Die Endlichkeit des Seins: Malte Perssons Untergangslyrik

Der Untergang der Menschheit ist ein Topos mit langer Tradition in der europäischen Literatur, Philosophie und Mythologie. Als Reaktion auf drohende oder tatsächliche Katastrophen ist er immer wieder zum Einsatz gekommen, nicht zuletzt in der Lyrik (siehe dazu einen Essay im populärwissenschaftlichen Magazin Anekdot). Anhand dieses Topos haben skandinavische LyrikerInnen des 20. Jahrhunderts ihre Kriegserfahrungen und ihre Angst vor einem Atomkrieg in weltbekannten Werken verarbeitet, wie zum Beispiel Harry Martinson im Versepos Aniara (1956) oder später Inger Christensen in der Gedichtsammlung alfabet (1981, Alphabet, 1988).

In diese Reihe von UntergangslyrikerInnen ordnet sich Malte Persson 2021 mit seinem Gedichtband Undergången (Der Untergang) ein. In einem Interview auf der Buchmesse in Göteborg 2021 sagte der 1976 geborene, in Göteborg aufgewachsene und in Berlin lebende Schriftsteller, dass es sich in seinem Gedichtband um einen beliebigen künftigen Untergang handele, der die Menschheit mit Sicherheit früher oder später ausradieren wird. Die gegenwärtige Klimakrise sei im Band nicht unbedingt gemeint, so Persson, sondern habe eher den Anlass geboten, über eine Erde ohne Menschen nachzudenken. Für ihn sei es sogar ein tröstender Gedanke, dass die Menschheit nur ein kleiner Passus der Erdgeschichte ist und dass sie wie alle anderen Spezies einmal aussterben muss. Im Kontext des Klimadiskurses wird in Undergången aber die Frage gestellt, was gewesen wäre, wenn wir mit den Ressourcen der Erde anders – bei Persson heißt das mit mehr Verantwortung und weniger Profitgier – umgegangen wären:

Våra plikter svek vi. Mot de döda
och mot de levande och inte födda.
Mot de gudar vi med mänsklig möda
skapat och av vilka vi var stödda.

Elden som Prometheus låtit glöda
slocknar: efter alla övergödda
kommer andra som får ingen gröda
från de fält som elden gjort förödda.

Vetenskapens ljus ska också falna:
solen åter oförstådd i väster
stå i brand bortom de svedda fälten,

efter att vi slutat att som galna
till oss själva fira offerfester.
Efter måltiden och efter svälten.

(Unsere Pflichten versäumten wir. Gegenüber den Toten
und den Lebenden und den Ungeborenen
Gegenüber den Göttern, die wir im menschlichen Bemühen
erschaffen haben und von denen wir unterstützt waren.

Das Feuer, von Prometheus entfacht,
erlischt nun: den Überfressenen
folgen andere, die keine Nahrung erhalten
von den Feldern, die das Feuer zerstörte.

Das Licht der Wissenschaft wird auch verlöschen:
die Sonne im Westen wieder unverständlich
steht in Brand jenseits der versengten Felder,

nachdem wir aufgehört haben, wie Verrückte
uns selbst in Opferfesten zu feiern.
Nach dem Mahl und nach dem Hunger.)

Auffällig ist, dass Persson die Mehrzahl seiner eschatologischen Gedichte in Undergången als Sonette, Terzinen oder Villanellen mit sorgfältig konstruierter Metrik und Endreimen verfasst hat. Diese Formstrenge wurde schon im Sonettband Underjorden (2011, Die Unterwelt) umgesetzt, während sich die drei weiteren Lyrikbände frei zwischen klassischen Formen, Prosagedichten und offener Form bewegten. Seit Perssons Debüt mit dem Roman Livet på den här planeten (2002, Das Leben auf diesem Planeten) liegen zudem vier Kinderbücher und ein weiterer Roman vor. Im Allgemeinen sind Perssons Texte von unaufhörlichen Sprachspielen und Stilbrüchen gekennzeichnet; in Undergången reimen beispielsweise „Bacchus glada följe av backanter“ („Bacchus‘ fröhliches Gefolge aus Bacchanten“) aus der griechischen Mythologie mit dem umgangssprachlichen Kompositum „pantertanter“ (in etwa: „Golden Girls“). Seriöse Literatur muss nicht „besk medicin“ („bittere Medizin“) sein, meint Persson programmatisch in einer der Kulturkritiken, die er regelmäßig in der Boulevardzeitung Expressen schreibt. Perssons kunstreicher Umgang mit der Sprache prägt ebenfalls seine Tätigkeit als Übersetzer. Zusammen mit der Schriftstellerin Isabella Nilsson hat er zwei klassische Werke der Nonsensliteratur übersetzt, und für seine Übersetzungen von englisch-, deutsch- und französischsprachiger Lyrik ins Schwedische wurde er 2021 mit dem renommierten Übersetzungspreis von Samfundet De Nio ausgezeichnet.

Thematisch stehen Reflexionen über unsere Gegenwart stets im Mittelpunkt von Perssons eigenen Texten. Motive wie Vergänglichkeit und Vergeblichkeit sowie die Vereinsamung und die Absurditäten der spätmodernen Informations- und Konsumgesellschaft kommen häufig vor, wie auch Reflexionen über die Funktion, die die Lyrik in der heutigen, digitalen Medienlandschaft hat, beziehungsweise haben könnte. Das gilt besonders für den Gedichtband Till dikten (2018, An die Dichtung), der 2022 in einer Doppelausgabe mit Undergången neu herausgegeben wurde, aber auch für die Bände Underjorden und Undergången.

Die Parallelität zwischen diesen beiden Werken besteht nicht nur in der Formstrenge und der Namensähnlichkeit, sondern auch darin, dass Elemente aus den altnordischen und antiken Mythologien sowie in beiden Fällen historische Ereignisse den Rahmen der Gedichte bilden. In Underjorden wird der mythologische Topos des Niedersteigens in die Unterwelt – die sogenannte katabasis – mit großstädtischen U-Bahn-Fahrten der (Spät-)Moderne verbunden, während Undergången auf verschiedenste Phänomene der Weltgeschichte zurückgreift, um den kommenden Untergang der Menschheit erkennbar zu machen.

Wie wird die Welt nach der Apokalypse aussehen? Darauf gibt Undergången wenige konkrete Hinweise. Der Band beschäftigt sich stattdessen fast ausschließlich mit den noch existierenden Spuren, die die menschlichen Zivilisationen auf die Erde hinterlassen haben und die irgendwann, vielleicht sogar bald, ausgelöscht sein werden. In den drei größeren Abschnitten „Gudarna (1)“– „Gudarna (3)“ („Die Götter“ 1–3), die alle aus Sonetten bestehen, werden negierte Bilder in schneller Folge aufeinandergestapelt; im allerersten Sonett hält Hades niemanden mehr gefangen, niemand wird den wehenden Winden einen Namen geben, die Götter können niemanden vor dem Untergang retten. Ausdrücke der Verneinung wie „ingen“, „inga“, „inte“, „ingenting“, und „aldrig“ gehören zu den am häufigsten vorkommenden im ganzen Band. An die Stelle des Menschlichen und des Menschengemachten tritt in Undergången eine postapokalyptische Leere; auf dem Buchumschlag ist bezeichnenderweise die Formel „0 x 0 = 0“ (null mal null ist gleich null) abgedruckt. Diese Leere zeugt jedoch nicht von Nihilismus. Das lyrische Ich fragt mehrmals besorgt, wie der Untergang verhindert oder zumindest verzögert werden könnte und wie die größten Werte der menschlichen Zivilisation – die Sprache und die Literatur – bewahrt werden könnten. Aus der Position des Schriftstellers kommentiert das lyrische Ich diesen drohenden Verlust wie folgt:

Jag, som medlem av den gamla sekten,
undrar: går det att förhindra dådet?
Denna rikedom av ord vi ärver –

måste den helt säkert gå ur släkten?
Detta är det sista ordförrådet
och jag plundrar nu dess språkreserver.

(Ich, ein Mitglied der alten Sekte
frage mich: Ist die Tat noch abzuwenden?
Dieser Reichtum an Worten, den wir erben –

ist unabwendbar, dass er nie überliefert wird?
Dies ist der letzte Wortschatz
und gerade plündere ich seine Reserven.)

Die universalistische, sich über viele Seiten streckende Aufzählung des Untergehenden enthält Verweise auf Kunstwerke und Technologien, Ideen, Mythen und Diskurse sowie auf menschliche Gefühle und Gebräuche aus verschiedenen Zeitaltern. Auch in zwei sogenannten Zwischenspielen – „Övergiven byggnad“ („Verlassenes Gebäude“) und „Sagospel“ („Märchenspiel“) – verdichtet Malte Persson seinen eigenen Untergangsmythos anhand von Vanitasmotiven wie einem leerstehenden Gebäude, dem Kaninchen aus Alice in Wonderland, das ständig auf seine Uhr schaut, und dem Sturz des Ancien Régime. Paradoxerweise werden aber gleichzeitig alle diese Phänomene, deren Untergang in den Gedichten geschildert oder vorausgesagt werden, durch ihre verneinende Benennung heraufbeschwört und dokumentiert, wie eine Inventur ex negativo. Der schnelle Wechsel zwischen Motiven und Bildern in Undergången fordert einerseits die Lesenden heraus, aber andererseits lassen die strengen Formregeln ein beruhigendes Gefühl der Kontrolle entstehen. Der unüberschaubare, potenziell chaotische Untergang kontrastiert so mit der durchkomponierten Form der Gedichte.

Dies gilt auch für das letzte Gedicht in Undergången, „Världen alltmer hastigt bakåtspolad“ („Die Welt, immer schneller zurückgespult“), welches in fünfhebigem Blankvers die ganze Geschichte der Erde rückwärts erzählt, von den Pandemieschlagzeilen 2020 bis hin zu den physikalischen Einzelheiten des Urknalls. Unter allem, was im Gedicht genannt wird, finden sich viele Städte, die schrumpfen und verschwinden, deren einstige Bedeutung für ihre jeweilige Kultursphäre ausgelöscht wird, wie Paris, London, Konstantinopel, Rom und Athen, bis nur eine letzte Stadt des Altertums, Uruk, bleibt. Die Auslöschung der sozialräumlichen Form der Stadt steht auch für das Verschwinden der staatlichen Verwaltungssysteme, der Künste und der menschlichen Zivilisation überhaupt. Der Schlusspunkt der Rückwärtsbewegung durch die Geschichte der Erde ist ein Zustand, zu dem die Erde womöglich rückkehren wird, wenn keine Menschen mehr da sind, wie in Nietzsches Vorstellung der ewigen Wiederkunft des Gleichen. So gesehen ist der Untergang der Menschheit in Undergången sowohl ein historisches Bild als auch eine Zukunftsvision.

„Världen alltmer hastigt bakåtspolad“ erscheint beinahe wie ein Strudel von Diskurs- und Geschichtsfetzen oder wie eine Collage, die aus unzähligen Referenzen, Echos oder Samplings besteht. Auf ähnliche Weise ist Malte Persson besonders in seinem Gedichtband Apolloprojektet (2004, Das Apolloprojekt) vorgegangen. Neben dem Klimadiskurs weisen alle Gedichte in Undergången Bezüge zu anderen gegenwärtigen Diskursen auf, zum Beispiel zu den Debatten über Identitätspolitik und cancel culture, dem neoliberalen Rationalisierungsdiskurs und den kontroversen Diskussionen über die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa. Auch der Diskurs über die COVID-19-Pandemie kommt in drei ‚viralen‘ Villanellen im Zwischenspiel „Ur samtiden“ („Zeitgemäß“) vor. Im gleichen Abschnitt widmet Malte Persson auch seiner Wahlheimat Berlin eine Reihe von Terzinen. Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls am 9. November 2019 werden die deutsche Teilung und Wiedervereinigung vom lyrischen Ich reflektiert, was viele Fragen aufwirft:

Vad ska byggas? Vem ska riva?
Att ingen mur i längden kan bestå
är väl för lätt sagt och att överdriva?

Om rummet läks, vad sker med tiden då?
Att spårvagnsspår förbinder stadens delar,
förbinder det dess sår? Vad ser den på?

(Was wird gebaut? Wer wird abreißen?
Dass keine Mauer auf Dauer steht
– leichthin gesagt und eine Übertreibung?

Würde der Raum geheilt, was geschähe mit der Zeit?
Verbinden die Straßenbahnschienen die Teile der Stadt,
verbinden sie deren Wunden? Was mag sie sehen?)

Am Ende steht eine Antiklimax als Antwort: „staden skelar“ („die Stadt schielt“), die Sichtweisen gehen auseinander. Das könnte auch so gelesen werden: Berlin ist nicht zu der Hauptstadt der Einigkeit geworden, worauf gehofft wurde – dazu sind die Kontroversen zwischen ost- und westdeutschen Positionen sowie die sozialen Problemlagen wie die Wohnungsnot und die Arbeitslosigkeit zu groß gewesen. Im Gedicht erscheint Berlin somit als ein historisch-diskursives Stadtgebilde, das mit dem Blick eines Außenstehenden betrachtet wird, und nicht als Wohnort oder Wahlheimat des Verfassers. Eine persönliche Perspektive kommt überhaupt selten in Malte Perssons Texten zum Vorschein. Im Vordergrund stehen stattdessen stets seine formbewussten Reflexionen über unsere Gegenwart, die an weltweit aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen anschließen. Aufgrund der universalistischen Einrahmung könnte Undergången als eine Art collagehafte Weltliteratur bezeichnet werden, die auch zu Überlegungen über die Rahmenbedingungen der Gegenwartsliteratur und den Stellenwert der Lyrik einlädt.

(Hanna Henryson, Stockholms universitet)

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Ein Geflecht aus Materie und Worten

Trådar sträcker sig åt alla håll
rötter jag aldrig blev varse då du var med
du stod liksom i vägen
men nu syns de tydligt, lysande klara
nu, då jag är äldst
och är den som ska fortsätta
hålla i trådarna
tills nästa generation tar över

Tioåringens hand i min
då urnan sänks ner i marken
sexåringen på knä intill hålet
följer mormor med blicken
då hon försvinner
ner i mullen

Det är något i jorden här
som känner dig
och nu bekantar sig med mig
vädrar (S. 12-13)

(Fäden laufen in alle Richtungen
Wurzeln, die ich nie bemerkte, als Du dabei warst
du standest irgendwie im Weg
aber jetzt zeigen sie sich deutlich, leuchtend klar
jetzt, da ich die Älteste bin
und diejenige, die nun
die Fäden in der Hand hält
bis die nächste Generation übernimmt

Die Hand der Zehnjährigen in meiner
als die Urne in den Boden versenkt wird
der Sechsjährige auf den Knien am Loch
der Blick folgt Oma
während sie verschwindet
hinunter in die Erde

Da ist etwas hier in der Erde
das dich kennt
und nun Bekanntschaft schließt mit mir
wittert)

Maria Turtschaninoffs (geb. 1977) Episodenroman Arvejord (2022; „Geerbte Erde“) spinnt seine Fäden zu einem dichten Geflecht aus Materie und Worten, aus Menschen, Tieren, Pflanzen, Räumen und Zeiten, aus Genres und Intertexten. Dabei zieht er seine Leser*innen mit einer leichten, ruhigen und doch von einer unterschwelligen Spannung getriebenen Erzählweise in seinen Bann. Verortet ist die Erzählung im schwedischsprachigen Österbotten, wo der Hof Nevabacka und die ihn umgebende Umwelt den Knotenpunkt der Erzählung bilden, von welchem die Erzählstränge wie Schleifen ausgehen und zu dem sie wieder zurückkehren. Doch obgleich der Ort von so zentraler Bedeutung ist und zudem einen hohen Wiedererkennungseffekt für eine mit Finnland vertraute Leserschaft mit sich bringt, haben die (umwelt)ethischen Fragen, die der Roman aufwirft, eine viel weitreichendere, globale Dimension.

Maria Turtschaninoff ist bisher vor allem als Autorin von Fantasyromanen, die in erster Linie Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen, in Erscheinung getreten. Besonders ihre feministisch geprägte Trilogie über das rote Kloster [Maresi (2014), Naondel (2016) und Breven från Maresi (2018)] hat ihr auch über Finnlands Grenzen hinaus zu Bekanntheit verholfen. Diese vielschichtige Erzählung über ein Frauenkollektiv, das sich in einer durch Armut und männliche Gewalt geprägten fiktiven Welt behauptet, steht in der Tradition von Autorinnen wie Ursula K. Le Guin und Margret Atwood.

Arvejord wendet sich nun an ein erwachsenes Publikum und verlässt den Bereich der Fantasy weitgehend. Am Beginn steht ein Prosagedicht, in dem „die Tochter“, das lyrische Ich, seine Mutter beerdigt und sein Erbe in Besitz nimmt, obwohl es zu dem Hof, der seit dem 17. Jahrhundert der Familie gehört, nur eine oberflächliche Beziehung hat. Bald streckt der Ort (und damit sind menschliche und mehr-als-menschliche Umwelt gleichermaßen gemeint) jedoch seine Fühler nach dem Ich aus: „mina steg ljuder mot jorden/ och den lyssnar/ och den viskar/ jag känner dina steg/ jag vet vems dotter du är”. (S. 14 – „[M]eine Schritte hallen in die Erde/ und sie hört zu/ und sie wispert/ ich kenne deine Schritte/ ich weiß, wessen Tochter du bist“.)

Nach diesem Intro, das im 21. Jahrhundert angesiedelt ist, folgt ein Zeitsprung zurück ins 17. Jahrhundert zu Matts, der aufgrund seiner Verdienste als Soldat in „der Westhälfte des Reichs“ ein Stück Land in „der Osthälfte“ erhalten hat. Wie Knut Hamsuns Isaak beackert er die Wildnis und legt Nevabackas Grundstein. Doch weit führt diese Parallele nicht, denn als Matts einen Sumpf trockenlegen will, verführt ihn ein Waldwesen und nimmt ihm das Gelübde ab, das Gebiet unberührt zu lassen.

Aus deren Begegnung geht der Sohn Henric hervor, den das Waldwesen mit den moosgrünen Augen Matts überlässt. Damit nimmt die Familiengeschichte ihren Lauf über fünf Jahrhunderte, wobei „Familie“ sehr weit zu fassen ist, denn die Akteure des Romans sind nicht nur Menschen und magische Wesen, sondern auch Tiere, Pflanzen und Dinge, die ihren Weg nach Nevabacka finden oder von dort stammen. So begründet sich Verwandtschaft vielmehr durch die Beziehung und Zugehörigkeit zum Ort als durch eine konkrete Verwandtschaft oder mögliche genetische Verbindungen. Die frühen Passagen markieren deutlich, dass man es mit einer Erzählung des Nordic Weird zu tun hat, einem noch neuere Genre, das ich beispielsweise in meinem 2022 erschienen Beitrag „Von bewusstseinserweiternden Pflanzen oder der Überwindung des Menschen: Finnish/ Nordic Weird als literarische Antwort auf die ökologischen Krisen des Anthropozäns?“ erörtere (erschienen in Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki CVIII).

Gegliedert ist der Text in fünf Teile, die unterschiedlich lang sind, aber immer ein Jahrhundert umfassen. Sie werden eingeleitet durch kurze Zitate von schwedischen und finnländischen Schriftsteller*innen, Musiker*innen und/ oder Künstler*innen, jeweils von Sanna Manders Illustrationen umrahmt. (Einen Eindruck von Manders Arbeiten kann man auf ihrer Homepage gewinnen.) Es schließen sich Episoden aus dem Blickwinkel verschiedener Protagonist*innen an, die unterschiedlichen Genrekonventionen folgen. Neben erzählenden Passagen findet man einen Dialog in Dramenform, Gedichte und Briefe. Die Erzählperspektive wechselt häufig, wobei eine große Nähe zu vielen Akteur*innen hergestellt wird, obgleich man sie nur kurz begleitet. Dazu tragen besonders die intensiven Beschreibungen sinnlicher Wahrnehmungen bei. Mit wenigen Worten gelingt es Turtschaninoff, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Geräusche und visuelle Eindrücke so zu schildern, dass der*die Leser*in tief in den Ort eintaucht und damit ebenfalls Teil des Geflechts um Nevabacka wird.

Hier liegt die vielleicht größte Faszination des Romans, der zu einem forschenden Lesen einlädt und die Fürsorglichkeit, mit der dieses Geflecht hergestellt und die den vielgestaltigen Protagonist*innen zuteil wird, auf die Lesenden überträgt. Es zeigt sich bald, dass nichts in diesem Text unverbunden bleibt, doch die Zusammenhänge erschließen sich oft nur fragmentarisch oder zeitlich versetzt. Die episodenhafte Form erfordert eine fokussierte und genaue Lektüre, die den Schleifen folgt, um so allmählich eine tiefere Kenntnis über die Umgebung zu erlangen. Gegen Ende des Romans führt diese Lektüre zu einem deutlichen Wissensvorsprung gegenüber den menschlichen Protagonist*innen, welche sich die Vorgeschichte Nevabackas nur noch lückenhaft erschließen können. Einiges an Wissen und manche Erzählung werden zwar tradiert, jedoch ohne dass die Akteur*innen die Hintergründe genauer kennen. So darf beispielsweise eine besondere Eberesche nicht gefällt werden, obwohl niemand außer den Leser*innen mehr weiß, warum dies so ist. Anderes hingegen sagt den Akteur*innen der Gegenwart nichts mehr, obgleich es in einigen Episoden von zentraler Bedeutung war. Ein Beispiel dafür wäre die Hütte im Sumpf, die verschiedenen Protagonist*innen Unterschlupf gewährt hat, nun aber kaum noch zu sehen ist. Manche Dinge werden hingegen mit neuer Bedeutung aufgeladen, so wie eine unbenannte gelbe Blume aus dem Sumpf bei Nevabacka, die im Verlauf des Romans mal die Handlung vorantreibt, mal im Hintergrund bleibt.

Turtschaninoffs Erzählen erinnert ein wenig an Romane von Monika Fagerholm (geb. 1961), da auch hier von den Orten und Dingen eine Wirkmacht ausgeht, die bestimmend für die Handlung ist. Und ähnlich wie in Erzählungen von Rosa Liksom (geb. 1958) wird Fiktives mit Historischem (Kriege, Hungerjahre, Abwanderung in die Großstädte, Emigration nach Amerika etc.) aus einer feministisch geprägten Perspektive verknüpft, wobei dies in Arvejord weniger in Form von linearen Zeitverläufen als vielmehr in Gestalt eines atmosphärischen Zeit-Raum-Gewebes geschieht. Dabei zeigen sich die Weltbilder der Protagonist*innen mit ihren moralischen und religiösen Vorstellungen nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, sondern sie fließen auch in die erzählerische Vermittlung mit ein. Während naturmystische Wesen im 17. Jahrhundert noch als ein realer Teil der Lebenswelt auftreten, nimmt deren Einfluss im Verlauf der Handlung ab und wird zunächst durch eine christliche Sichtweise und später dann von einem naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt abgelöst. Lange sind Männer die Herren auf Nevabacka, doch in den letzten Kapiteln haben die Frauen übernommen.

Neben den die Kapitel einleitenden Zitaten von Gunnar Ekelöf (1907-1968), Helena Westermarck (1857-1938), Alexander Slotte (1861-1927), Lars Lerin (geb. 1954) und Mikael Wiehe (geb. 1946) werden zahlreiche weitere intertextuelle Referenzen eingewebt. Arvejord zeigt sich verwurzelt in der schwedischen Literatur Finnlands. Neben klassischen Autoren wie Johan Ludvig Runeberg (1804-77) und Karl August Tavaststjärna (1860-98) werden bekannte Topoi aus der literarischen Tradition aufgegriffen. So zum Beispiel ein Briefwechsel zwischen einer jungen an Tuberkulose erkrankten Frau und ihrer engsten Freundin, was die Assoziationen zu dem unter Ediths brev (1955; „Ediths Briefe“) in Teilen publizierten Briefwechsel zwischen den Avantgarde-Schriftstellerinnen Edith Södergran (1892-1923) und Hagar Olsson (1893-1978) führt. Das Kapitel „Sommaren mit Doris“ („Der Sommer mit Doris“) hingegen fängt eine Stimmung ein, die an Fagerholms Romane Underbara kvinnor vid vatten (1994; Wunderbare Frauen am Wasser) und Den amerikanska flickan (2004; Das amerikanische Mädchen) erinnert.

Im Verlaufe der Erzählung werden Rollenklischees oft anzitiert, dann aber geschickt unterlaufen. Es wird mit der Erwartungshaltung der Leserschaft gespielt, wenn Frauen zunächst so erscheinen, wie man es von ihnen in einer männerdominierten Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts erwartet, dann jedoch oft auf überraschende Weise als wirkmächtige Akteurinnen in Erscheinung treten und den Blick der Lesenden führen. Ähnliches gilt auch für Kinder, Tiere und mitunter sogar Pflanzen. So zum Beispiel in dem Kapitel „Bittra örter“ („Bittere Kräuter“). Hier kommt der junge Botaniker Per von der Universität im südfinnischen Åbo nach Nevabacka, um eine bisher unbekannte gelbe Blume zu finden. Die junge Bäuerin Sofia gibt sich Schwärmereien für den kultivierten Studenten hin, während sie seinen ausführlichen Erzählungen über seine Studien lauscht. Sie führt ihn täglich in den Sumpf, um den Zeitpunkt der Blüte abzupassen, da nur so sichergestellt werden kann, dass es sich um die gesuchte seltene Art handelt. Sofia träumt davon, dass Per sie mit nach Åbo nimmt, und sie so dem harten Leben auf dem Bauernhof entkommen kann. Doch eines Abends liest sie heimlich einen der Briefe, die Per regelmäßig an seine Kommilitonen schreibt. Dieser Brief ist vollständig wiedergegeben, so dass die Leser*innen durch Sofias Augen unmittelbar mit Pers Worten konfrontiert werden. Dabei mokiert er sich über die Dummheit der österbottnischen Bauern und beschreibt Sofias Gestalt abwertend als grobschlächtig. Sofia wird schmerzlich klar, dass ihr mit Per kein neues Leben winkt und gibt daraufhin vor, abergläubische Angst vor dem Sumpf zu haben, damit sie Per nicht länger begleiten muss.

Nachdem die Lesenden Sofias Perspektive sehr unmittelbar folgen konnten, rückt die Erzählinstanz ein Stück weit von ihr ab:

Hon gick ut i natten utan att väcka någon, och gick över gårdstunet in i skogen utan tillstymmelse till rädslan. Den enda som såg henne gå, var en spillkråka […]. Mörkret slukade henne genast. (S. 172.)

(Sie ging hinaus in die Nacht ohne jemanden zu wecken, und ging über den Hof in den Wald ohne eine Spur von Angst. Die Einzige, die sie gehen sah, war eine Wildkrähe […]. Die Dunkelheit schluckte sie sofort.)

Nach Sofias Abgang schließt sich ein weiterer Brief Pers an seinen Kommilitonen an, in dem er klagt, dass er Österbotten tief enttäuscht verlässt. Er habe mit Hilfe eines anderen Führers als der ängstlichen Bauersfrau den Sumpf aufgesucht und tatsächlich einige Pflanzen gefunden, die womöglich die gelbe Orchidee sein könnten, doch habe irgendein Tier oder Insekt alle Blütenblätter abgerupft, so dass man die Pflanze nicht mit Sicherheit identifizieren könne. Und damit endet die Erzählung über Sofia und Per.

Materialität und Diskursivität sind eng miteinander verflochten in diesem Roman, der durchdrungen ist von Wurzeln im konkreten botanischen wie im übertragenen kulturellen Sinne. Dabei wirft der Text zentrale ethische Fragen unserer Zeit auf. Eine dieser Fragen, die häufig im Kontext literarischer und philosophischer Auseinandersetzung mit dem Anthropozän anklingt, bezieht sich auf die Rolle und die Funktion naturmystischer Zugänge, die in Arvejord Anlass für einen respektvollen, ja fast ehrfürchtigen Umgang mit der natürlichen Umwelt geben. Dabei lädt der Roman jedoch nicht zu einer unkritischen Bejahung vorchristlicher Mythologien und Glaubenssysteme ein, sondern lässt auch deren Kehrseite anklingen, sprich einen Aberglauben, der Vorverurteilungen begünstigt.

In den Abschnitten über das 21. Jahrhundert, die die Erzählung rahmen, wird schließlich eine zentrale Umweltproblematik der heutigen Zeit thematisiert. Angesichts der Nachlässe, mit denen das Ich konfrontiert ist, drängt sich die Frage auf, wie man mit dem von Menschen hergestellten oder hinterlassenen Material, welches die Ökosysteme der Erde zunehmend überfordert, umgehen soll. Dabei wird der Bedeutungsverlust der Gegenstände durch die historisierende Perspektive schmerzhaft vor Augen geführt. Hatten die Menschen der früheren Generationen diese Dinge (Nahrungsmittel einbegriffen) noch mit harter körperlicher Arbeit und großen Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten errungen und in Stand gehalten, so haben sie inzwischen (scheinbar) markant an Wert und Nutzen verloren. Hier zeigt sich eine Entkopplung von der materiellen Wirklichkeit, die in der Gewissheit des Klimawandels als maladaptives Verhalten und Realitätsflucht erkennbar wird. Entsprechend fragt sich „die Tochter“ am Ende, welche Verantwortung man angesichts der Dinge gegenüber den Vorfahren und den kommenden Generationen hat. Aus den „Instruktionen“ der verstorbenen Mutter, die das letzte Kapitel des Romans bilden, geht hervor, dass sich dieses Verantwortungsbewusstsein auf die gesamte belebte Umwelt bezieht:

Jag har fredat skogen
man får inte hugga där på tio år
Skogsrenarna trivs
och grävlingarna
och den där ovanliga orkidén
i vindfällen lever insekter och svampar

Fast du gör som du vill
med alltsammans
Det är din tur nu

Jag hoppas att du kommer att trivas (S. 371)

(Ich habe den Wald schützen lassen
man darf hier zehn Jahre lang nichts fällen
Die Waldrentiere fühlen sich wohl
und die Dachse
und diese ungewöhnliche Orchidee
im Windfang leben Insekten und Pilze

Aber du machst, was du möchtest
mit alldem
Jetzt bist du an der Reihe

Ich hoffe, du wirst dich wohlfühlen)

Für die Lektüre des Romans bietet sich eine Vielzahl umwelttheoretischer Einfallswinkel an. Besonders Donna Haraways neumaterialistische Ansätze, die sie in Staying with the Trouble, 2016 darlegt, drängen sich auf. Sowohl ihre Überlegungen zum Kompost und den Fadenspielen, als auch ihre Forderung, sich „verwandt zu machen“ mit anderen Lebensformen, können leicht auf den Roman adaptiert werden. Ich möchte an dieser Stelle jedoch mit einem Zitat Bruno Latours, entnommen aus dem Essay Où atterrir? (2017) schließen, da es verdeutlicht, dass Turtschaninoffs Roman nicht nur eine umweltethische, sondern auch eine umweltkritische Dimension hat, die nicht an der Oberfläche, sondern vielmehr durch die zeitlichen, räumlichen und die mehr-als-menschlichen Verflechtungen, sozusagen im Wurzelsystem des Textes, ihre Wirkung entfaltet:

In einem Erzeugungssystem [im Gegensatz zu einem Produktionssystem] stellen sich alle Wirkkräfte, alle Lebewesen die Frage, ob sie Nachfahren haben und sich in Vorfahren wiedererkennen, kurz, ob sie Verwandtschaftslinien erkennen und sich darin einfügen, denen es gelingt zu überdauern. […]

Der perverse Charakter der Modernisierungsfront liegt darin, dass sie, indem sie den Begriff der Tradition verächtlich als etwas Verstaubtes abtat, jede Form von Weitergabe, Erbschaft, Wiederaufnahme und also Transformation, kurz: Erzeugung hintertrieb. Und das gilt für die Erziehung der Kleinkinder ebenso wie für die Landschaften, Tiere, Regierungen oder Gottheiten. (Latour, Das terrestrische Manifest, 2018, S. 102-103.)

Diese beiden Systeme sind in Turtschaninoffs Roman klar erkennbar. Besonders der feministischen Perspektive ist es dabei zu verdanken, dass auch dem Erzeugungssystem mit Ambivalenz begegnet wird. Arvejord ist weit entfernt von einer regressiven Utopie, auf die der Titel womöglich schließen lässt. Die Bedeutung von Verwandtschaftslinien, Erbschaft und Weitergabe wird zwar eindringlich vor Augen geführt, doch geschieht dies jenseits anthropozentrischer Parameter. Turtschaninoff bewegt sich auf einer Linie mit Haraway und Latour, da sich das Konzept der Verwandtschaft auf menschliche und mehr-als-menschliche Akteure sowie ihre Lebensräume ausweitet. In diesem Sinne erzählt Arvejord nicht nur die Geschichte einer mit vergangenen Zeiten verflochtenen Gegenwart, sondern die Fäden werden weiter gesponnen und weisen in eine mögliche Zukunft.

Maria Turtschaninoff: Arvejord, Förlaget: Helsingfors, 2022.

(Judith Meurer-Bongardt, Bonn & Köln)

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Komm lasst uns fröhlich sein

Als Überschrift für seine Entstehungszeit taugt der Titel von Arne Lygres jüngstem Theatertext Tid for glede (Zeit für Freude) kaum. Das Jahr 2021, in dem der norwegische Dramatiker sein 17. und bisher letztes Theaterstück verfasst, ist auch in Norwegen gerade für die Live-Kunstart Theater alles andere als eine „Zeit für Freude.“ Wie in vielen anderen Ländern haben die Bühnen dort während der Corona-Pandemie mit massiven Einschränkungen und leeren Sälen zu kämpfen. Strenge Auflagen machen Theateraufführungen (wenn überhaupt) nur in bescheidenem Maß möglich. Die ganze Dimension der Tragödie lässt ein kurzer vergleichender Blick auf die Ticketverkaufszahlen an drei großen norwegischen Theatern erahnen: Laut der Norsk Shakespearetidsskrift setzte das Nationaltheater in Oslo noch im Jahr 2018 246.809 Tickets ab, Den Nationale Scene in Bergen 91.654 und das ebenfalls in Oslo beheimatete Dialekt- und Nynorsktheater Det Norske Teatret 281.726. Im Jahr 2021 ließen die politischen Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung dann die Kartenverkäufe an allen drei Häusern auf 86.087, 29.625 und 73.385 einbrechen. Eine Zeit für Freude? Eher eine Zeit der Sorge und Angst, der abgesagten Veranstaltungen und Feste ohne Gäste, der ausgestorbenen Büros und leeren Läden, der Einsamkeit und Isolation.

            Von all dem liest man in Lygres Stück: nichts. So außergewöhnlich das Jahr 2021 auch war, weder der Pandemie noch den damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen noch anderen geopolitischen Krisen wird in Tid for glede eine Bühne geboten. Hier dreht sich vielmehr alles um das kleine, alltägliche Miteinander einer in ihrer Mittelmäßigkeit gefangenen Mittelschicht und eben gerade nicht um die große Politik (ein paar nebulöse, seltsam deplatziert wirkende kapitalismuskritische Sätze einmal ausgenommen). Anhand von 16 Schicksalen stellt der 1968 in Bergen geborene, national wie international viel gespielte Autor einen bunten Strauß an verirrten Leidenschaften und persönlichen Schicksalsschlägen für sein Publikum zusammen: Familien- und Generationenkonflikte, in die Brüche gegangene Liebesziehungen, unfreiwillige Kinderlosigkeit, Flucht in die Fremde, Angst vor der Einsamkeit, Tod eines Familienmitglieds. Trotz dieser über jeden konkreten Zusammenhang hinausweisenden, wahrscheinlich allgemeinmenschlichen Krisen ist Lygres Text alles andere als zeitlos, sondern im Gegenteil stark von den Umständen geprägt, unter denen er entstanden ist. Das verrät die Lösung, die der Text für alle Probleme der Figuren anbietet. Die Härten des Lebens, so könnte man nämlich eine Grundbotschaft des Stücks verstehen, lassen sich im Miteinander und im Gespräch abfedern. Freude und Glück findet man immer (und hauptsächlich) in anderen Menschen. Obgleich die Wörter Corona oder Pandemie nicht einmal fallen, muss man Tid for glede mit dieser schlichten, sentimentalen Botschaft damit als typisches Covid-Stück begreifen. Es scheint, als wolle es uns mit jeder Zeile Dialog zeigen, welches Glück es ist, sowohl fremden wie auch vertrauten Menschen begegnen zu können, ohne sich überlegen zu müssen, ob das erlaubt oder potenziell gefährlich ist. Tid for glede ist in Zeiten der erzwungenen Vereinzelung eine Huldigung an den Menschen als soziales Wesen, für den Moment konzipiert, wenn alle wieder ohne schlechtes Gewissen zusammenkommen und ins Theater gehen dürfen, kurz: für eine Zeit der Freude.

            Die freudige Zeit für Lygre persönlich begann spätestens am 29. Januar 2022, als Tid for glede in der Regie von Johannes Holmen Dahl im großen Saal des Norske Teatret uraufgeführt wurde und sich innerhalb kurzer Zeit zu einem wahren Kassenschlager entwickelte. Zwischen der Uraufführung am 29. Januar 2022 (bereits wieder vor vollem Haus) und dem Herbst desselben Jahres sehen dort 25.000 Leute die unterhaltsame Inszenierung. Viele Kritiken überschlagen sich mit Lob: Die Zeitung Aftenposten bezeichnet die Aufführung am 30.01.2022 als „en stor begivenhet i norsk teater“ (ein großes Ereignis im norwegischen Theater), Dagavisen einen Tag später als „et teaterløft av de sjeldne“ (eine theatrale Kraftanstrengung der seltenen Art), und Karen Frøsland Nystøyl legt am 03.02. für NRK noch nach und gibt zu Protokoll: „Bravo! Eg trur eg har sett årets beste framsyning. Allereie.“ (Bravo! Ich glaube, ich habe die beste Inszenierung des Jahres gesehen. Jetzt schon.) Fast folgerichtig erhält die Produktion 2022 dann auch sieben Nominierungen für den wichtigsten norwegischen Theaterpreis Hedda-Prisen, und damit so viele wie noch keine andere vor ihr, darunter u.a. für den besten Text. Ausgezeichnet wird Tid for glede allerdings in zwei anderen Kategorien. Bei der Preisverleihung nehmen lediglich Preben Hodneland als bester Hauptdarsteller und Johannes Holmen Dahl für die beste Regie eine Hedda entgegen. Arne Lygre, der bereits einige Jahre zuvor mit einer Hedda für sein Stück La deg være (Lass dich sein) ausgezeichnet worden war, ging diesmal leer aus.

            Tid for glede, das gleichzeitig mit der Uraufführung bei Aschehoug als Lesestück erschien, besitzt einen klaren Aufbau. Ein erster, aus fünf Szenen bestehender Teil spielt tagsüber auf einem Friedhof an einem Fluss, ein zweiter zeigt über sechs Szenen hinweg eine abendliche Geburtstagsparty in einer kleinen Wohnung. Der Text verlangt, seinem Ruf nach sozialem Miteinander treu bleibend, eine nach heutigen Maßstäben erstaunlich große Anzahl an Darstellenden. 16 Figuren treten auf, immer wieder auch in größeren Gruppen, Doppelbesetzungen sind also nur zum Teil möglich. (Der Cast der Uraufführung bestand aus 9 Darstellenden.) Sie tragen durchweg Namen, die ihre Funktionen innerhalb von Familien beschreiben, z.B. „Ei syster“ (Eine Schwester), „Ei anna syster“ (Eine andere Schwester), „Ei enke“ (eine Witwe), „Ei farlaus“ (eine Vaterlose) etc. Nur zwei dieser Figuren haben noch einen zusätzlichen Namen: „Eit eg“ (Ein Ich) heißt Aksle und „Eit anna eg“ (Ein anderes Ich) David.

Wer andere Texte von Lygre kennt, wird in Tid for glede neben der leitmotivischen Suche nach Freude schnell auf ein Motiv stoßen, mit dem er sich in früheren Stücken bereits mehrmals und unter verschiedenen Blickwinkeln auseinandergesetzt hat: dem Verschwinden. Unter diesem Stichwort beschäftigt sich der Autor regelmäßig mit großen existenziellen Themen wie der Flüchtigkeit der Zeit, der Vergänglichkeit des Lebens und des Glücks, aber auch mit dem kleinen Verschwinden im Alltag, z.B. anhand von Figuren, die aufbrechen und gewohnten Zusammenhängen entfliehen (wollen). Manchmal werden sie wie in dem Migrationsstück mit dem sprechenden Titel Jeg forsvinner (Ich verschwinde) durch äußere Umstände dazu gezwungen, manchmal handeln sie aber auch, wie in dem Beziehungsdrama Meg nær (Mir nahe), freiwillig.

Auch in Tid for glede dreht sich viel um eine Figur, die ihr gegenwärtiges Leben hinter sich lassen möchte. Bereits in einer kurzen Vorbemerkung erfahren wir, dass ein Ich (Aksle) ein anderes Ich (David) verlassen und verschwinden will. Bemerkenswerterweise schlägt das Stück dann aber zunächst einen anderen, in der Dramengeschichte allerdings altbekannten Weg ein. Es beginnt nämlich mit einer Wartesituation. Zwei Figuren, hier Eine Schwester und Eine Mutter, warten auf eine dritte: auf Aksle, ihren Bruder bzw. Sohn, der, wir wissen es bereits, allerdings lieber verschwinden als kommen möchte. Wie Becketts En attendant Godot (Warten auf Godot) oder Fosses Nokon kjem til å komme (Da kommt noch wer) kreist auch Tid for glede damit zunächst um eine Leerstelle, um eine abwesende Person, von der niemand weiß, ob sie tatsächlich noch auftauchen wird. Langweilig aber wird es Mutter und Tochter während des Wartens nie, denn die Bühne füllt sich nach und nach mit zahlreichen anderen Personen, es wird immer voller und voller. Wie Glassteine in einem Kaleidoskop, die zu immer neuen Mustern zusammenfallen, treffen die Figuren bald auf dem Friedhof aufeinander.

            Schließlich, zum Ende des ersten Teils, taucht Aksle auf – allerdings nur, um kurz darauf endgültig aus dem Stück zu verschwinden. Warum er unbedingt fort will, seinen Freund David und seine Familie zurücklässt, bleibt bis zuletzt in der Schwebe. Seine Mutter und seine Schwester befürchten das Schlimmste, Selbstmord, David dagegen imaginiert im zweiten Teil eine Szene, in der Aksle mit einem fremden Mann ein neues Leben anfängt. Aksle selbst gibt in der fünften Szene des ersten Teils nur eine etwas kryptische Erklärung:

EIT EG Eg må finna meg ein stad der eg ikkje er heilt meg sjølv.

Eller der eg er meg utan alt mitt. Utan namnet mitt. Der eg berre er.

Eg veit ikkje. Eg må berre vekk.

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EIN ICH Ich muss einen Ort finden, an dem ich nicht ganz ich selbst bin.

Oder, wo ich ich bin ohne alles, was mein ist. Ohne meinen Namen. Wo ich einfach bin.

Ich weiß nicht. Ich muss einfach weg.

Aksles Verschwinden ist die dramaturgische Antriebsfeder des Textes. Weniger, weil sein Grund bis zum Schluss im Dunkeln bleibt, sondern weil seine Entscheidung, zu verschwinden, die anderen Figuren zueinander und miteinander ins Gespräch treibt. Diese Gespräche haben, vergleicht man sie mit Alltagsbegegnungen, allesamt einen besonderen Charakter. All die verletzten Gefühle, persönlichen Wunden und Selbstzweifel werden dort nämlich erstaunlich offen und direkt formuliert. So unsicher und vieldeutig Aksles Innenleben für ihn wie für andere bleibt, so klar sind die Aussagen der Zurückgebliebenen. Mutter und Schwester sprechen, während sie auf Aksle warten, über sich und ihr Verhältnis, teilen Sorgen, über die sie noch nie geredet haben (z.B. dass der Mann der Schwester die Mutter hasst oder die Schwester keine Kinder bekommen kann), eine fremde Nachbarin, die zufällig dazustößt, vertraut ihnen freimütig und hochemotional ihre Beziehungsprobleme an, eine Witwe und ihr Stiefsohn reden über den verstorbenen Mann und Vater, über dessen konservatives Menschen- und Beziehungsbild und das versteckte Beziehungsleben des schwulen Sohnes, usw. Auch im zweiten Teil, nach Aksles Verschwinden, verlaufen die Gespräche nach einem ähnlichen Muster. Eine Mutter und Ein anderes Ich (David) reflektieren zum Beispiel über ihre Beziehung und gleichen ihr Bild von Aksle ab, Ein anderer Nachbar und Ein Witwer gestehen einander zum ersten Mal ihre Liebe, Eine Mutterlose und Eine andere Mutterlose sprechen über ihren Verlust, und das alles zumeist im Beisein von anderen, unbekannten, sich immer wieder in die Gespräche einmischenden Personen.

            Als Rezipierendem wird einem in diesen oft in kurzen Hauptsätzen vorgetragenen Dialogen ein klarer Blick ins tiefste Innere der einzelnen Figuren gewährt. Keine Figur spielt hier „falsch“, niemand will hier, selbst wenn das Verhältnis untereinander noch so zerrüttet oder zerstört ist, jemanden täuschen oder ausnutzen. Zu dieser Offenheit untereinander gesellt sich auch eine Offenheit gegenüber den Zuschauenden. Zu Beginn jeder Szene präsentieren die Figuren sich nämlich selbst und kommentieren ihre eigene Rolle. Klar und deutlich wird uns so in regelmäßigen Abständen vor Augen geführt, dass das, was wir auf der Bühne sehen, nur Theater, nur Spiel ist. So beginnt z.B. die erste Szene folgendermaßen:

EI MOR Ei mor seier: Det er fint her nede ved elva.

Ei mor seier: Eg synest det er så fint her.

Ei mor seier: Det er ei eiga ro, på eit vis.

Ei mor seier: Eg er glad eg fann denne plassen.

Ei mor seier: Eg vert glad av å koma hit.

EI SYSTER Ei syster tenkjer: Er det dette mamma ville visa meg?

Ei syster tenkjer: Berre dette?

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EINE MUTTER Eine Mutter sagt: Hier unten am Fluss ist es schön.

Eine Mutter sagt: Ich finde, es ist so schön hier.

Eine Mutter sagt: Es ist gewissermaßen eine besondere Ruhe.

Eine Mutter sagt: Ich bin froh, dass ich diesen Platz gefunden habe.

Eine Mutter sagt: Es macht mich glücklich hierherzukommen.

EINE SCHWESTER Eine Schwester denkt: Wollte Mama mir das hier zeigen?

Eine Schwester denkt: Nur das?

Wenn wie hier selbst die Gedanken hörbar sind, verwundert es kaum, dass dem Text klassische große Spannungsbögen oder überraschende Entwicklungen abgehen, vielleicht mit der Ausnahme von Aksles Auftauchen und Verschwinden. Seine Kraft zieht das Stück vielmehr aus seiner Dynamik und sich stetig verändernden Figuren- und Gesprächskonstellationen. Im Laufe des Textes lösen sich alle Figuren immer mal wieder aus ihren angestammten Paarbeziehungen und gehen andere ein. Aus den zwei interagierenden Figuren Mutter und Schwester zu Beginn werden erst drei, dann vier und schließlich acht sich unterhaltende Figuren, bevor sie eine nach der anderen wieder verschwinden, bis am Ende wieder nur zwei Figuren auf der Bühne stehen. Als permanentes Hintergrundrauschen ist in allen Gesprächen stets die im Titel angekündigte Freude (glede) zu vernehmen. Regelmäßig genießen alle, an einem Ort zu sein, an dem sie mit und zu anderen offen und ehrlich sprechen können. „Me er like“ (Wir sind gleich) stellen sie dann manchmal fest und freuen sich. In der siebten Szene des zweiten Teils, der letzten des Stücks, philosophieren Ein anderes Ich und Eine andere Mutter über die Grundvoraussetzung für jede Freude, und kommen zu der Einsicht: Glücklich wird man nur, wenn man mit anderen zusammen sein, wenn man in ein Resonanzverhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt treten kann.

EI ANNA MOR Me er glade.

EIT ANNA EG Kva er eit menneske utan glede?

EI ANNA MOR Ingenting.

EIT ANNA EG Nei. Ingenting. Gleda er alt.

EI ANNA MOR Me er glade, trass alt.

EIT ANNA EG Me er ikkje heilt glade no, men me skal finna gleda. Me skal finna att gleda i oss sjølve og i kvarandre og i menneska og i verda.

EI ANNA MOR Eg elskar menneske.

EIT ANNA EG Eg òg. Eg elskar menneske.

EI ANNA MOR Me er like, du og eg.

EIT ANNA EG Det er me.

EI ANNA MOR Det er eg glad for.

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EINE ANDERE MUTTER Wir sind froh.

EIN ANDERES ICH Was ist ein Mensch ohne Freude?

EINE ANDERE MUTTER Nichts.

EIN ANDERES ICH Nein. Nichts. Die Freude ist alles.

EINE ANDERE MUTTER Wir sind froh trotz allem.

EIN ANDERES ICH Wir sind noch nicht ganz froh, aber wir werden die Freude finden. Wir werden die Freude in uns selbst und ineinander und in den Menschen und in der Welt finden.

EINE ANDERE MUTTER Ich liebe Menschen.

EIN ANDERES ICH Ich auch. Ich liebe Menschen.

EINE ANDERE MUTTER Wir sind gleich, du und ich.

EIN ANDERES ICH Das sind wir.

EINE ANDERE MUTTER Darüber freue ich mich.

Tid for glede ist eine Ode an die Freude und stellt das Beisammensein ins Zentrum. Der Text beschwört und feiert nach einer langen Zeit der Pandemie, in der größere und kleinere Zusammenkünfte, wenn überhaupt, nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich gewesen sind, das menschliche Miteinander als heilende Kraft und Freudenspender. Allein mit dem Textbuch in der Hand bleibt dieses Miteinander allerdings zwangsläufig immer nur eine Idee. Weder die durchaus virtuos geschriebenen Gruppengespräche noch in den Text integrierte Pausen für Popsongs noch die emotionalen Krisen ziehen den Lesenden in ihren Bann, da sie stets von der Banalität der Schicksale, der Eindimensionalität der Figuren und der manchmal arg moralisierend-esoterisch klingenden Huldigungen der Freude übertüncht werden. Erst auf der Bühne können die dynamischen und auch unterhaltsamen Qualitäten des Textes wirklich zur Geltung kommen. Denn dort zählt eben nicht nur das, was die Figuren sagen, sondern auch das Wie. Dort zählt die Energie, die zwischen ihnen entsteht, zählt die Wirkung, die Körper, Stimme, Licht oder Musik auf uns Zuschauende haben, dort zählen eben das gemeinsame Erleben und das Miteinander. Und wenn das so viel Freude macht wie in der ersten Inszenierung des Theatertextes, dann vergessen wir gerne unsere einsame Lektüreerfahrung, klatschen in die Hände und keiner ist allein.

Arne Lygre: Tid for glede. Epub ed., Aschehoug, 2022.

(Patrick Ledderose, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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