Ein Kindheitssommer auf den Färöern

Die färöische Literatur zählt – zusammen mit der grönländischen und der samischen – zu den kleineren indigenen Literaturen Nordeuropas. Wie die beiden anderen ist auch die färöische Literatur mehrsprachig, weist sie doch Werke auf Färöisch wie Dänisch auf, da die Inselgruppe der Färöer seit dem Mittelalter zum zunächst norwegischen, dann dänischen Reich gehörte und bis auf den heutigen Tag Teil der sog. dänischen Reichsgemeinschaft (rigsfælleskab) ist. Im Zuge einer kulturellen Dekolonisierung ist die originär dänischsprachige Literatur der Färöer, international bekannt geworden durch Autoren wie Jørgen-Frantz Jacobsen (1900–1938) oder William Heinesen (1900–1991), mittlerweile allerdings zu einem rein historischen Phänomen geworden. Auch Katrin Ottarsdóttirs (geb. 1957) Roman Pigen i verden (Das Mädchen in der Welt) ist kein originär dänischsprachiges Werk, sondern erschien zunächst 2020 auf Färöisch unter dem Titel Gentan í verðini, wurde aber von der Autorin selbst ins Dänische übertragen und dabei zugleich überarbeitet. Bei der dänischsprachigen Version haben wir es insofern mit einem zweiten Original zu tun.

Die meisten Leser:innen werden mit dem Namen Katrin Ottarsdóttir weniger eine Autorin als eine, wenn nicht gar die färöische Filmemacherin verbinden. Ausgebildet in der Filmschule in Kopenhagen, die sie 1982 als erste färöische Absolvent:in jemals verließ, hat sie 1989 mit Atlantic Rhapsody den ersten färöischproduzierten Film überhaupt gedreht. 1999 konnte sie einen großen internationalen Erfolg mit dem Film Bye bye Bluebird feiern, der u.a. mit dem Hauptpreis der Nordischen Filmtage in Lübeck ausgezeichnet wurde. In diesem färöischen road movie – eigentlich eine genremäßige Unmöglichkeit angesichts von unter 1000 Kilometern asphaltierten Wegen auf den Färöern – wird ein eindrückliches Panorama der färöischen Gesellschaft gezeichnet, mit einer dysfunktionalen Familie, bigotter protestantischer Orthodoxie, moralischer Engstirnigkeit, tumbem Maskulinismus und latenten postkolonialen Konflikten. Programmatisch geht es Ottarsdóttir nicht darum, die Färöer als atlantisch-prämoderne Idylle zu zelebrieren, sondern sie in die gleiche Moderne wie Dänemark einzuschreiben: 

Jeg har også villet gøre op med det her romantiske billede af Færøerne, som det uspolerede land, hvor udviklingen har stået stille, og hvor alle lever i harmoni med hinanden og naturen. I stedet har jeg villet vise et moderne land, og at færinger er som alle andre – på godt og ondt.1

Ich wollte auch mit diesem romantischen Bild von den Färöern abrechnen, als das unverdorbene Land, wo die Entwicklung stehengeblieben ist und wo alle in Harmonie miteinander und mit der Natur leben. Stattdessen wollte ich ein modernes Land zeigen und dass die Färinger wie alle anderen sind – im Guten wie im Schlechten.

Neben ihrem Schaffen als Filmemacherin hat Katrin Ottarsdóttir seit einigen Jahren auch Belletristik veröffentlicht, und dies mit beträchtlichem Erfolg. Sie debütierte 2012 mit der Gedichtsammlung Eru koparrør í himmiríki (Gibt es Kupferrohre im Himmelreich?), die 2013 mit dem Färöischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde und 2016 in Ottarsdóttirs eigener dänischer sowie 2020 in englischer Übersetzung in den USA erschien. Es folgten zwei Sammlungen mit kürzeren Prosatexten, die ebenfalls auch in der dänischen Übertragung der Autorin vorliegen, und zuletzt Ottarsdóttirs erster Roman Gentan í verðini (2020) bzw. Pigen i verden (2021).

Die Hauptperson des Romans ist eine namenlose Elfjährige aus der färöischen Hauptstadt Tórshavn, die Ende der 1960er Jahre ihre Sommerferien im Haushalt der Großeltern auf einer der kleineren färöischen Inseln verbringt. Der Roman ist programmatisch arm an äußeren Ereignissen: Ein Beinah-Badeunfall ihrer Tante mütterlicherseits, oder ein aufdringlicher Anbeter derselben Tante, der mit seiner Leiter umgestoßen wird und auf einem Widder landet – solcher Art sind die wenig spektakulären äußeren Vorkommnisse während dieses Sommers. Der Fokus der kammerspielartigen Handlung liegt stattdessen ganz auf den Beziehungen im familiären Mikrokosmos: auf Vater und Mutter des Mädchens in Tórshavn und auf dem Haushalt der Großeltern, zu dem noch die jüngere Schwester der Mutter sowie eine ‚Tante‘ unbestimmbaren Verwandtschaftsgrades gehört. Keine dieser Figuren wird signifikanterweise je mit einem Eigennamen genannt, einzig ihre Position in der Familie ist von Relevanz.

Schnell wird den Lesenden klar, dass das stille, schüchterne Mädchen weniger Ferien von der Schule und eher Ferien von „all dem Mühsamen zuhause“ („alt det besværlige derhjemme“, S. 10) machen will. Im Kindheitsrefugium bei ihren Großeltern und den beiden Tanten vermag sie Geborgenheit erfahren. Zuhause hingegen fühlt sie sich, obgleich Kind, beständig für den labilen Hausfrieden verantwortlich, versucht immer wieder die Launen, Zusammenbrüche, Selbstmorddrohungen und Alkoholabstürze ihrer mit dem Dasein zutiefst unzufriedenen und streitsüchtigen Mutter abzufedern, die sie sich in schuldbeladenen Augenblicken tot wünscht. Wer Ottarsdóttirs Debütwerk Eru koparrør í himmiríki gelesen hat, wird unschwer eine thematische Parallele zu dieser Gedichtsammlung erkennen, in der eine Dreiecksbeziehung zwischen Vater, Tochter und einer mental instabilen Mutter im Zentrum steht. 2

Längst hat das Mädchen sein Helfersyndrom so verinnerlicht, dass es auch im Haushalt der Großeltern die Aufrechterhaltung guter Laune als seine ureigene Aufgabe ansieht. Das stellt sich allerdings als vergebliches Bemühen heraus, ist doch auch der Haushalt der Großeltern kein idyllischer Raum zwischenmenschlicher Beziehungen: Der Großvater und die Großmutter hatten einst nur geheiratet, weil die Großmutter schwanger geworden war und der Großvater sein Lehrerstudium als Vater eines ‚Hurenbalgs‘ nicht hätte abschließen dürfen. Während die vereinsamte Großmutter sich Briefe mit englischen Offizieren schreibt, die sie während des Krieges kennengelernt hatte, haben sich der Großvater und die im Haushalt lebende ‚Tante‘ ineinander verliebt. Eine Scheidung ist für den als Dorflehrer und Küster tätigen Großvater jedoch ausgeschlossen, so dass die nicht mehr ganz junge ‚Tante‘ schließlich geht, um einen anderen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Die Tante mütterlicherseits träumt derweil von einem eleganten Leben in Reichtum in Tórshavn, lässt zu unklaren Bedingungen ihren Onkel ihre Shoppingtouren in Tórshavn bezahlen, um die Kleider dann unausgepackt in ihrem Zimmer zu horten, und hat immer mehrere Männer gleichzeitig an der Hand, um sich nicht festlegen zu müssen. Gegen Ende des Sommers wirft der hitzköpfige Großvater sie eines Tages hinaus.

Erzählt werden die Geschehnisse dieses Sommers zwischen Kindheit und Jugend mit der Elfjährigen als durchgehender Fokalisierungsinstanz, immer wieder auch in deren indirekter oder erlebter Rede. Die erzähltechnische Begrenzung auf den Horizont des Mädchens erlaubt es der Autorin, die erfrischende Naivität eines Kindes aufzurufen, so wenn es z.B. über die Färöer heißt, dass diese

[p]å nogle verdenskort ligner øerne bare nogle krummer. Det er måske Gud, der har spist et eller andet uden at holde en tallerken under. Hun håber, at Gud om ikke andet spiste noget rigtig dejligt og sødt. (S. 18)

auf manchen Weltkarten nur einigen Krümeln ähneln. Es ist vielleicht Gott, der irgendwas gegessen hat, ohne einen Teller darunter zu halten. Sie hofft, dass Gott wenigstens etwas richtig Schönes und Süßes gegessen hat.

Doch die Wahl der Perspektive einer schüchternen kindlichen Beobachterin und Zuhörerin hat zudem den Vorteil, dass die Lesenden erst retardierend Einblick in die Dysfunktionalität und Tragik der geschilderten zwischenmenschlichen Beziehungen bekommen und zugleich gezwungen sind, sich die Perspektive des Kindes anzueignen. Ein happy end versagt Ottarsdóttir den Lesenden. Eigene Kinder kann das Mädchen sich in ihrer Zukunft nicht vorstellen, und das Ende des Romans ist die Rückkehr zum anfänglichen Status Quo. Als das Mädchen auf dem Rückweg nach Tórshavn ist, wünscht es sich deshalb,

at havet åbnede sig og slugte færgen og alle de andre øer – alle undtagen tantes ø – for så kunne hun i fred og ro og med god samvittighed skifte imellem at være her i lyset hos morfar og mormor og i mørket oppe nordpå hos tante (S. 289)

dass das Meer sich öffne und die Fähre und alle die anderen Inseln – alle mit Ausnahme von Tantes Insel – verschlinge, denn dann könne sie in Frieden und Ruhe und mit gutem Gewissen abwechselnd hier im Licht bei Großvater und Großmutter oder in der Dunkelheit im Norden bei der Tante zu sein

– nicht ohne sofort darauf „Jesuspápi“ für diesen frevelnden Wunsch um Verzeihung zu bitten.

Eingebettet ist das Familienkammerspiel, wenn auch subtil, in die (post-)kolonialen Beziehungen zwischen Dänemark und den Färöern. Die Glitzerwelt der dänischen Frauenzeitschriften mit ihren Bedürfnisse weckenden Konsumwaren auf der einen Seite wird mit den kargen färöischen Verhältnissen außerhalb der Hauptstadt kontrastiert. Besonders der Großvater, der traditionelles Essen wie Dorsch- oder Widderköpfe liebt, ein tüchtiger Sänger färöischer Balladen ist und dem Geld nicht viel bedeutet, steht für eine traditionelle färöische Lebensweise, in der noch der alttestamentarische Gott und der neutestamentarische „Jesuspápi“ herrschen. Aber genau dieses traditionelle färöische Leben mit seinen starren Regeln ist es, das sein Lebensglück, die Erfüllung seiner Liebe zu der ‚Tante‘, verunmöglicht. Und die wertende Grenzziehung mancher Färinger:innen zu den Dän:innen als faule, laute und allzu redefreudige Leute von übertriebenem Geltungsbewusstsein ist spätestens dann als eine simple, von der (post-)kolonialen Situation weitgehend unabhängige Identität-Alterität-Prozessfigur zu erkennen, wenn die färöische Insel Suðuroy als ‚Klein-Dänemark‘ charakterisiert wird, wo die Leute wie in ‚Groß-Dänemark‘ seien. Die zwischen den Zeilen des Romans durchaus durchschimmernde postkolonialistische Kritik an Dänemark verweigert sich allzu einfachen Binaritäten.

Die kindliche Perspektive, aus der das Geschehen in Ottarsdóttirs Roman erzählt wird, bedingt einen Erzählstil, der sich stark unterscheidet von dem Stil in manch anderer Gegenwartsliteratur, die von in postmoderner Erzähltheorie geschulten Absolvent:innen der Literaturwissenschaft oder Komparatistik geschrieben worden ist. Die Handlung wird linear erzählt mit einem Minimum an Rückblicken. Bilder kommen nur spärlich zum Einsatz, so wenn die schwimmfreudige Tante mütterlicherseits, die mit den Männern spielt, als Meerfrau („havfrue“) bezeichnet wird – und bezeichnenderweise dann doch fast bei einem Badeunfall umkommt – oder wenn immer wieder Fliegen mit ausgerissenen Beinen oder Flügeln auftreten, die trotz ihrer Verstümmelungen weiterlaufen oder weiterfliegen können (und müssen). Auch die intertextuellen Verweise eröffnen in diesem Roman keinen feinziselierten ästhetischen Parallelkosmos, sondern dienen schlicht zur Personencharakterisierung: das Mädchen mit dem Helfersyndrom spielt Robin Hood; der unglücklich verheiratete Großvater singt die Ballade von Ebbe Skammelsøn, in der es um eine Hochzeit eines falschen Paares und deren fatale Konsequenzen geht; die Großmutter, die von ihren britischen Offizieren träumt, trägt ein englisches Schlaflied vor.

Manchmal scheint die Erzählerin allerdings eher die Perspektive einer erwachsenen Filmemacherin mit Kameraauge als die eines Mädchens einzunehmen, so als die Elfjährige am Anfang des Romans im Bus auf dem Weg zu den Großeltern sitzt:

Hun er på vej mod solen, nogle solstråler kæmper sig helt fri af skyerne, kommer søgende efter bussen tværs over engen med den lille, solgyldne å og følger bussen på vej. (S. 6)

Sie ist auf dem Weg zur Sonne hin, einige Sonnenstrahlen kämpfen sich aus den Wolken ganz frei, suchen quer über die Wiese mit dem kleinen, sonnengoldenen Bach nach dem Bus und folgen ihm auf seinem Weg.

Eine ästhetische Grundirritation des Romans ist zudem, dass er zwar die Perspektive eines schüchternen, stillen Mädchens wiederzugeben vorgibt, streckenweise aber in seiner erlebten Rede recht geschwätzig daherkommt. Ein lektorierender Eingriff hätte diesem Erstlingsroman an manchen Stellen nicht geschadet. Empfehlenswert ist er dennoch, zumal wenn man sich für färöische Literatur interessiert.

Katrin Ottarsdóttir: Pigen i verden. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021. Übersetzt und bearbeitet von der Autorin nach der färöischen Originalversion Gentan í verðini. Vestmanna: Sprotin, 2020.

(Stephan Michael Schröder, Universität zu Köln)

1 https://bog.dk/pigen-i-verden-interview-med-katrin-ottarsdottir/ [04.10.2021]

2 Ein Textauszug des färöischen Originals und der englischen Übersetzung ist zu lesen unter https://cagibilit.com/are-there-copper-pipes-in-heaven-book-excerpt/ [03.10.2021]

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