Literarischer Totentanz

Der Historiker Per Högselius ist durch Döden på stranden dem Feuilleton in Schweden bereits zum zweiten Mal als stilistisch vielseitiger Autor aufgefallen. Mit seinem Debut Östersjövägar (2007) hat Högselius zuvor schon bewiesen, dass er geschickt darin ist, im Rahmen seiner geschichtswissenschaftlichen Forschung getätigte Beobachtungen als erzählerisch spannende Reiseliteratur zu präsentieren. Döden på stranden ist ebenfalls dem reiseliterarischen Genre zuzuordnen und zählt somit zu den Sachbüchern mit literarischen Qualitäten, die in Schweden gegenwärtig Konjunktur haben (vgl. Neues Lesen, Februar 2021 u. Juni 2020). Zwischen Högselius’ Debut und seinem zweiten Buch bestehen jedoch erzählerische Unterschiede. So wird in Östersjövägar die Erzählung als Reiseroute rund um die Ostsee strukturiert und als persönlicher Erlebnisbericht des Autors inszeniert. Zu Beginn von Döden på stranden begegnet den Leser*innen hingegen ein erzählendes Ich ohne Namen, welches anhand von persönlichen Anekdoten durch die 14 Kapitel sowohl an reale als auch fiktive Orte aus Literatur, Kunst sowie Film führt, an denen Menschen der Tod am Strand ereilt.

Das Meer fungiert in Döden på stranden als verbindendes Element, welches das Überschreiten von Grenzen unterschiedlichster Art ermöglicht. Bereits die Anfangsszene macht diese Funktion des Meeres deutlich:

På en välsorterad loppmarknad i den engelska kuststaden Whitby, dit jag ibland haft vägarna förbi, gjorde jag för några år sedan ett oväntat fynd. Det var en DVD-film: Caravaggio, hette den kort och gott. Regissör var en för mig okänd italienare, Angelo Longoni, som efter vad jag kunde utröna hade spelat in filmen för italienisk teves räkning. Hur ett exemplar av detta konstnärsdramat förirrat sig hit, till en engelsk avkrok som Whitby, vet jag inte, men nu låg det i alla fall där framför mig, i en halvt fuktskadad karibisk banankartong (S.11).

Auf einem gutsortierten Flohmarkt in der englischen Küstenstadt Whitby, an dem ich manchmal vorbeikam, machte ich vor einigen Jahren einen überraschenden Fund: Ein DVD-Film, der kurz und gut Caravaggio hieß. Der Regisseur war ein für mich unbekannter Italiener, Angelo Longoni, der, soweit ich herausfinden konnte, den Film für das italienische Fernsehen gedreht hatte. Wie sich ein Exemplar dieses Künstlerdramas hierher verirren konnte, in ein englisches Nest wie Whitby, weiß ich nicht, aber jetzt lag es auf alle Fälle vor mir, in einem halb durchweichten karibischen Bananenkarton.

Diese Anfangsszene ist in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen wird die zeitlich-räumliche Grundkonstellation von Döden på stranden anschaulich. Auf Grund der Nähe eines Ortes zum alles verbindenden Meer treffen Personen und Objekte aus verschiedenen Zeiten und Räumen aufeinander, die sonst nur schwer in einen Zusammenhang zu bringen wären. Entsprechend wird das erzählende Ich, welches vermutlich aus Schweden stammt, in einer englischen Küstenstadt der Gegenwart durch eine DVD in einem karibischen Bananenkarton mit der Biographie eines italienischen Barockkünstlers konfrontiert. Zum anderen verdient der intermediale Bezug auf ein ‚Biopic‘ besondere Aufmerksamkeit. Wie der Film an die englische Küste gelangt ist, bleibt nämlich ebenso unklar wie der Anlass, welcher das erzählende Ich hin und wieder nach Whitby führt. So wird eine Analogie zwischen der filmischen Inszenierung von Caravaggios Leben und der literarischen Selbstinszenierung des erzählenden Ichs in Döden på stranden suggeriert. Diese Analogie ist zudem aufschlussreich, da in Högselius’ Buch auch die medialen Vor- und Nachteile von Film und Literatur zur Debatte gestellt werden. Ich werde auf diesen Umstand zurückkommen.

Im Film Caravaggio, den das erzählende Ich noch am selben Abend anschaut, findet der titelgebende Barockkünstler einen dramatischen Tod am Strand. Diese Darstellung ist zwar keineswegs historisch abgesichert, sie leuchtet dem erzählenden Ich jedoch mit Blick auf den noch zu betrachtenden Zusammenhang von Strand und Tod direkt ein. „För det rådde ingen tvekan om att Caravaggio levt i en tid då havsstranden i regel uppfattats som just detta: som ett dödens landskap.“ (S. 15; Es besteht kein Zweifel daran, dass Caravaggio in einer Zeit lebte, als der Meeresstrand allgemein genau als das aufgefasst wurde: eine Todeslandschaft.) Das erzählende Ich nimmt hier Bezug auf die weit rezipierte historische Forschung von Alain Corbin (Meereslust: Das Abendland und die Entdeckung der Küste; 1750-1840, übers. v. Grete Osterwald. Berlin: Wagenbach, 1990 [frz. Orig. 1988]) und setzt sich im weiteren Verlauf zugleich kritisch von ihr ab. Zwar stimmt die Erzählinstanz Corbins These zu, dass der Strand vor 1750 nicht als schön empfunden wurde. Die Pointe von Högselius’ Buch ist jedoch, dass der Strand auch weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus seine grauenvollen Seiten in der Kollektivsymbolik beibehält. Obwohl diese Pointe durchaus als These für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung dienen könnte, sollte Döden på stranden nicht mit einer solchen verwechselt werden.

Literatur statt Geschichte

Bei der Lektüre von Högselius’ Debut Östersjövägar ist es leicht, Autor und Hauptfigur gleichzusetzen, da beide Per heißen und Historiker sind. Das erzählende Ich in Döden på stranden bleibt hingegen namenlos und muss daher nicht zwangsläufig mit Högselius assoziiert werden. Deutlich wird dies, als die Erzählinstanz beim Frühstück am Morgen, nachdem er*sie sich den Film Caravaggio angeschaut hat, in der Zeitung vom Tod der Künstlerin Margaret Davies liest. Die Künstlerin ist in einer Hütte am Strand verhungert. Die genauen Todesumstände bleiben unklar, jedoch wird in Döden på stranden die Deutung nahegelegt, dass es sich um eine Art suizidale Performance-Kunst handelt. Es ist die Nachricht vom Tod der Künstlerin, welche das erzählende Ich letztlich veranlasst, die fortbestehende Aktualität des Verhältnisses von Tod und Strand näher zu untersuchen. Diese vermeintliche Koinzidenz erweist sich bei genauerer Betrachtung als geschickte Plotkonstruktion: Davies ist nämlich bereits 2002 verstorben und der Film erst 2007 erschienen. Es ist somit von der Chronologie her unplausibel, dass das erzählende Ich den Film am Abend sieht und am nächsten Morgen in der Zeitung vom Tod der Künstlerin liest. Dieser, für die Arbeit eines Historikers durchaus ungewöhnliche, Umgang mit der Chronologie historischer Fakten ist eines der markantesten Indizien, dass ein literarischer Text vorliegt.

Unter der Annahme einer Nicht-Identität von erzählendem Ich und Autor ist es interessant, dass Döden på stranden die Widmung „Till M.“ trägt. In mehreren Kapiteln tritt eine Figur auf, die nur M. genannt wird und das erzählende Ich bei einigen seiner*ihrer Reisen begleitet. Statt von „M.“ ist stellenweise auch von „Följeslagerska“ (Gefährtin) die Rede. Die einzige bedeutungstragende Handlung von M. besteht darin, dass sie sich auf einem Bücherflohmarkt den Roman Die Frau in den Dünen (übers. V. Oscar Benl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1967 [jap. Orig. 1962]) des japanischen Autors Kōbō Abe aussucht, der auch von den tödlichen Gefahren eines Strandes handelt. Überraschenderweise wird Abes Roman dennoch vom erzählenden Ich nicht weiter thematisiert. Wen (im Sinne einer Autofiktion) bzw. was die Figur M. darstellt, bleibt daher rätselhaft. Steht M. schlicht für Muse, denn diese Rolle scheint die Gefährtin einzunehmen, da sie selbst nie zu Wort kommt? Oder verweist M. auf die verhungerte Künstlerin Margaret Davies, deren mysteriöse Todesumstände das erzählende Ich zu Beginn inspirieren? Ihr Schweigen ließe sich in letzterer Lesart zumindest auf eine Art Geister-Dasein zurückführen, das zugleich ein weiteres Indiz für einen literarischen Text wäre. Die Musenrolle würde nichtsdestotrotz an der Künstlerin haften bleiben.

Film vs. Literatur

Högselius’ Buch macht zwar auf seine Literarizität aufmerksam, dennochwird die Nähe zu einem anderen Medium gesucht, nämlich dem Film. Die vielen, in Farbe reproduzierten Abbildungen von Gemälden, Grafiken, Photos und Film-Stills, die mal an Seitenanfängen und mal an Seitenenden gelungen in den Text integriert werden, sind ein Indiz dafür. Sie dienen dabei in erster Linie als visuelle Belege für die ansonsten textlich dargestellte kulturelle Faszinationskraft des Motivs Tod am Strand. Das Spektrum reicht dabei von Gemälden Caspar David Friedrichs, wie Der Mönch am Meer (1810), über ein Film-Still aus Ingmar Bergman Det sjunde inseglet (1957; dt. Das siebente Siegel) bis hin zu dem ikonischen Photo von Alan Kurdis Leichnam (2015), um nur einige Beispiele zu nennen. Aufgrund des Taschenbuchformats und der Mattheit des Papiers verlieren jedoch alle Abbildungen leider etwas an Wirkung. Dadurch wird ein eventuell intendierter Effekt verfehlt, nämlich sich durch visuelle Reize dem Medium Film anzunähern. Dieses Medium gilt zumindest dem erzählenden Ich als der Literatur überlegen:

Litteraturen i all ära, tänker jag, men om det finns en konstform som bättre än någon annan förmår förmedla vår längtan efter att få återvända till vårt ursprung, efter att få dö invid den fasta världens rand – i detta bokstavliga gränsland mellan det som är fast och det som flyter, mellan det som rör sig och det som inte rör sig – ja, då är det nog ändå filmen. Ty denna längtan tillhör en värld som, det känner jag nu, inte riktigt låter sig nedtecknas – det är en sinnlig längtan, något vi kan se på, lyssna till, lukta på, men som likt en hal fisk glider oss ur händerna om vi försöker gripa efter och begripa den (S. 96 f.).

Die Literatur in allen Ehren, denke ich, doch wenn es eine Kunstform gibt, die besser als jede andere unsere Sehnsucht nach der Rückkehr zu unserem Ursprung und die Sehnsucht danach, im Tod über die Grenze der bestehenden Welt hinauszugehen, ausdrückt  – in dieses buchstäbliche Grenzland zwischen dem Festen und dem Fließenden, zwischen dem Beweglichen und dem Unbeweglichen – ja, dann ist dies wohl ohnehin der Film. Denn diese Sehnsucht gehört zu einer Welt, die sich, wie ich jetzt merke, nicht wirklich schriftlich festhalten lässt – eine sinnliche Sehnsucht nach etwas, das wir anschauen, hören, riechen können, das uns aber wie ein glitschiger Fisch aus den Händen rutscht, wenn wir versuchen es zu fassen und zu erfassen.

Dieses für die Literatur unvorteilhafte Urteil gewinnt an zusätzlicher Härte, indem es nach einem Vergleich von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912) mit deren Filmadaption durch Luchino Visconti (1971) gefällt wird. Die Filmadaption sagt dem erzählenden Ich nämlich mehr zu als die Novelle, was in dem Zitat schließlich auf die visuellen Eigenschaften des Mediums Film zurückgeführt wird. Bezugnehmend auf die literarischen Qualitäten von Döden på stranden stellt sich mir jedoch die Frage, ob das erzählende Ich die Überlegenheit des Films nur behauptet, während der Text insgesamt versucht, das Gegenteil zu beweisen.

Literarischer Totentanz

Diese Frage ist insbesondere im Hinblick auf das Schlusskapitel interessant. Dort berichtet das erzählende Ich zunächst, wie er*sie sich die letzten Stunden seines*ihres Lebens vorstellt. Diese verbringt er*sie in Erwartung einer sich unausweichlich nähernden atomaren Apokalypse mit den Liebsten am Strand, was als eindrückliche Szene geschildert wird. Im Anschluss daran werden mehrere Episoden präsentiert, die apokalyptische Erzählungen aus Literatur und Film paraphrasieren, welche den Strand zum Schauplatz haben. So entsteht eine Art Reigen aus miteinander verknüpften Zusammenfassungen, deren Abfolge sich als textuelle Inszenierung eines ‚Totentanzes‘ deuten ließe. Die letzte Episode im Buch ist Andrei Tarkovskis Film Opfer (1985/86) gewidmet. Durch diese Positionierung ergeben sich angesichts der zuvor thematisierten Konkurrenz von Literatur und Film zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder das Medium Film triumphiert, denn es bekommt ganz am Schluss die alleinige Aufmerksamkeit, bevor die Leser*innen die Buchdeckel zuklappen. Oder der Triumph ist weniger eindeutig, als es zunächst scheint: Die Bilder aus Tarkovskis Film werden schließlich in das Medium Literatur überführt, ohne dass diesmal die textliche Beschreibung mit der Wiedergabe von Filmstill-Fotos als vergewisserndem Beleg einhergeht. Darüber hinaus fällt eine Parallele auf: Sowohl der Drehort des Films als auch der Standort des erzählenden Ichs zum Zeitpunkt der reiseliterarischen Bestandsaufnahme ist Gotland. Wird das Schlusskapitel als ‚Totentanz‘ in Textform gelesen, so wären nun am Ende von Högselius’ Buch angesichts des Todes alle Erzählungen, seien sie filmischer oder literarischer Art, einander gleichgestellt.

Mit Blick auf die literarischen Qualitäten von Döden på stranden würde ein Triumph des Mediums Film am Ende eher überraschen. Högselius’ Buch beweist schließlich von der ersten Seite an das Potenzial des eigenen Mediums, existenzielle Themen zu bearbeiten. Um die Metapher aufzugreifen, ist Döden på stranden alles andere als eine sterbenslangweilige Strandlektüre.

Per Högselius: Döden på stranden. Lund: Ellerströms, 2020.

(Philipp Wagner, Universität Wien)

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