Fragen über Antworten

Im Rahmen des Schreibprojekts Since You Asked bieten schwedischsprachige Autor*innen seit 2018 einen Kummerkasten im Internet an, der aufgrund seiner Mischung an Genres, Publikationsformaten und Darbietungsformen auffällt. Fragen an den Kummerkasten werden vorrangig auf der Internetseite sinceyouasked.se gestellt und dort mit Lyrik, Dramatik und Prosa beantwortet. Eine parallele Veröffentlichung erfolgt über den Instagram-Account @sinceyouasked.se. Interessanterweise ist die über die Website entstehende Frage-Antwort-Kommunikation jedoch nicht nur online nachzulesen, sondern wird auszugsweise auch im Rahmen von Ausstellungen und Lesungen in Schweden, Dänemark und Norwegen dargeboten. Zudem werden Fanzines produziert, mittlerweile vier an der Zahl, wobei die Herausgabe dieser grauen Literatur auch immer wieder Anlass für gesonderte Veranstaltungen ist. Unter dem Titel Timelapse. Antologi 2020−2021 ist zudem eine Auswahl der Texte auch in Buchform erschienen und über den Buchhandel erhältlich.

Die nachträgliche Publikation von internetbasierten Schreibprojekten in Buchform ist mittlerweile gängig, sodass die Auskopplung der Anthologie Timelapse kaum überrascht. Buchgestalterisch ansprechend ist vor allem der Farbverlauf zwischen pastelligen Blau- und Rosatönen, welche an ein beschädigtes LCD-Display erinnern. Cover und Inhaltsverzeichnis sind im Querformat gestaltet, was als zusätzliches Zitat digitaler Kommunikationsträger deutbar ist. So würde das Blättern eine ähnliche Lesebewegung wie das ‚Scrollen‘ auf dem Display evozieren. Der Text ist ansonsten jedoch im Hochformat gesetzt und begünstigt daher letztlich eine konventionelle Handhabung des Buches. Die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis sind leider, das sei hier angemerkt, vor der Drucklegung nicht aktualisiert worden. Insgesamt überzeugt die Konversion zum physischen Kommunikationsträger Buch nur bedingt, was eine nähere Betrachtung wert ist.

Abbildung 1 Inhaltsverzeichnis der Anthologie Timelapse

Digitalität im Fokus

Since You Asked funktioniert als digitales Schreibprojekt im Internet besser als in Buchform, weil es digitale Praktiken indirekt kommentiert und teilweise unterläuft. Interessant ist die Zielsetzung des Schreibprojekts »Förhoppningen är att alla frågor någon gång ska få ett svar.« (Die Hoffnung ist, dass alle Fragen einmal beantwortet werden), weil sie doppeldeutig ist und zum einen utopisch aufgefasst werden kann. Sie wäre dann auf alle existierenden Fragen gemünzt, was sich als Kommentar auf die vermeintliche Allwissenheit des Internets lesen lässt. So erhalten selbst Spambots eine Antwort, wenn sie »ztSi2MVP« (am 21.12.2019) fragen. Die kryptische Buchstabenfolge gibt Anlass für einen kurzen, absurd-gruseligen Prosatext über eine Person, die von der Vorstellung heimgesucht wird, ein Fuchs hätte sie einst per SMS kontaktiert, indem er auf einem verlorengegangenen Handy herumgebissen habe. »Det fanns ingen som kunde tolka språket, var det norska? De tyckte väl inte att räven var norsk? De bestämde sig för att det var slumpmässiga bokstäver i en slumpmässig ordning. De sov gott genom sina nätter. De skrattade gott åt händelsen.« (Niemand konnte die Sprache übersetzen, war es Norwegisch? Sie glaubten doch wohl nicht, dass der Fuchs norwegisch war? Sie beschlossen, dass es zufällige Buchstaben in einer zufälligen Reihenfolge waren. Sie schliefen die Nächte gut durch. Sie lachten viel über die Geschichte.) Die Vermutung, dass der Fuchs norwegisch sei, ist in diesem Fall ein intertextueller Verweis auf das 2013 viral gegangene Musikvideo »The Fox (What does the fox say?)« des norwegischen Komikerduos Ylvis. Das Erkennen intertextueller Verweise wie diesem setzt wiederum ein spezifisches Wissen über Netzkultur voraus, das sich nur bedingt über vermeintlich allwissende Suchmaschinen gewinnen lässt.

Zum anderen kann die Zielsetzung des Schreibprojekts auf die tatsächlich an den Kummerkasten gestellten Fragen bezogen werden. Das Design der Website sinceyouasked.se begünstigt aufgrund fehlender Suchfunktion und Verschlagwortung, dass sich Frageinhalte wiederholen, wie etwa: 

anonym (25.11.2019): Kommer hon nånsin bli kär i mig? (Wird sie sich jemals in mich verlieben?)

Jennifer (13.09.2019): Är han kär i mig? (Ist er verliebt in mich?)

anonym (12.07.2019): Hur vet jag om han är kär? (Wie weiß ich, ob er verliebt ist?)

anonym (15.02.2018): Är Anton kär i mig? (Ist Anton in mich verliebt?)

Obwohl Liebeskummer in diesen Beispielen fast gleichlautende Fragen motiviert, erhält jede*r Fragende einen eigenen literarischen Text als Antwort. Würde die Frage hingegen einer Suchmaschine gestellt, bekämen die Fragenden zunächst ein Fenster mit Vorschlägen zur automatischen Vervollständigung zu sehen und schließlich eine Liste mit Verlinkungen auf ähnliche Fragen in Internetforen präsentiert:

Abbildung 2 Suchanfrage zum Vergleich

Die literarischen Antworten suggerieren den Fragenden somit ein Gefühl von Individualität und haben mehr Charme als die Vervollständigungsvorschläge und Ergebnislisten von Suchmaschinen. Zugleich zeigt sich hier ein medialer Vorteil der Internetseite sinceyouasked.se gegenüber einer gedruckten Anthologie wie Timelapse, deren Inhaltsverzeichnis eine thematische Übersicht anbietet und somit etwaige Wiederholungen aufzeigen könnte, was potenziell das Gefühl von Individualität auf Seite der Fragenden bedrohen könnte.

Die Literarisierung der Frage-Antwort-Kommunikation ist somit vor allem im Kontext digitaler Praktiken zu verstehen. Timelapse markiert zwar zusätzlich Literarizität, weil ein ‚Buch‘ vorliegt. Die Literarisierung von Fragen und Antworten erfolgt jedoch bereits im Internet. So heißt es in der Selbstbeschreibung: »Since You Asked är ett kollektivt textverk som hämtar sin form från frågespalten och sitt hjärta från poesin.« (Since You Asked ist ein kollektives Textwerk, dessen Form aus der Fragespalte und dessen Herz aus der Poesie entspringt.) Neben dieser Bezugnahme auf die Poesie im Sinne von Dichtkunst werden insbesondere die Antwortenden zusätzlich als »författare« (Autor*innen) ausgewiesen. 

Kollektives Schreiben

Abbildung 3 Screenshot der Website sinceyouasked.se

Since You Asked kommentiert nicht nur indirekt digitale Praktiken, als »kollektives Textwerk« basiert es selbst auf einer solchen Praktik. So setzt Since You Asked ganz im Sinne des Web 2.0 auf die Interaktion und Kollaboration von mehreren Personen, was zugleich Fragen nach der Konzeption von Autor*innenschaft aufwirft, insbesondere da an der Website sowohl die Fragenden als auch die Antwortenden mitschreiben. Die Fragenden können sich auf sinceyouasked.se aussuchen, wie sie heißen wollen. In den meisten Fällen wird »anonym« gewählt, jedoch gibt es auch häufig Namensgebungen, welche mit der Frage im Zusammenhang stehen. So fragt Hästflickan (Das Pferdemädchen; 08.01.2021) nach dem Lieblingstier des*der Antwortenden und Piercad (Gepiercte*r; 15.09.2022) erkundigt sich nach den Gründen für die Popularität floraler Tattoomotive.

Abgesehen von diesen banalen Pointen gibt es jedoch durchaus Kombination aus Namensgebung und Frage, die aufgrund der besonderen zeitlichen und räumlichen Eigenschaften des Internets beim Lesen interessante Leerstellen kreieren, wie zum Beispiel der Name Avenyn (Die Allee; 05.07.2021) in Kombination mit der Frage »hur snygg får man vara?«. Zu den besagten zeitlichen und räumlichen Eigenschaften gehört unter anderem, dass trotz der Dokumentation durch Metadaten häufig unsichtbar bleibt, wann und wo Inhalte produziert sowie rezipiert werden. So ist zwar Avenyns Frage in diesem Fall zeitlich eindeutig datiert, jedoch fehlt eine räumliche Verortung. Die Frage kann zum einen als »wie hübsch darf man sein?« übersetzt werden und ist eine in Schweden als Kompliment gängige Redewendung. Zum anderen wäre sie auch als »wie sauber/ordentlich darf man sein?« übersetzbar. Aufgrund des Namens Avenyn wirkt die Frage letztlich vieldeutig: Bezieht sie sich auf eine beliebige Prachtstraße oder die darauf flanierenden Personen? Ist die Frage als Redewendung auf einer solchen Prachtstraße aufgeschnappt worden? Handelt es sich hier vielleicht um die Kungsportsavenyen in Göteborg, die dortige Ausgehmeile, welche von den Ortsansässigen schlicht ‚avenyn‘ genannt wird? Immerhin ist Göteborg ein Zentrum der offline-Aktivitäten von Since You Asked. Oder ist die Kombination aus Name und Frage im Sinne von »wie hübsch darf man sein?« eine, zugegeben etwas späte, Anspielung auf die im Jahr 2018 geführte Debatte um Eugen Gomringers Gedicht Avenidas an der Fassade der Alice Salomon-Hochschule in Berlin, welche auch in der schwedischsprachigen Presse rezipiert worden ist? Im Rahmen der Debatte ist nicht nur diskutiert worden, ob Gomringers Gedicht über die Konstellation aus Straßen, Blumen, Frauen und einem Bewunderer sexistisch sei, sondern inwiefern das Gedicht in einem ästhetischen Sinne als schön gelten könnte. Avenyns kurze Frage ist somit komplexer, als es auf den ersten Blick scheint, da sie im Internet translokal rezipierbar ist.

Die auf sinceyouasked.se in Form eines Gedichts gegebene Antwort wird dieser Komplexität jedoch nur bedingt gerecht:

går på avenyn med mitt hår och mina år 

av lekfullhet

sommaren är öm, julis djupnande grönska

o svullna blommor, som läppar

när man öppnar dem med fingrarna

hur snygg får man va

hur doftande av varm sten, salter, blod

döden har ingen plats i modersansiktet

ögonblicks-död-föränderligheten

har ingen plats

gehe auf der Allee mit meinen Haaren und meinen Jahren

aus Verspieltheit

der Sommer ist zart, Julis dichter werdendes grün

o geschwollene Blumen, wie Lippen

wenn man sie mit den Fingern öffnet

wie hübsch darf man sein?

wie duftend nach heißem Stein, Salzen, Blut

der Tod hat keinen Platz im Muttergesicht

die Augenblicks-Tod-Veränderlichkeit

hat keinen Platz

Das Gedicht weist kaum inhaltliche oder formale Bezüge zu Gomringers Avenidas auf, abgesehen von der Erwähnung von Blumen, was ein Zufall sein könnte. Bezüge zur Debatte um die Fassade der Alice Salomon-Hochschule müssten zudem bei der Interpretation eher vage konstruiert werden. Ein möglicher Sinn des Antwort-Gedichts erschließt sich hingegen eher, wenn die durch Avenyn in Gang gesetzte Frage-Antwort-Kommunikation trotz ihrer translokalen Rezipierbarkeit in Göteborg ‚verortet‘ wird. So befindet sich vor Göteborgs Stadtbibliothek an der Kungsportsavenyen eine Statue für die schwedische Autorin Karin Boye (1900−1941), die in dem Antwort-Gedicht porträtiert sein könnte. Die Statue zeigt Boye nämlich als jugendliche Frau und hält häufig eine frische Blume in der Hand, die Vorbeigehende dort platzieren. Boye hat zudem in ihrem dystopischen Roman Kallocain (1940), der in Schweden kanonisch ist, ein geschlechterübergreifendes Mutterschaftsideal entwickelt, was den dritten Vers von unten zu erklären vermag. Als Anekdote sei hier zudem vermerkt, dass die Statue so lebendig wirkt, dass ihr Gesicht bei einem Stadtspaziergang mit Google Streetview ebenso verpixelt ist wie das anderer Passant*innen auf der Kungsportsavenyen.

Abbildung 4 Links: Karin Boye-Statue mit Blumen in Göteborg (Mattias Blomgren via Wikicommons); rechts: Screenshot der Google Streetview-Ansicht

Wer auf die Fragen jeweils antwortet, bleibt auf sinceyouasked.se unausgesprochen. Aus der dort zu findenden Liste der beteiligten Autor*innen geht nicht hervor, welcher Antworttext von wem stammt, und auf Pseudonyme wird verzichtet. Dadurch scheinen sich Fragende und Antwortende beim Schreiben zunächst auf Augenhöhe zu begegnen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch innerhalb des Schreibprojekts trotzdem eine gewisse Schieflage in der Autor*innenschaftskonzeption. Auf Instagram stellt der Account des Schreibprojekts nämlich seit November 2020 die Antwort-Autor*innen mit Porträtfotos sowie tagging vor und ordnet sie den Texten zu. Damit wird die Autor*innenschaft der Antwortenden gegenüber der der Fragenden gestärkt. Bei den Antwortenden handelt es sich überwiegend um junge Literaturschaffende, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Der Bekannteste unter ihnen ist der finnlandschwedische Autor Quynh Tran, der im Februar 2022 den renommierten finnischen Runeberg-Preis für seinen Debütroman Skugga och svalka entgegengenommen hat. Tran hat sich im selben Monat mit einem Antworttext an Since You Asked beteiligt. Die einseitige Stärkung der Autor*innenschaft ist darauf zurückzuführen, dass das Schreibprojekt während der Corona-Pandemie in eine neue Entwicklungsphase eingetreten ist, welche sich durch eine Spielelogik auszeichnet, bei der ein*e Antwort-Autor*in jeweils bestimmt, wer die nächste Frage beantworten soll. Mittels dieser Verkettung von Autor*innen versucht Since You Asked seitdem Aufmerksamkeit für das eigene Projekt auf Instagram zu generieren. Die Sichtbarmachung der Autor*innenschaft durch das tagging zielt nämlich darauf ab, dass die jeweiligen Followers von dem Projekt erfahren. Der Erfolg scheint jedoch mäßig, da @sinceyouasked.se aktuell nur 668 Personen folgen. Zum Vergleich: Alexander Fallo (@alexanderfallo), der seit 2012 auf Instagram aktive norwegische Shootingstar der #instapoetry, hat 21.1k Follower.

Abbildung 5 Screenshot von @sinceyouasked.se

Interessant an @sinceyouasked.se ist auch die Gestaltung der Texte, die sich von der Darstellung auf der Website sinceyouasked.se zunächst stark unterschieden hat. Während auf der Website alle Texte in einem gleichförmigen, relativ schlichten Format erscheinen, werden dieselben Texte auf Instagram gemäß den Konventionen des Genres #instapoetry von Beginn an visuell stark angereichert präsentiert. Auch hier gibt es jedoch eine gewisse Entwicklung zu beobachten: Anfänglich wird auf eine analoge Materialästhetik gesetzt, indem vor allem handschriftliche oder ausgedruckte Manuskripte der Antworten abfotografiert werden. Sowohl bei den Handschriften als auch den Ausdrucken ist dabei stets erkennbar, dass die Manuskripte des digitalen Schreibprojekts für das Foto auf Papier vorliegen. Diese nostalgische Geste hat @sinceyouasked.se nach und nach aufgegeben. Stattdessen werden die Texte vermehrt vor Farb- oder Bildhintergründen in Szene gesetzt. Seit Anfang des Jahres 2022 ist festzustellen, dass der Instagram-Account statt den Antworten die Fragen in den Fokus rückt, was mit Blick auf andere #instapoetry-Accounts ein Distinktionsmerkmal ist. Die Fragen werden dabei in einem uniformen Stil präsentiert, welcher die Website visuell zitiert, indem der auf @sinceyouasked.se zu sehende Textkasten gestalterisch dem Fragefenster von sinceyouasked.se entspricht. Für den Hintergrund werden weiterhin thematisch passende Bilder verwendet. Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, da sie die angesprochene Schieflage in der Autor*innenschaftskonzeption funktionalisiert. So wecken die im eigenen Feed oder im Explore-Feed auftauchenden Fragen nicht nur Neugier auf die Antworten. Sie stimulieren zugleich die Imagination, da sie die Lesenden auch dazu einladen, vor dem Lesen der Antworten über den jeweiligen Anlass einer Frage und die anonymen Frage-Autor*innen nachzudenken, ähnlich wie ich es oben anhand von Avenyns Frage vorgeführt habe.

Abbildung 6 Screenshot von @sinceyouasked.se

In welche Richtungen sich Since You Asked weiterentwickeln wird, bleibt aufgrund der bislang bewiesenen Flexibilität im literarischen Feld spannend. Inhaltlich sind die Fragen und Antworten zu divers, um hier bestimmte Tendenzen oder die Qualität der Texte umfassend beurteilen zu können. Die Stärke des Schreibprojekts ist jedoch ohnehin seine konzeptuelle Experimentierfreudigkeit. Eine umfassende Beurteilung des Projekts müsste die eingangs erwähnten Lesungen und Ausstellungen miteinbeziehen, was für diese Rezension nicht möglich gewesen ist. Erwähnt sei hier nur, dass sich aus Bildern auf sinceyouasked.se und @sinceyouasked.se schließen lässt, dass bei den Lesungen ein Overhead-Projektor zum Einsatz kommt – ähnlich nostalgisch wie das Papier auf Instagram wird also auf den analogen Vorläufer des Beamers gesetzt. Es sind solche konzeptuellen Details, mit denen dieser Kummerkasten letztlich Freude bereitet.

Since You Asked: Timelapse. Antologi 2020−2021. Eigenverlag, 2021.

sinceyouasked.se

@sinceyouasked.se

(Philipp Wagner)

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