steht in starkem Kontrast zu dem überwältigenden Bild der halb zerstörten Oper (vgl. Abb. 2). Durch Text wird diese Szenerie nicht ergänzt. Christian Skovgaards Efter København (2022) beinhaltet lediglich 77 Sätze, und diese sind auf den knapp 200 Seiten spärlich verteilt. Diese Graphic Novel verlässt sich auf die Kraft der dreifarbigen Illustrationen des von Pestwolken geplagten Kopenhagen, das doch nicht so menschenleer ist, wie es zunächst wirkt.

Skovgaard, Grafikdesigner mit Erfahrung im Architekturbereich, lässt sich von zwei Werken aus dem späten 19. Jahrhundert inspirieren, Richard Jeffries’ After London (1885) und John Ruskins The Storm Cloud of the Nineteenth Century (1884), in denen die Autoren vor der Luftverschmutzung des viktorianischen Englands warnen. Aus den Essays des Malers, Kunsthistorikers und Schriftstellers Ruskin entlehnte Skovgaard sogar ganze Sätze, die einen Großteil des Prologs ausmachen. Abgesehen von der post-apokalyptischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts kommuniziert Efter København auch mit den Zukunftsvisionen der darauffolgenden Jahrhundertwende. Gleichzeitig mit der Graphic Novel veröffentlichte Skovgaard Postkarten, auf denen die verfallenen Sehenswürdigkeiten der Erzählung abgebildet sind. Diese erinnern an die Anfang des 20. Jahrhunderts u.a. von Jean-Marc Côté gezeichneten Postkarten, die das Leben im Jahr 2000 imaginierten. Die Motive bildeten unterschiedliche Gesellschaftsbereiche ab und wurden zunächst in der Weltausstellung 1900 in Paris gezeigt.

Efter København besteht aus drei Teilen. Im Prolog folgt der Text einem anderen Erzählstrang als das Bild. Dadurch wird eine Spannung aufgebaut, die erst im Hauptteil des Buches aufgelöst wird. Während in den textuellen Ausführungen die derzeitigen Wetterzustände mit jenen vor der Katastrophe in Verbindung gebracht werden, finden wir im Text keine Erklärung oder Begleitung der Geschehnisse auf den Bildern. Dort begegnen wir zum ersten Mal der düsteren Realität des verpesteten Kopenhagen, in dem ein Großteil der menschlichen Bevölkerung in einen präzivilisatorischen Zustand verfallen zu sein scheint. Zwei Personen, die Hauptfiguren des Prologs, ernähren sich von selbstangebautem Getreide und sind allgegenwärtigen Gefahren ausgesetzt. Sei es vonseiten der Wölfe, Vögel oder anderer Mitmenschen. Bei einem Überfall kommt eine der beiden Figuren ums Leben. Der zweiten Person gelingt es, zu flüchten und die Polizei aufzusuchen. Es kommt jedoch zu einem Gerichtsverfahren, bei dem sie möglicherweise aufgrund des illegalen Getreideanbaus zu Strafarbeiten verurteilt, gar als Sklavin verkauft wird. Der Prolog endet mit dem Ausbruch eines Feuers, vor dem die Strafarbeiter:innen zu flüchten vermögen. Im letzten Bild sehen wir die Hauptfigur an der Spitze des Turms der Vor Frelsers Kirke stehen.

Der Prolog erscheint mit seinen religiösen Anspielungen (die Aussaat, verheerende Brände und Besteigung des Kirchturmes) und den eingeführten Motiven kohärent mit dem weiteren Verlauf der Geschichte. Bereits hier sehen wir Bilder des zerstörten Kopenhagens, dessen bekannteste Gebäude in den Illustrationen nummeriert sind. Efter København ähneltmit seinen fehlenden Seitenzahlen der Karte einer Stadt, bei der uns die Zahlen von einer verfallenen Sehenswürdigkeit zur nächsten führen.1 Zugleich illustrieren die Ruinen das Ausmaß der Katastrophe, deren Ursachen als »pestvinden« (S. 30; Pestwind) und »pestskyen« (S. 2; Pestwolke) beschrieben werden. Ihr Ursprung bleibt allerdings im Dunkeln: »Blege sol, pestsyge græs, blinde menneske [sic!]. Hvis man til slut spørger om en tænkelig årsag til disse begivenheder eller en
mening med dem, kan der ikke gives nogen.« (S. 49; Fahle Sonne, verpestetes Gras, blinde Menschen. Fragt man schließlich nach einer möglichen Ursache dieser Geschehnisse oder nach ihrer Bedeutung, kann keine gegeben werden.)

In Kontrast zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen und infrastrukturellen Verfall steht die wuchernde Pflanzenwelt. Im Prolog eingeführt, wird das Vorkommen der nicht selten im Vordergrund der Bilder stehenden Gewächse immer häufiger. Dadurch wird eine direkte Verbindung zur ersten Inspirationsquelle für Efter København hergestellt, Richard Jeffries’ After London (1885). Dort fallen besonders die ausufernden Schilderungen der üppigen Pflanzenwelt an jenem Ort auf, an dem Jahre zuvor London lag. Kopenhagen liegt jedoch nicht wie London unter Wasser. Hier sind die das Stadtbild prägenden Gebäude weiterhin erkennbar, bloß ihrer Funktion entleert. In Efter København entspricht der Zyklus der in den Flammen sterbenden, jedoch wiederauflebenden Pflanzen dem der menschlichen Zivilisation. Obgleich jegliche Institutionen und die kulturellen sowie politischen Zentren zerstört sind, wird der Mensch nicht ausgelöscht. Der post-gesellschaftliche Mensch ist auf die Bildung kleinerer Gemeinschaften angewiesen, wie die Gruppierung der an prähistorische Lebensformen erinnernden Personen (vgl. S. 25–26), oder die im gemeinsamen Haushalt lebenden C und E, die die Hauptfiguren des Buches im weiteren Verlauf darstellen.

Der Übergang vom Prolog zum Hauptteil des Buches ist fließend. Zwar trennen sie vier leere lila gefärbte Seiten, diese erinnern jedoch weniger an einen Schnitt, sondern geben Zeit, um vom Gipfel der Vor Frelsers Kirke hinunter zum nächsten Bild zu kommen. Die Haupterzählung beginnt nämlich mit einem Samen, dessen Entwicklung hin zu einer verdorrten (verpesteten?) Pflanze wir in 14 kleinen Bildern mitverfolgen können. Diesmal besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Text und Bild. Nach den Abbildungen aller Wachstumsstadien der Pflanze lesen wir: »… Jeg kan huske disse plantetegninger, fra dengang vi var små. Giver du dem til mig nu?« (S. 62; … Ich erinnere mich an die Pflanzenzeichnungen, von früher, als wir klein waren. Gibst du sie mir jetzt?) Im Vergleich zu den textuellen Ausführungen im Prolog, die ausschließlich Wetterzustände schildern, haben wir es hier mit einem Dialog zwischen den Hauptfiguren E und C zu tun. Ihr ganzes Leben verbrachten sie unweit Kopenhagens. E will zum ersten Mal die Innenstadt sehen und verlässt das Haus. Aus ihren Dialogen, die mithilfe eines nicht näher nicht definierten Mediums stattfinden, erfahren wir, dass C sich um E sorgt und deshalb selbst nach Kopenhagen wandert, um sie aufzusuchen. C bindet sein eigenes Tagebuch, in das wir im weiteren Verlauf immer mehr Einblicke gewinnen und das immer stärker an das Buch Efter København selbst erinnert.

Abbildung 1

Auf insgesamt sechs Doppelseiten sehen wir Cs Hand mal mit Stift, mal ohne. Wir nehmen seine Perspektive ein und erleben das (Auf-)Zeichnen seiner Erlebnisse mit: »Landskabet bliver goldere, jo tættere jeg kommer på byen.« (S. 110; Je näher ich der Stadt komme, desto unfruchtbarer wird die Landschaft.) Abgesehen von der Beobachtung eines malerischen Blickes werden wir mit Cs Zweifeln konfrontiert: »Var det forkert at rejse hertil?« (S. 122; War es falsch, hierher zu kommen?) Mithilfe der Kombination der Ich-Perspektive und der Standortbestimmung »hertil« werden die Lesenden selbst nach Kopenhagen befördert und dazu aufgefordert, Cs Dilemma mitzuerleben. In Kopenhagen wird C vor den aufkommenden Pestwolken von einem alten Mann gerettet, der ihm von der Zeit vor der Katastrophe erzählt. Sein Aussehen, das an Darstellungen von Gottvater erinnert, und seine erzählerische Autorität werden durch die Illustration verstärkt, in der er in übermäßiger Größe und scheinbar oberhalb der Geschehnisse dargestellt wird (Abb. 1). Auf der nächsten Doppelseite mit Cs Hand hält diese keinen Stift mehr, sondern zeigt auf ein X. Dies sei der Ort, an dem der alte Mann zuletzt eine junge Frau, vermutlich E, gesehen habe: »Derefter sender han mig af sted.« (S. 162; Danach schickt er mich weg.) Der alte Mann scheint nicht nur erzählerische Autorität zu besitzen, wodurch er zu einem Wissensspeicher aus der Zeit vor der Pest wird. Er ist zugleich imstande, C an einen Ort zu »senden«, an dem er E auffinden kann. Kurz darauf stellt sich jedoch heraus, dass die Suche nach E kein glückliches Ende in Form eines Wiedersehens haben wird. E macht nämlich klar, dass für sie kein Weg zurück existiert und sie keine Rettung benötigt:

C: Jeg kom for at redde dig! (S. 177)

E: Så kom du forgæves. Jeg kom her efter København, men også for at skabe noget nyt – på egen hånd. (S. 179)

C: Ich bin hergekommen, um dich zu retten!

E: Dann kamst du umsonst. Ich kam wegen Kopenhagen her, aber auch, um etwas Neues zu schaffen – selbstständig.

Das »efter«2 im Titel des Buches bekommt abgesehen von der zeitlichen Bedeutung auch eine örtliche. E ist sich im Klaren darüber, dass das Kopenhagen, wie sie es aus Stadtführern kannte, nicht mehr vorhanden ist. Sie ging jedoch mit der Absicht dorthin, etwas Neues zu schaffen. Mit diesem Gespräch von C und E endet das Tagebuch. Auf der letzten Doppelseite mit Cs Hand ist nun das geschlossene Buch im Ganzen zu sehen. Dass C nicht mehr die Kontrolle über die geschilderten Ereignisse hat, wird auf zwei Doppelseiten am Ende von Efter København deutlich. Zunächst sehen wir ihn in der Mitte des Bildes. Zu beiden Seiten liegt der Wohnkomplex 8tallet, vor ihm breiten sich die Felder aus. Wolken über den Feldern bedecken einen Teil des Himmels und C blickt nach vorne. Die Illustration ist eine direkte Anspielung auf Caspar David Friedrichs Ölgemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818), wodurch eine Verbindung zur Romantik hergestellt wird. Die zweite Doppelseite zeigt dasselbe Motiv, nun allerdings ohne C. Die Wolken haben diesmal etwas mehr Struktur und erinnern zum Teil an Lebewesen, deren Ursprung keineswegs als rein menschlich bezeichnet werden kann. An Cs Stelle liegt sein Tagebuch auf dem Boden. Von einem Windstoß aufgeschlagen, bekommen wir einen letzten Einblick ins Tagebuch. Anhand der Größe der Bilder und deren Zusammensetzung erkennen wir, dass hier jene Doppelseite zu sehen ist, auf der der Lebenszyklus einer Pflanze geschildert wurde. Es sind die Bilder, mit denen der Hauptteil von Efter København beginnt (vgl. S. 61–62). Die Lesenden werden mit den Fragen zurückgelassen, ob Efter København selbst das aufgefundene Tagebuch ist und für wen die Erinnerungen und Beobachtungen aufgezeichnet wurden.

Abbildung 2

Das Tagebuch bekommt im Epilog ein neues Publikum und somit ein weiteres Leben. Es wird von einem Mann aufgesammelt und zu E gebracht. Es Rolle und selbstgewählte Aufgabe wird auf den letzten Seiten verbildlicht. Sie scheint, zusammen mit einer Gruppe von Ruinenbewohner:innen, handwerklichen Tätigkeiten und dem Sammeln von Büchern nachzugehen. »På egen hånd” (S. 179; eigenmächtig) hat nicht nur eine metaphorische Bedeutung: auf eigene Faust Kopenhagen zu entdecken und allein zurechtzukommen. Es ist gleichzeitig auch der Wunsch, etwas mit den Händen zu erschaffen und auf diese Art und Weise ein neues System zu etablieren, in dem Autonomie und Selbstversorgung die imperative Funktion übernehmen. Efter København hebt das langwierige und anspruchsvolle Do-it-yourself-Prinzip auf zwei Ebenen hervor. Erstens thematisiert es Bemühungen, eine neue Gesellschaftsform aufzubauen. Zweitens verdeutlicht es die materielle Entstehung des Tagebuches, die aus Cs Buchbinderfähigkeiten resultiert. Wir sind Zeug:innen seines Illustrierens, das durch die wiederholte Darstellung seiner stifthaltenden Hand unterstrichen wird. Wir gewinnen nicht nur den Eindruck, dass wir anhand des genauen Stadtplans am Anfang des Hauptteils Kopenhagen erkunden (S. 67–68), sondern dass die Stadt vor unseren Augen in Tagebuchform gerade erst geschrieben und gezeichnet wird. Letzen Endes gibt Efter København nicht vor – und darin liegt die Einzigartigkeit der Graphic Novel – in welcher Reihenfolge die Bilder innerhalb einer (Doppel-)Seite gelesen werden sollen. Die Lesenden werden dazu aufgefordert, die für sie schlüssigste Bilderabfolge zu wählen oder mit der Gleichzeitigkeit zurecht zu kommen. Diese Gleichzeitigkeit der Geschehnisse hat etwas Unmittelbares und Drängendes, das gerade für die post-apokalyptische Ökoliteratur ein geeigneter Modus operandi zu sein scheint.

Skovgaard, Christian: Efter København. Kopenhagen: Forlæns, 2022.


1 Für bessere Übersicht wurde von mir eine Seitennummerierung vorgenommen. Sie beginnt auf der Seite mit einer Blumenzeichnung und dem Schriftzug: »Prolog«.

2 Dt. nach (zeitlich); wegen, aufgrund

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Dämonie und Leerstellen

Selten scheint einer literarischen Form eine so kurze Lebenszeit beschieden gewesen zu sein wie der sogenannten SMS-Novelle. Angeblich in Japan um die Jahrtausendwende entstanden, erlebte sie ihren Höhepunkt kurz nach 2010, als ›Simsen‹ zu einer Alltagspraxis geworden war und weltweit 6,1 Trillionen Kurznachrichten verschickt wurden. Mit SMSpress entstand 2010 in Skandinavien sogar ein eigener ›Verlag‹, der sich auf die Distribution von SMS-Novellen in Dänemark, Norwegen und Schweden spezialisierte. Die unauflösliche Verkopplung der literarischen Form mit der auf 160 Textzeichen beschränkten SMS-Technologie erwies sich indes als fatal, als ›Simsen‹ (im Englischen bezeichnenderweise: ›texting‹) in den 2010er Jahren zunehmend von Messengerdiensten und von Postings in den euphemistisch ›sozial‹ genannten Medien verdrängt wurde, die neben Text auch Bild und Ton einbinden konnten.

Die SMS-Novelle

Obwohl Autoren und Autorinnen wie Peter Adolphsen, Merete Pryds Helle oder Svend Åge Madsen sich an der SMS-Novelle versuchten, blieb sie in Dänemark unter dem Radar der Literaturkritik und wissenschaft. Was für ein ästhetisches Potential der SMS-Novelle jedoch innewohnt(e), ist in Steen Langstrups unlängst veröffentlichter Novellensammlung SMS zu erkennen. Auf 104 Seiten werden hier fünf SMS-Novellen abgedruckt, die der Autor ursprünglich zwischen 2011 und 2021 veröffentlicht hat und die jetzt als Buch pünktlich zum dreißigjährigen Jubiläum der SMS-Technologie erschienen.

Die buchförmige Veröffentlichung geht allerdings mit einem Medienwechsel mit weitreichenden ästhetischen Implikationen einher: Während eine SMS-Novelle sich in Form von Kurznachrichten entfaltet, über deren Zusendungszeitpunkt und -frequenz auf das eigene Handy der Leser oder die Leserin keine Kontrolle hat (und auf die er oder sie sogar antworten könnte), werden die Kurznachrichten in der Novellensammlung SMS in Sprechblasen auf Seiten mit viel weißem Raum angeordnet und die Rezeptionsgeschwindigkeit so ganz dem Leser oder der Leserin überlassen. Reminiszenzen an den Briefroman des 18. Jh.s oder den Emailroman des ausgehenden 20. Jh.s werden durch die buchförmige Veröffentlichung zwar evoziert, lassen jedoch eher die medialästhetischen Besonderheiten einer SMS-Novelle übersehen, als dass sie dazu beitrügen, diese zu erhellen. Denn während ein Briefroman oder Emailroman mediale Emulationen sind, d.h. fiktive Briefe oder Emails im Medium des Buches nachgeahmt werden, besteht eine SMS-Novelle aus einer Abfolge ›echter‹ Kurznachrichten, die auf dem eigenen Handy eintreffen. In einer Zeit, in der das Handy zum beständigen Begleiter geworden ist, vermag die SMS-Novelle es so, auf die Alltagswirklichkeit des Lesers oder der Leserin in einer Weise auszugreifen, wie es dem Medium Buch nicht möglich ist.

»Morgen sollst Du sterben«

Der dänische Autor Steen Langstrup ist seit seinem Debüt 1995 in vielen populären Genres produktiv gewesen. Vor allem als Verfasser von Horror- und Kriminalliteratur hat er sich einen Namen erschrieben. Mehrere seiner Bücher sind auch ins Deutsche übersetzt worden (weitere Übersetzungen erfolgten ins Norwegische, Schwedische, Finnische und Englische); zwei seiner Romane wurden obendrein in Dänemark verfilmt. In seinen SMS-Novellen bleibt er zwar genremäßig auf bekanntem Terrain, lotet aber zugleich geschickt die Spannungs- und Horrormöglichkeiten aus, die diese Literaturform medialästhetisch bietet. In »I morgen skal du dø« (Morgen sollst du sterben) von 2012 z.B. beginnt die Geschichte mit sieben Kurznachrichten von einem anonymen Absender, die den Leser oder die Leserin über zwei Tage verteilt erreichen. Mit Kurznachrichten wie »Jeg fulgte efter dig til morgen. Så du mig ikke?« (Ich folgte dir morgens. Hast Du mich nicht gesehen?) oder »Jeg har skygget dig hver eneste dag den sidste uge« (31; Ich habe dich jeden einzelnen Tag letzte Woche beschattet) wird der Leser oder die Leserin scheinbar selbst als Opfer eines Stalkers adressiert. Erst die achte Kurznachricht von einer ›Emma‹, die ankündigt, zur Polizei zu gehen, wenn die Kurznachrichten nicht aufhörten, lässt erkennen, dass das Handy des Lesers oder der Leserin nicht der Adressat der Kurznachrichten war, sondern diese Teil einer fiktionalen SMS-Novelle sind, in der die fiktive ›Emma‹ schließlich tot in ihrer Kopenhagener Wohnung aufgefunden werden wird, nachdem ihr kurz vorher per SMS der Tod angekündigt worden war.

»I morgen skal du dø« ist nicht nur eine Novelle aus Kurznachrichten, sondern autoreflexiv auch über Kurznachrichten: Die Bedrohlichkeit des Geschehens speist sich nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass Kurznachrichten in Zeiten, in denen das Handy unser permanenter Begleiter ist, das Stalker-
Medium par excellence sind – dem sich auch der Leser oder die Leserin im Rezeptionsakt aussetzt. Gleichzeitig arbeitet die Novelle – zumindest in ihrer ursprünglichen SMS-Form – wirkungsästhetisch mit dem bereits thematisierten Mangel an Mediendifferenz zwischen fiktiver und nicht-fiktiver Kommunikation, mit dem Verwischen von Fiktion und Alltagswirklichkeit. Wie erfolgreich diese ästhetische Strategie war, lässt sich nicht zuletzt dem Umstand entnehmen, dass mindestens drei irritierte Leser und Leserinnen nach dem Erhalt der ersten Kurznachrichten Anzeigen bei der Polizei wegen Stalking erstatteten. Nachdem diese Anzeigen sogar zum Thema in Danmarks Radio geworden waren, schaltete SMSpress dem Kauf der SMS-Novelle eine Warnung vor, um daran zu erinnern, dass die bald auf dem Handy eintreffenden Kurznachrichten fiktiver Natur seien.

»El Daemon«

Technologie, die in dämonische Bedrohung umschlägt, statt dem Menschen zu dienen, ist bekanntermaßen ein beliebtes Thema in Horrorliteratur, und eine von Technologie abhängige literarische Form wie die SMS-Novelle lädt dazu ein, dieses Potential autoreflexiv auszunutzen. In »El Daemon«, Langstrups erster SMS-Novelle von 2011, wird Alex immer wieder von seinem plötzlich verstorbenen Freund Ali per Kurznachricht kontaktiert. Ali ist angeblich »fanget et eller andet sted i det mobile netværk« (15; irgendwo im mobilen Netzwerk gefangen). Von hier aus verschickt ›El Daemon‹ Kurznachrichten, wonach der Empfänger oder die Empfängerin jetzt ihm gehöre und er sich die Seele nehme, während der Körper tot zurückbleibe. Selbst das Ausschalten des Handys sowie die Entfernung von Batterie und SIM-Karte helfen nicht gegen den drohenden dämonischen Übergriff aus dem Zwischenreich des mobilen Netzwerkes (mit ›Daemon‹ werden nicht von ungefähr in UNIX- und ähnlichen Systemen im Hintergrund laufende Prozesse bezeichnet). Über die Kontaktliste des Handys verbreitet sich die Kurznachricht von El Daemon »Du er min nu. Din sjæl tilhører mig. Jeg ringer, når jeg vil have den« (28; Du bist jetzt mein. Deine Seele gehört mir. Ich rufe an, wenn ich sie haben will) wie ein Virus weiter – als letzte Kurznachricht der SMS-Novelle auch auf das Handy des Lesers oder der Leserin. Das Medium der Kurznachricht wird so als Seuche pathologisiert, die phantastischerweise alle technischen – und diegetischen – Schranken zu überwinden versteht, und der Mobilfunk als ein transzendent-dämonischer Parallelkosmos entworfen, der seine Nutzer und Nutzerinnen verschlingt.

2017 hat Langstrup »El Daemon« übrigens zu einer ›normalen‹ Novelle umgearbeitet, die auf dem Umweg über die englische Übersetzung (!) auch 2019 auf Deutsch als Extratext in Langstrups Die Insel (dänischer Originaltitel: Ø, 2017) erschienen ist. Der Vergleich macht deutlich, wie ungleich wirkungsvoller die SMS-Novelle die Thematik der dämonisch-übergriffigen Technik umzusetzen vermag. Denn zum einen wird sie selbst mit Hilfe dieser Technik realisiert, die damit dem Leser oder der Leserin als reale, nicht ›nur‹ fiktive gegenübertritt. Zum anderen ist El Daemons finale Kurznachricht »Du bist jetzt mein. Deine Seele gehört mir. Ich rufe an, wenn ich sie haben will« eben nicht wie in der gedruckten Novelle an eine Fokalisierungsinstanz wie Alex’ neueingeführte ältere Schwester Karla gerichtet, sondern direkt an den Leser oder die Leserin, die diesen Text auf ihren Handys erhalten. 

Leerstellen

Widmet Langstrup sich in seinen ersten beiden SMS-Novellen vor allem der potentiellen Dämonie des SMS-Kosmos, verschiebt sich der Schwerpunkt in seinen letzten drei Novellen zusehends auf eine ästhetische Erkundung des Leerstellenpotentials von SMS-Novellen. Kommunikation per SMS ist per se eine reduzierte, nicht nur in Bezug auf den Textumfang, sondern auch in Hinblick auf den Mangel an gleichermaßen narrativer wie räumlicher Kontextualisierung der kurzen Textmitteilungen. In »Pakken« (Das Paket) von 2014 müssen sich der Leser und die Leserin so durch Kurznachrichten von verschiedenen Absendern und Absenderinnen die Handlung erschließen, die in der Zündung einer Bombe auf dem in Kopenhagen stattfindenden European Song Contest per verschickter SMS kulminiert (auch hier entfaltet das Medium der Kurznachricht also schließlich seine zerstörerische Wirkung). In »Hjem til jul« (Zu Weihnachten nach Hause) aus dem gleichen Jahr entsteht die Spannung aus der nur fragmenthaften Informationsvergabe durch die Kurznachrichten, die eine Ärztin an ihren Vater aus ihrem geheimen Auslandseinsatz schreibt – bis sie schließlich zu Weihnachten als Zombie im Garten des Vaters erscheint. Und in »Læg nu smukt din hånd i min« (Leg jetzt schön Deine Hand in meine), Langstrups letzter SMS-Novelle von 2021, erfährt man erst nach und nach, dass die Kurznachrichten schreibende Thilde vor drei Jahren auf dem Weg zur weihnachtlichen Familienfeier bei einem Unfall umgekommen ist und erst durch die Hilfe der clairvoyanten Großtante Mimi aus ihrem Zwischenreich erlöst wird.

Der Schwanengesang der SMS-Novelle?

Die Zweitverwertung von Langstrups SMS-Novellen in Buchform (illustriert mit einem Umschlag mit Zombiemotiv, dessen Bezug zum Inhalt trotz der ›Zombienovelle‹ »Hjem til jul« unklar ist) hinterlässt eine gewisse Melancholie. In der Zusammenschau der Novellen wird nicht nur deutlich, dass die innovativsten Texte Langstrups, in denen er die medialästhetischen Möglichkeiten der damals neuen literarischen Form der SMS-Novelle erforschte, gleich nach 2011 entstanden sind, sondern auch, dass die Buchform für eine SMS-Novelle zwar ein mediales Format ist, das sie aus ihrer technologischen Abhängigkeit sowie Bedingtheit herauslöst und in eine historisch stabilere Form überführt, zugleich aber ihr ursprüngliches ästhetisches Potential stark reduziert. Noch sind die Langstrup’schen SMS-Novellen zwar über SMSpress als ›echte‹ SMS-Novellen abrufbar, doch wie lange noch? 

Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre ist unübersehbar, dass die Digitalisierung zwar experimentelle literarische Formen wie die SMS-Novelle, Blogs mit Literatur, eBooks mit ihren spezifischen hypertextuellen Vernetzungsmöglichkeiten oder augmented reading, d.h. die Ergänzung des gedruckten Textes durch im Netz zur Verfügung gestellte digitale Inhalte, hervorgebracht hat. Mehr als eine Randexistenz hat sich indes keine dieser neuen experimentellen Formen auf dem Buchmarkt sichern können. Die enge Verkopplung von Technik und ›Content‹ führt zudem unabdingbar dazu, dass digitalen Formaten eine Flüchtigkeit und Transitorik eingeschrieben ist, die in diesem Ausmaß aus der buchförmigen Literatur unbekannt ist. Die hypertextuelle Website zum Buch, die eben noch durch einen Link oder QR-Code angesteuert werden konnte, ist morgen schon nicht mehr aufrufbar; der mit einem Content Management System (CMS) realisierte literarische Blog muss wegen Sicherheitsproblemen des CMS abgeschaltet werden; der programmierte Code einer Abenteuererzählung in Zusammenspiel von Text und Bild auf dem Bildschirm erweist sich beim nächsten Update des Betriebssystems als nicht mehr lesbar. Und ironischerweise werden im World Wide Web mit seiner Verheißung von Grenzenlosigkeit gerade digitale literarische Formen häufig technologisch durch nationale Grenzzäune eingehegt: Wer Langstrups SMS-Novellen in ihrer ursprünglichen medialen Form erleben möchte, braucht dafür zwingend einen skandinavischen Handyvertrag. Ebenso ist ein hochgelobtes Werk wie C.Y. Frostholms Kalender for natten (Kalender für die Nacht), das Frostholm zusammen mit dem Illustrator Simon Bodh Nielsen 2016 für eine ›Lektüre‹ auf dem iPad realisiert hatte, nur über ein Apple-Konto für den dänischen Appstore zu installieren.

Die Literaturwissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren vor allem für jene digitalen Formate interessiert, die den Lesern und Leserinnen – anders als die herkömmliche Literatur – explizit interaktive, non-lineare, netzwerkartige Lektüreräume eröffnen. Die SMS-Novelle ist entsprechend wenig in den Fokus gekommen. Dass sie sich medial wie thematisch bevorzugt an Jugendliche und junge Erwachsene als digital natives mit entsprechender Intensivnutzung von Handys richtet(e), mag ebenfalls zu diesem Mangel an Interesse beigetragen haben. Während die Linguistik sich ausführlich den Kurznachrichten mit ihrer spezifischen, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszillierenden Sprache (z.B. ›4u‹ für ›for you‹, Akronymen wie ›LOL‹ oder der Erweiterung des Zeichensatzes durch Emoticons wie ›:-)‹) gewidmet hat, ist die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit SMS-Novellen ein Desiderat. Steen Langstrups SMS-Novellen lassen jedoch erkennen, dass so eine Auseinandersetzung lohnend sein kann.

Steen Langstrup: SMS, 2 Feet Entertainment, 2022.

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