»Dorthin sollst du gehen!« Ein Roman über den Tod und das Leben

Cover des Romans "der hvor du ikke vil hen" von Astrid Saalbach

Nachdem in Skandinavien – und vor allem in Dänemark – viele Jahre lang schmale Erzählbändchen und minimalistische Prosa Konjunktur hatten, scheint sich nun ein Trend zu episch breiten Schilderungen abzuzeichnen. Hier denke ich nicht in erster Linie an Karl Ove Knausgaards voluminöses Projekt, in dem es um minutiöse Selbstbeobachtung und die Erzeugung von Gegenwärtigkeit ging, sondern vor allem an historische Familienschilderungen, die die Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen. Dabei handelt es sich um eine populäre und traditionelle Gattung, die aber aktuell zunehmend von etablierten sowie von interessanten jungen Autor*innen aufgegriffen wird, um Zusammenhänge zwischen Aktualität und Historie aufzuzeigen und vergessene oder verdrängte Aspekte der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen. Neue Formen dieses Erzählens epischer und historischer Zusammenhänge werden von international bekannten Autor*innen wie Sharon Dodua Otoo, Yaa Gyasi, Verena Keßler, Saša Stanišić oder Iris Wolff erprobt, und auch in Dänemark wenden sich eine ganze Reihe der etablierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Vergangenheit ihrer Familie, ihrer Region oder ihres Geschlechts zu (Merete Prydz Helle, Katrine Marie Guldager, Carsten Jensen, Jens Smærup Sørensen, Jesper Wung-Sung).

Nun hat die vor allem als Dramatikerin bekannte und mit vielen Preisen ausgezeichnete Astrid Saalbach ebenfalls einen Beitrag zu diesem Genre vorgelegt. Die Kritik bezeichnet der du ikke vil hen (wohin du nicht willst; 2021) als einen »mesterlig slægtsroman« (meisterlichen Familienroman; Jyllandsposten) und lobt durchgehend die anschauliche Erzählweise und die Dramatik des Geschehens. Der Umfang des Textes ist nicht – wie in häufig in traditionellen Familienromanen – detaillierten Schilderungen und ausführlichen Gedankenwiedergaben geschuldet, sondern die Erzählweise ist von Handlungsdichte mit vielen Dialogpassagen und schnellen Szenenwechseln geprägt. Wie die minimalistischen Erzähler*innen arbeitet auch Saalbach mit Leerstellen, die Erzählinstanz hält sich zurück mit Erklärungen und wahrt einen respektvollen Abstand zu den Figuren.

Gerahmt wird der Roman durch einen Pro- und einen Epilog, in denen tief in die Schatzkiste der Erzählkonventionen gegriffen wird, wenn die Enkelin Helene – ein Alter Ego der Autorin – von der sterbenden Großmutter ein Bündel alter Briefe erhält. Und gerade dieses Merkmal traditionellen Erzählens ist nicht erfunden, sondern entspricht der Realität, wie Astrid Saalbach in Interviews dargelegt hat. In einem youtube-Video ihres Verlags Lindhardt og Ringhof erläutert die Autorin, dass der Roman auf Ereignissen ihrer Familiengeschichte beruht, und zeigt einige der Fotos und Dokumente, die dem Text zugrunde liegen. Eine wahre Geschichte also, die so romanhaft und facettenreich ist, dass die Autorin laut eigener Aussage einige Ereignisse weglassen musste, die zu unwahrscheinlich schienen – dem Diktum von Aristoteles gemäß, dass in der Fiktion Glaubwürdigkeit Vorrang vor historischer Korrektheit haben muss. Die Geschehnisse spielen sich in einer Familie ab, spiegeln aber durchaus zeittypische Verhältnisse und werden durch die knappe Nennung der historischen Kulisse zeitlich fixiert. Die geschichtlichen Ereignisse umfassen den Ersten Weltkrieg, Arbeitslosigkeit, Inflation, die Grippeepidemie, die dänische Kolonialherrschaft in Grönland und den aufziehenden Nationalsozialismus. Lebendig gemacht wird dieser Zeithorizont durch verifizierbare Orte und historisch belegte Details wie Knud Rasmussens 2. Thule-Expedition, Zahnarztpraktiken in den 1910er Jahren, die Heilmethoden des TBC-Sanatoriums Nakkebølle auf Fünen oder die (noch vorhandene) Frits Schlegel Villa im Funkis-Stil (Bernstorffsvej 17).

Die Haupthandlung, die in fünf Teile gegliedert ist, spielt sich zwischen 1912 bis 1934 ab, Pro- und Epilog sind auf 1989 datiert und erwähnen einige Ereignisse der 1940er bis 70er Jahre. Die Handlungsorte bewegen sich vom Ausgangspunkt Faaborg nach Kopenhagen, aber auch nach Disko (heute Qeqertarsuaq) in Westgrönland im zweiten Teil und London und Paris im vierten Teil. Im Zentrum stehen zwei Frauen, die abwechselnd die Fokalisierungsinstanz des Erzählens darstellen. Sigrid ist bei Erzählbeginn sieben Jahre alt und bewundert ihre zwölf Jahre ältere Tante Anna. Im ersten bis dritten Teil steht Anna im Mittelpunkt, im vierten Teil wechseln Handlung und Perspektive zwischen beiden, im fünften Teil, nach Annas Tod, folgen wir Sigrid. Die Schicksale der beiden Frauen sind auf mehrfache Weise miteinander verknüpft: Sie sind Angehörige einer Familie, sie ähneln einander äußerlich, sie brechen als Frauen mit den ihrem Geschlecht auferlegten Normen, beide reisen in die Ferne und werden schließlich aufeinander folgende Ehefrauen desselben Mannes, wenn Sigrid nach Annas Tod ihren Onkel August heiratet.

Der Titel der du ikke vil hen scheint sich zunächst auf Annas unfreiwilligen Grönland-Aufenthalt zu beziehen, der ausführlich im zweiten Teil geschildert wird. Weil sie ein Liebesverhältnis zu einem verheirateten Maler unterhält, schickt die Familie sie – nach beendeter Ausbildung zur Zahnärztin, was damals als Frauenberuf galt – zu ihrem älteren Bruder, der als Kolonieinspektor auf Disko tätig ist. Dort erlebt sie den harten Winter, praktiziert als Zahnärztin, unternimmt lange Schlittenreisen mit ihrem Bruder und muss den Tod eines Neffen sowie die von Gewalt geprägte Ehe von Bruder und Schwägerin miterleben. Im weiteren Verlauf des Romans ist man dann geneigt, den Titel auf die Nichte Sigrid zu beziehen, deren großer Freiheitsdrang nach Aufenthalten in London und Paris durch die Familie beschnitten wird, indem man sie in eine Ehe mit ihrem Onkel drängt, der nach dem Tod seiner Ehefrau Anna untröstlich ist. Auch wenn sie vier Kinder bekommt und in einer schicken Funkis-Villa wohnt, ist sie doch ›dort, wohin sie nicht wollte‹. In beiden Fällen geben die jungen Frauen dem Drängen der Familie und der Konvention nach. Die eine muss ihre Liebe zu dem verheirateten Maler aufgeben und fliehen, weil ihre Beziehung als Schande empfunden wird; die andere muss auf ihren Freiheitsdrang und ihre Selbständigkeit verzichten, um dem Onkel die verlorene Frau zu ersetzen.

Am Schluss jedoch wird das Titelzitat in seinem ursprünglichen biblischen Kontext verwendet, als es der Pfarrer bei der Beisetzung von Sigrid benutzt: »Der hvor du ikke vil hen, sagde præsten i sin tale til begravelsen, – der skal du gå« (402; Dort wohin du nicht willst, sagte der Pastor in seiner Ansprache, – dorthin sollst du gehen). Das »dort« in dem Zitat aus dem Johannesevangelium bezeichnet den Tod, und spätestens an dieser Stelle am Ende des Romans wird deutlich, dass er nicht nur von Frauenleben, Liebes- und Verzichtsgeschichten handelt, sondern auch vom Tod und vom Umgang damit im Leben. »Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst.« (Johannes 21,18; Lutherbibel 1912). Den biblischen Kontext des Gottvertrauens lässt das Zitat bei Saalbach jedoch weg. Der Bibelvers wird nicht als religiöser Trostspender zitiert, sondern das »der skal du gå« klingt unbarmherzig nach – und ergibt eine Handlungsaufforderung für das Leben. Im Rückblick wird dann erkenntlich, wie viel in diesem Roman gestorben wird: der plötzliche Kindstod von Ellas Baby, der Tod der Freundin Jenny in Folge der Grippe, der Tod Annas und ihres Kindes bei der Geburt, der Krebstod des Vaters, der von Ärzten verschuldete Tod der Mutter nach einem Beinbruch, die TBC-Tode im Sanatorium von Nakkebølle und die von der sog. Kajakangst und mangelnder ärztlicher Versorgung verursachten Tode der Grönländer, – ganz zu schweigen von den beiden erst im Epilog berichteten gewaltsamen Todesfällen. Die Dominanz des Todes in diesen drei Generationen einer Familie erinnert daran, dass er unausweichlich zum Leben dazugehört und dass man die Geschichte eines Lebens nur dann zu Ende erzählen kann, wenn der Tod am Schluss steht.

Krankheiten, Sterben, Leid und Trauer sind unvermeidlich, sehr unterschiedlich ist hingegen der Umgang mit dem Tod, das Leben mit der Unvermeidlichkeit der Endlichkeit. So verzweifelt Ella am Tod ihres neugeborenen Sohnes und verfällt in Lethargie und Depression. Ganz zentral im Roman steht aber Augusts Umgang mit dem Tod seiner geliebten Frau Anna; er ist unfähig, sie loszulassen, er fetischisiert sie und lässt den Lebenden, vor allem seiner zweiten Frau Sigrid, keine Chance. Im Kern und am Knotenpunkt des Romans, an dem sich Annas und Sigrids Lebenswege treffen, steht Augusts Umgang mit Verlust, Trauer und Tod, der nicht nur Sigrid, sondern auch ihm selbst und seiner Familie ein vorwärts gerichtetes Leben versagt. Durch die traurige Geschichte von Sigrid als Nachfolgerin ihrer verstorbenen Tante wird der Roman zu einem ›momento vivere‹, zu einer impliziten Aufforderung, das Leben zu leben und nicht die Toten zu Abgöttern zu machen.

Teil dieser Fetischisierung ist das Schweigen, das im bewahrten und versteckten Unterrock der verstorbenen Anna seinen materiellen Ausdruck findet. Das Schweigen macht die Erinnerung solipsistisch und unerträglich. Demgegenüber steht als ein anderes materielles Erinnerungszeichen der Briefstapel, den Sigrid im Prolog ihrer Enkelin vermacht. Mit der Übergabe verbindet sich die implizite Aufforderung, die Erinnerung im Erzählen wach zu halten. Indem sich die Autorin auf die Erzählkonvention der gefundenen Briefe stützt, ruft sie die wichtige Funktion der Narration für die Erinnerung auf. Als individuelle Teile eines Zusammenhangs – einer Epoche, einer Familie, eines (biologisch/sozialen) Geschlechts – haben die Geschichten und ihre Protagonistinnen eine Bedeutung. Angenehm unwichtig ist in diesem Text jedoch die identitätsbildende Funktion für die Erzählerin/Autorin, die lediglich die tradierende Rolle übernimmt, während ihre eigene Person bescheiden ausgeblendet bleibt.

Insofern ist der du ikke vil hen weit entfernt von so mancher Selbsterkundung, die Familienromanen oft zugrunde liegt. Es ist auch nicht nur ein Familien-, Frauen‑ oder gar ein Liebesroman, wie in der Kritik zu lesen war, sondern vor allem ein Roman über den Tod. Ohne den göttlichen Trost des Bibelzitats im Titel stellt der Roman eine Aufforderung dar, trotz aller Trauer seine Handlungen am Leben und an den Lebenden auszurichten und nicht an den Toten. Doch es ist die Erinnerung an die Verstorbenen, die Erzählung über das Vergangene, die das Bewusstsein der Endlichkeit schafft, aus der sich die Hinwendung zum Leben ableitet.

Astrid Saalbach: der hvor du ikke vil hen. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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