Der Titel von Patrik Svenssons Topseller kündigt eine Erzählung an, doch werden in den 18 Buchkapiteln zahlreiche Erzählstränge zusammengeführt, um das geheimnisvolle Leben der Aale aus unterschiedlichen Perspektiven zu ‚erforschen‘. Von der allgemeinen Naturgeschichte des 17. Jahrhunderts über die Zoologie und Fischkunde bis zum Ecocriticism des 21. Jahrhunderts wird der kulturhistorische Zeitrahmen gespannt. Flankiert wird dies von einem autobiographischen Erinnerungsstrang des Ich-Erzählers, der einst von seinem Vater das Aalefischen lernte. Auf diese Weise macht der essayistische Roman die Analogführung der Lebenswege von Aalen und Menschen zu seinem Programm, bis schließlich sogar der Tod des Vaters mit dem Aussterben der Aale in Beziehung gesetzt wird. Wie Wissen entsteht und tradiert wird und zu welcher erstaunlichen bis absurden Sinnstiftung wissenschaftliche Forschung fähig sein kann, bildet einen weiteren Schwerpunkt des Buchs, das 2019 den Augustpreis erhielt.
Der ökokritischen Agenda entsprechend werden die Interdependenzen aller Lebewesen in einem ‚Netzwerk der Natur‘ herausgestellt, wobei die Schriften der Meeresbiologin Rachel Carson besonders gewürdigt werden. Carsons literarischer Griff, sich in die Wahrnehmungs- und Empfindungswelt eines weiblichen Aals hineinzuversetzen, legitimiert Svenssons Bemühungen, sich versuchsweise das potentielle ‚Bewusstsein‘ eines Aales anzueignen. Nichtsdestotrotz markiert er durch die Einbindung der skeptischen Resultate von Thomas Nagel in What is it like to be a bat? (1974) kritische Distanz zum emphatischen Verfahren, das in der Literatur durch den Einsatz von Erzählperspektiven und eine psychologisierende Figurencharakteristik allgemein anerkannt ist.
Mit seinem Suchauftrag identifiziert sich der Ich-Erzähler sowohl mit den Aalen, die er mit dem schweigsamen Vater gemeinsam erlebt hatte, als auch mit den Aal-Gestalten, die in verschiedenen Fachdisziplinen analysiert und (fehl-)gedeutet wurden. In den Resümees der Forschung tritt wie nebenbei hervor, wie sehr die fachwissenschaftlichen Texte auf literarische Verfahren angewiesen sind und dass selbst empirische Experimente nur dann plausibel gemacht werden können, wenn deren Beschreibungen eingängige Erzählmuster befolgen.
Seine metaphorische, symbolische oder allegorische Kraft behält der Aal selbst in vielen einschlägigen wissenschaftlichen Diskursen. Und damit nicht genug – mit Svensson könnte man sogar argumentieren, dass die Wissenschaft den Aalmythos ungewollt weiter bereichert hat. Selbst beim heutigen Forschungsstand sind wesentliche Bereiche des Aaldaseins nach wie vor Spekulationen überlassen.
Eines der Rätsel, die die sogenannte Aalfrage ausmachen, besteht in der unklaren Herkunft und Abstammung. Während Aristoteles auf die Erklärung verfiel, dass der Aal aus dem Lehm am Meeresgrund herausgewachsen sei, verwandten die Forschenden späterer Epochen viel Zeit darauf, die Fortpflanzung der Aale zu ergründen, insbesondere war es schwierig, das Laichen in der Sargassosee überhaupt beobachten zu können, wobei sich das geheimnisvolle Treiben in der Tiefsee – laut Svensson – bis heute jeglicher evidenzbasierten Forschung verweigert. Ohnehin wurde die Aalforschung dadurch erschwert, dass der Aal in seinen vier Lebensphasen in ganz unterschiedlichen Erscheinungen auftritt: Die Aal-Larven wurden erst 1923 vom dänischen Biologen Johannes Schmidt entdeckt („The breeding places of the eel“, in: Philosophical Transactions oft he Royal Society of London). Das zweite Stadium als kleiner Glasaal erinnert wenig an die späteren Weiterentwicklungen zum jugendlichen Gelbaal oder schließlich zum reifen schwarzgrauen Blankaal im vierten Stadium, der seinen Körper für die Fortpflanzung und die lange Reise zur Sargassosee regelrecht umbaut. Mitunter wurden ganz einfach die falschen Aale untersucht, um die virulenten Fragen anzugehen. Das Untersuchungsmaterial hätte die Antworten gar nicht liefern können.
Dies war beim 19-jährigen Sigmund Freud auf besonders eklatante und wohl auch entlarvende Weise der Fall: In Trieste sezierte er vergeblich Hunderte von Fischen – vermutlich Gelbaale – um den anatomischen Beweis zu führen, dass Aale mit Hoden ausgestattet sind. Svensson kostet es genüsslich aus, Freuds eigene Verwirrungen des Trieblebens mittels ‚metaphorischer Ansteckung‘ auszugestalten. Der ehrgeizige junge Mann habe sowohl attraktive Passantinnen in Trieste als auch seine rätselhaften Aale „las bestias“ genannt und zugleich eine interessante Frau namens Gisela Fluss als Fischechse (Ichthyosaura) tituliert. Durch die Vielstimmigkeit der forschungshistorischen Positionen wird meist vereitelt, den Aal als Phallussymbol oder geschlechtsspezifisch konnotiert aufzufassen. Die von Freud in die kulturelle Wissenszirkulation eingespeisten Ambivalenzen zwischen erotischer Reizung und Triebekel veranschaulicht, wie breit das metaphorische Spektrum ist. So erklärt sich auch, dass Aale weitaus schlechter als eine schützenswerte Art inszeniert werden können; mit Eisbären, Kiwi-Vögeln oder Honigbienen könnten sie niemals konkurrieren.
In Svenssons Interpretation der berühmten Aalszene aus Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel (1959) wird der Widerwillen gegen den Aas fressenden Fisch eindringlich geschildert. Nachdem ein Ostseefischer einen Pferdekopf als Köder verwendet hat, sammelt sich eine ganze Schlangengrube aus sich windenden Aalen im Kranium an. Dieses Gebilde zieht der Fischer aus der Tiefe des Wassers herauf und traumatisiert mit dem grotesken Anblick die schwangere Agnes, eine der Figuren des Grassschen Romanklassikers. Die Ähnlichkeit des gefüllten Kraniums mit einem Medusenhaupt bleibt in Svenssons Erörterung unberücksichtigt, obwohl er einen psychopathologischen Bezug herstellt zur verweigerten Mutterschaft der schwangeren Agnes. Sie entwickelt nach dieser Begebenheit einen krankhaften Appetit auf Aalfleisch und stirbt. Für die autobiographische Leitmotivik wiegt indes die unklare väterliche Herkunft der Grass‘schen Hauptfigur Oskar Matzerath schwerer. Der Junge Oskar weiß nicht, welcher Partner der Mutter sein Vater ist.
Der literarischen Szene stellt der Ich-Erzähler nun eine erinnerte Vater-Sohn-Episode mit einer vergleichbaren Fangmethode zur Seite, bei der eine besonders große Menge an Regenwürmern zur Anwendung kommt („klumning“): Die angelockten Aale verfallen in einen gierigen Rausch und vergessen ihre Wachsamkeit, so dass die Fischer sie mit der Hand fangen können. Vater und Sohns empfinden diese Art des Aalfischens als beklemmend. Unmissverständlich steht der Aal für verdrängte Lüste und für die Risiken einer Enthemmung. Svensson schließt etwas großzügig sogar auf das Unbewusste und das Metaphysische.
Die lange Wanderschaft des Aals mit seiner Zielausrichtung auf die Fortpflanzung und den Tod in der Sargossasee wird in diesem hybriden Werk als ein Antrieb dargestellt, nach Hause zu kommen, eher noch einen Lebensabschnitt oder Ort zum Eigenen zu erklären („hitta hem“, S. 83). Entsprechend des individuellen, unterschiedlich lang andauernden Gestaltwandels der Aale mag sich das Streben nach diesem Ziel mal offenkundig, mal eher latent verraten. Die Kontingenz menschlichen Lebens möchte Svensson ‚aalphilosophisch‘ damit begründen, dass Aale in unterschiedlichen Lebensaltern zum Blankaal werden und ihre Reise antreten. Aale scheinen den Zeitpunkt des Übergangs zur nächsten Metamorphose-Stufe geradezu eigen-sinnig mitzuentscheiden, auch können sie ein extrem hohes Alter erreichen.
Der Vater des Ich-Erzählers hatte seinen eigenen Vater (in der Großelterngeneration) nicht gekannt. Die gemeinsamen Angelerlebnisse von Vater und Sohn, deren Schilderungen sich zu einem coming of age-Verlauf anordnen, bilden daher ein nostalgisches Zentrum des Buchs. Anders ausgedrückt: Die anekdotischen Abschnitte zur Aalforschung, Emblematik oder Kulturgeschichte erhalten durch das ‘Aalevangelium für den Vater‘ einen roten Faden. Durch den Buchtitel ist die Option einer naturreligiösen Verklärung gegeben. Doch zugleich wird diesem Kitsch-Risiko entgegengewirkt: Der fiktionale Charakter und die Polyphonie der Bibel werden hervorgehoben, denn Vater und Sohn sind ausdrückliche Skeptiker. Beim Kindesgottesdienst hätte der Ich-Erzähler gefragt: „Men vem har hittat på allt det här egentligen?“ („Aber wer hat sich denn das alles ausgedacht?“ S. 217). Das Buch Mose, das den Aal als unreines Tier ohne Schuppen und Kiemen tabuisiert, wird somit als ein Text unter vielen relativiert.
Intelligenterweise werden das willkürliche Wuchern der Wissensbestände und das Kontingenzthema also auch auf eine textprogrammatische Ebene gehoben. Wie sich eine Tradierungskette ergibt, die bestimmte Strukturen und Metaphern begünstigt, ist auch in der Generierung der literarischen Texte angelegt. Svenssons Aalbuch hat nämlich eine berühmte Metamorphosen-Vorstufe: Graham Swifts Roman Våtmarker (Waterland) 1983, der einige der bei Svensson ausgeführten Episoden und Denkfiguren vorwegnimmt.
Svensson zollt diesem prägenden Werk Tribut:
Ålens verkliga paradroll, åtminstone inom litteraturen, återfinns […] i den engelska författare Graham Swifts roman Våtmarker från 1983. Den handlar om historieläraren Tom Crick som försöker fånga sina uttråkade och naturvetenskapligt inriktade elevers intresse genom att berätta historier om sig själv och sin barndom. […] Berättelsen är opålitlig och prövande. Men ålen är där hela tiden. Från ursprunget till utslocknandet. Den slingrar sig genom berättelsen som en ständig påminnelse om allt det som under historien gömts undan eller glömts bort. (S. 130)
Die Paraderolle des Aals, wenigstens innerhalb der Literatur, findet sich […] im Roman Waterland (1983) des englischen Autors Graham Swift. In diesem Buch geht es um den Geschichtslehrer Tom Crick, der versucht, das Interesse seiner Schülerinnen und Schüler zu wecken, indem er persönliche Geschichten aus seiner Kindheit erzählt. […] Der Erzählvorgang ist unzuverlässig, er tastet sich vor. Doch der Aal ist immer präsent. Von seinem Ursprung bis zur Auslöschung. Er windet sich durch die Erzählung hindurch, wie eine ständige Erinnerung an all das, was in der Geschichte verborgen geblieben ist oder vergessen wurde. (Arbeitsübersetzung, AW)
Als weitere prägende Text-Urheberin qualifiziert sich Rachel Carson, gerade mit ihrem Buch über die Aalin Anguilla (River and Sea, 1941). Auf diese Weise hat Svenssons Band sogar ein textliches Elternpaar.
Die konsequent verfolgte Mensch-Aal-Analogie gerät doch im Hinblick auf den Vater-Sohn-plot weniger überzeugend, da Svensson das hohe Pathos, das die Protestliteratur gegen das Artensterben inzwischen kennzeichnet, von der anthropozänen Skala aller Erdenbewohner auf das individuelle Schicksal herunterbrechen muss. Darüber hinaus deutet sich eine Neubewertung der Vaterschaft für den Ich-Erzähler an. Während der Großvater unbekannt blieb, scheint der eigene Vater durch das gemeinsame Hobby und die im Buch dokumentierten Aalstudien nah geworden. Auf dem Wege von Enthüllung und Verrätselung wird ein literarisches Denkmal für den zugewandten Vater geschaffen.
Das Aussterben der Aal-Art beruht auf Umweltgiften, der Überfischung sowie der Entstehung neuer Krankheiten und Parasiten. Der Tod des Vaters, eines in den 1940er Jahren geborenen Asphaltarbeiters, belegt den tragischen Niedergang der schwedischen Arbeiterklasse und die Abwicklung eines gesundheitsschädlichen Erwerbszweigs, so dass nun auch der krebskranke Straßenbauer als einer der letzten seiner Art erscheinen muss.
Darüber hinaus bleibt der Vater durch die erfolgreiche Natur-Sensibilisierung seines Sohnes zugleich in ein Netz aus guten Mächten eingebunden. Sein Auftrag an den Sohn, das Geheimnis des Aales zu erhalten und wie einen lebensweltlichen Erinnerungsschatz zu hüten, ruft naturromantische Vorstellungen auf. Dass der Sohn seinem Vater sogar möglicherweise in Gestalt eines Blankaals – in einem Süßwassersee des Sommerhauses – noch einmal wiederbegegnet, deutet die letzte Passage des Romans an.
„Jag vet att det var en ål för att jag såg den. Sakta slingrade en sig upp ur mörkret och kom mot mig. Den var stor och gråblek, men ögon som svarta knappar, och den såg på mig som för att försäkra sig om att jag också såg den. Och jag släppte linan och såg hur den lossnade från kroken precis när den nådde ytan, vände och gled ner i det fördolda igen.
En stund satt jag kvar på knä vid sjökanten. Det var alldeles tyst och sjön låg blank, solen glänste som ett vitt sken på vattenytan och allt där under doldes som bakom en spegel. Det var en hemlighet vad som gömdes där under, men denna hemlighet var nu också min.” (S. 269)
”Ich weiß, dass es ein Aal war, weil ich ihn sehen konnte. Zögerlich wand er sich aus der Dunkelheit herauf und schwamm auf mich zu. Er war groß und hellgrau, die Augen wie schwarze Knöpfe, und er sah mich an, als ob er sich vergewissern wollte, dass auch ich ihn gesehen hatte. Ich ließ die Schnur los und konnte sehen, wie er sich vom Haken befreite, gerade als er an die Wasseroberfläche gelangte, kehrtmachte und wieder ins Verborgene hinabglitt.
Es war völlig still, und der See lag ruhig da, das Sonnenlicht glitzerte weiß auf der Wasseroberfläche, alles darunter war wie hinter einem Spiegel verborgen. Was sich dort unten versteckte, war ein Geheimnis, aber dieses Geheimnis gehörte nun auch mir.“
Patrik Svensson: Ålevangeliet. Berättelsen om världens mest gåtfulla fisk, Stockholm: Bonniers, 2019. (Evangelium der Aale, übs. von Hanna Granz, München: Hanser, 2020)
(Antje Wischmann, Abt. Skandinavistik, Universität Wien)