Düstere Zeiten: Simon Stålenhags visuelle Parallelwelten

Fotorealistische Autofiktion im Zeichen der Zeitschleife

Im Jahr 2014 stellte The Guardian eine Top-Ten-Liste der besten Dystopien auf. Platz 7 (nach Werken von Margret Atwood, Franz Kafka, Lois Lowry, Richard Adams, Chris Marker und Andrew Niccol) belegte der damals frisch erschienene Bildband Ur varselklotet (Tales from the Loop) des schwedischen Digital-Bild- und Tonkünstlers Simon Stålenhag. Mittlerweile hat er drei weitere Bildbände vorgelegt, die sich wie immer düsterere Fortsetzungen lesen; der jüngste mit dem Titel Labyrinten (The Labyrinth), zu dem er auch einen atmosphärischen Soundtrack komponiert hat, erschien 2020, ein weiteres Projekt mit dem Titel Europa Mekano ist angekündigt. Viele der Werke lassen sich auf der Homepage des Künstlers ansehen; die narrative Rahmung aber erschließt sich erst durch die Lektüre der Print-Bände.

Im Gegensatz zu klassischen sogenannten Zeit-Utopien (wie Orwell’s 1984 oder Huxley’s Brave New World), deren dystopische Szenarien sich in einer erdachten Zukunft abspielen, lassen sich Stålenhags Bildwerke eher als Retro-Parallelwelten begreifen, deren Ausstaffierung aus den 1980er und 1990er Jahren einen starken Wiedererkennungseffekt hervorruft, während die mysteriösen Maschinenruinen, die wie Fremdkörper in der Landschaft stehen, den Eindruck einer bereits kaputtgegangenen Zukunftsdimension des Wohlfahrtsstaats vermitteln.

Das Schweden in Stålenhags Universum ist nur leicht modifiziert, wie in den Buchdeckeln der ersten beiden Bildbände – Ur varselklotet (2014) und Flodskörden (2016) – eine Landkarte über die Mälarsee-Inseln Adelsö, Ekerö, Munsö und Svartsjölandet verdeutlicht, unter denen sich gemäß der Einzeichnung eine gigantische unterirdische Anlage befindet:

Djupt nere under marken låg Slingan. En enorm cirkelformad partikelaccelerator och forskningsstation för experimentell fysik som sträckte sig runt Mälaröarna […]. Och ständigt närvarande någonstans på Mälaröhorisonten: Bonareaktorns kolossala kyltorn […]. Lade man örat mot urberget hörde man Slingans hjärtslag – spinnandet från Gravitronen, det centrala stycke ingenjörsmagi som var kärnan i Slingans experiment. Anläggningen var den största av sitt slag i hela världen, och det sades att dess krafter kunde kröka själva rumtiden. (Ur varselklotet, S. 3)

Tief unter der Erde lag die Schleife. Ein enormer zirkelförmiger Teilchenbeschleuniger und eine Forschungsstation für experimentelle Physik, die sich um die Mälarinseln erstreckte […]. Und ständig anwesend irgendwo am Mälarö-Horizont: die kolossalen Kühltürme des Bonareaktors […]. Legte man das Ohr an das Urgestein, hörte man den Herzschlag der Schleife – das Brummen vom Gravitron, dem zentralen Stück Ingenieur-Magie, das den Kern der Schleifen-Experimente ausmachte. Die Anlage war die größte ihrer Art auf der ganzen Welt, und man sagte, dass ihre Kräfte sogar die Raumzeit krümmen könnten.

Die Kombination aus schwedischem Alltagsrealismus der 1980er Jahre und den Fantasieobjekten der Technik lässt einen schnell die wie selbstverständlich erwähnten Begriffe »Bonareaktor«, »Gravitron«, und »Magnetrin« als reale physikalische Phänomene akzeptieren, die zu den Alltagserinnerungen aus der Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers gehören. Dabei wird die Narration in einer Art Vorwort des namentlich unterzeichnenden Autors explizit als autobiografische und u.a. auf Berichten und Fach-Skizzen basierende Zeitdokumentation ausgestellt.

Während der zweite Bildband, Flodskörden (2016, Things from the Flood), eine direkte Fortsetzung aus dem Slingan-Universum darstellt, indem er desaströse Konsequenzen der Überflutung der Anlage durch ein Leck, ihren Niedergang und mysteriöse organische Folgen für die Roboter beschreibt, wenden sich die folgenden Bildbände Passagen (2017, The Electric State) und Labyrinten (2020, The Labyrinth), losgelöst von der Biografie des Autors, zunehmend verstörenden Endzeit-Szenarien im amerikanischen Umfeld zu, wobei allerdings eine stringentere narrative Linie verfolgt wird und jeweils die Geschichte einer Ich-Erzählerin erzählt wird. 

Dingfaszination: Retro-Relikte der 1980er und ruinöse Roboter

Im ersten Bildband Ur varselklotet tritt das Dystopische noch zugunsten des eindeutig schwedischen Retro-Charmes zurück, der sich aus Jugenderinnerungen an das frühe Computerzeitalter des C64 und des ersten Nintendo Game Boy speist. Bis ins Detail ist die fotorealistische Dokumentation von schwedischer Vorort-Kindheit und Alltagskultur im Design der 80er Jahre ausgeführt: die Winteranoraks und Gummistiefel, die schwedischen Vorstadtlandschaften, die zeitgemäßen Volvo- und Saab-Modelle, der mit dem Bamse-Sticker beklebte Telia-Telefonhörer, der Blodpudding und die Gabel mit Palisander-Griff. Auf diese Weise wird eine Art schwedische »Generation Golf« gezeichnet, deren so selbstverständlicher wie mirakulöser Umgang mit den ebenfalls dargestellten mysteriösen Relikten einer technikgläubigen Science-Fiction-Welt einen geradezu poetischen Zauber hervorruft. Denn die wiedererkennbare Ding-Nostalgie aus den 80ern wird kombiniert mit einem futuristischen Arsenal von hinterlassenen und ausrangierten Robotermaschinen, deren Design manchmal entfernt als Reminiszenz an die ersten Star Wars-Filme (und damit auch als Imagination der spielenden Kinder) erkenn- und deutbar ist, die aber vor allem in ihrer funktionalen Ästhetik einen ganz eigenen Parallelrealismus hervorrufen, so dass man sich als Betrachter:in manchmal dabei ertappen kann, den Realitätsstatus dieser eigenartigen solitären, teils tier- oder menschenähnlichen, geradezu anrührenden Maschinenwesen und teils bedrohlichen, kriegsähnlichen Fortbewegungsapparate gar nicht mehr zu hinterfragen. Der relativ lakonische Erzähltext, der einzelne Erinnerungsepisoden wiedergibt, wird durch die Bilder nicht unbedingt illustriert, sondern vielmehr ergänzt und erweitert, so dass sich erst in der Text-Bild-Kombination, im andeutenden Zusammenspiel und der aktiven Verknüpfung durch die Rezipient:innen das narrative Universum erschließt. 

Wie sowohl schlüssig als auch zuweilen verblüffend realitätsnah das von Stålenhag entworfene Design seiner Science-fiction-Szenarien ist, zeigt sich übrigens bei einem Blick auf seinen Instagram-Account, auf dem er neben der Veröffentlichung einiger seiner Bildwerke auch Fotos von Landschafts- oder Technikelementen gepostet hat, deren Stimmung und surreale Formation die Grenze zwischen der realen und der digitalkünstlerischen Bildwelt verschwimmen lässt – »I really thought this was a painting at first«, lautet denn auch ein Kommentar zu einem der Fotos.

Temporalinterferenzen: Eine filmische Philosophie der Zeit

Die eigentümliche Überlagerung von Nostalgie und Dystopie, von Wunschbildern der Kindheitserinnerung und düsteren Szenarien aus dem Endstadium der Wohlfahrtsgesellschaft nach ihrer ‚techn-euphorischen‘ Kulmination hat in der internationalen Sci-fi-Szene viel begeisterte Resonanz bekommen. Der amerikanische Drehbuchautor Nathaniel Halpern nahm Stålenhags Bildvorlagen (und ansatzweise auch seine Erzählungen) zum Anlass, um eine achtteilige melancholisch-poetische Streaming-Serie mit dem Titel Tales from the Loop (2020) zu kreieren, deren einzelne Folgen relativ locker (über die Figuren) verbunden sind und auch je für sich eine abgerundete Erzählung darstellen, für deren Regie jeweils unterschiedliche Personen verantwortlich sind. Mit minutiös nachgebauten Gebäuden und Maschinen – bzw. Objekten, die Stålenhag eigenhändig für den Film entworfen hat – werden Stålenhags Bilder zum Leben erweckt, wird seine Mischwelt aus Alltag und Science-fiction-Elementen (wenn auch losgelöst von ihrem spezifisch schwedischen Kontext) filmisch realisiert (siehe Abb. 1 u. 2).

Dabei stellen die einzelnen Folgen – mit Titeln wie Loop, Transpose, Stasis, Echo Sphere, Parallel etc. – jeweils eine zeitphilosophische Idee ins Zentrum, über die die Serie eine epistemologische Dimension bekommt. Temporalrückkoppelung, Körpertausch, angehaltene Zeit, Zukunfts-Echo und Begegnungen mit dem Selbst in einer Parallelwelt sind nur einige der ungeahnten Möglichkeiten, die die rätselhaften Wunderdinge der Loop-Technologie bereithalten. Dass solcherlei Erkundungen v.a. existentielle Einsamkeit erfahrbar machen, wird nicht zuletzt durch das langsame und ruhige Tempo des Films, die Ästhetik der Bildkomposition und die poetisch-melancholische Stimmung unterstrichen. 

Abbildung 1 Bild von Simon Stålenhag aus Ur varselklotet 2014
Abbildung 2 Filmszene aus »Tales from the Loop« (2020)

Ökologische und psychologische Verödung

Um einiges schwärzer ist die Atmosphäre der beiden jüngsten Bände von Stålenhag, deren Grundthema der Vereinsamung mit einem beklemmenden Tenor von letzten Überlebenden und äußerster Entmenschlichung verbunden wird. Die verödenden Folgen einer konsumgesteuerten Technologiehörigkeit werden in dem Bildband Passagen/The Electric State (2017) deutlich, in dem eine verwaiste Jugendliche in Begleitung eines kleinen gelben Roboters durch ebenso verwaiste und verwüstete amerikanische Landschaften mit absurden Relikten einer grellen Kommerzwelt reist. Die Protagonistin ist die einzige Überlebende einer Menschheit, die nahezu gänzlich an einer lebensaussaugenden Virtualitätssucht zugrunde gegangen ist, indem die vogelkopfähnlichen sogenannten »Fjärrhjälmar« (Fernhelme), eine Art Virtual-Reality-Brille, sie zu willenlosen Energiespendern haben verkommen lassen (Abb. 3 u. 4). 

Abbildung 3 Bild von Simon Stålenhag aus Passagen (2017)
Abbildung 4 Bild von Simon Stålenhag aus Passagen (2017)

Den Büchern als Motto vorangestellt ist jeweils ein dystopisches Gedicht (von Bruno K. Öjer für Passagen, Karin Boye für Labyrinten), dessen Stimmung die Bildstory aufgreift. Die Grenzverwischung zwischen Technikobjekten und belebter Welt wird maßgeblich auch durch das an Tierwesen und lebenden Organismen orientierte Design der Roboter und Maschinen sowie die durch das Endzeitszenario veränderten Landschaften hervorgerufen, die z.B. in Labyrinten/Das Labyrinth (2020) wie eine fast lichtlose Unterwasserwelt anmuten, deren aus der Asche entstehenden »kolonierna av Striata« (Kolonien von Striata)3 wie rätselhafte Lebewesen auf dem Meeresgrund emporwachsen (Abb. 5).

Abbildung 5 Bild von Simon Stålenhag aus Labyrinten (2020)

Das ökologische Krisenszenario, das als ein ökokritisches Thema allen Bildbänden zugrunde liegt, betrifft in ebenso faszinierender wie beängstigender Weise eine Verschiebung von Verhältnissen der Ressourcennutzung, wodurch der Mensch zusehends vom ausbeutenden Techniknutzer zur selbst ausgebeuteten organischen wie kognitiven Ressource verfällt.

Simon Stålenhag (www.simonstalenhag.se):

Ur varselklotet / Tales from the Loop (Fria Ligan AB, 2014)

Flodskörden / Things from the Flood (Fria Ligan AB, 2016)

Passagen / The Electric State (Fria Ligan AB, 2017)

Labyrinten / The Labyrinth (Fria Ligan AB, 2020)

Nathaniel Halpern: 

Tales from the Loop (Amazon prime video-Serie, USA, 2020)

(Hanna Eglinger)


3 Als Striatum wird ein Teil der Basalganglien bezeichnet, die zum Großhirn gehören. Es ist eine narrative Konsequenz, die sich durch die Bände zieht, dass menschliche Bewusstseins- und Nervenelemente quasi der Rohstoff sind, auf dessen Ausbeutung sich diese posthumane Welt gründet.

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