Selbstbespiegelnde Glückssuche – ein Selfie-Roman

Katrine Marie Guldager gehört seit den 1990er Jahren zu den anerkanntesten dänischen Autor*innen. Sie hat mehrere Jahre ihrer Kindheit in Zambia verbracht und an der Kopenhagener Universität sowie an der dortigen Autorenschule studiert. 1994 debütierte sie mit einer Gedichtsammlung, bekannt wurde sie mit den Erzählungssammlungen København (2004; Kopenhagen) und Kilimanjaro (2005; Kilimandscharo), die in minimalistischer Diktion ein Zeitbild einer Ich-bezogenen Gesellschaft entfalten, im ersten Band konzentriert auf Geschehnisse in der dänischen Hauptstadt, im zweiten Band auf Tansania und globale Vernetzungen bezogen. Anschließend schrieb sie mit der sog. „Køge-Chronik“ eine sechsbändige Romanserie über eine Familie in der dänischen Provinz, die sich vom Zweiten Weltkrieg bis in die späten 1980er Jahre erstreckt. Weiterhin hat Guldager Gedichte und eine Reihe von Kinderbüchern geschrieben. Sie ist mit etlichen Preisen ausgezeichnet worden, so erhielt sie 2004 den renommierten Kritikerpreis für die Erzählsammlung København. Ihre Texte sind in mehrere Sprachen übersetzt worden, auf Deutsch liegen jedoch nur ein Roman (Das grüne Auge) und einige Gedichte in Anthologien vor. Während die Familienchronik aus Køge natürlich sehr Dänemark-zentriert ist, dürften die Erzählungen aber durchaus von Interesse für deutsche Leser*innen sein.

Nun hat Guldager mit Et rigtigt liv (Ein richtiges Leben) ein neues Buch vorgelegt, das zwar auch überwiegend in Dänemark spielt, aber ein Generationsroman ist, der auch anderswo in der westlichen Welt angesiedelt sein könnte. Man muss sich beim Lesen allerdings auf Irritationsmomente einstellen, Irritation über den Protagonisten und seine unersättlichen Ansprüche an das Leben, über die Vorhersehbarkeit der Handlung sowie auch über die Erzählweise. Im Zentrum steht die Lebensgeschichte von Filip: Er wächst in einer privilegierten Familie in feiner Wohngegend auf, studiert – erwartungsgemäß – Jura, wohnt als Student in einer geerbten Siebenzimmerwohnung in bester Wohnlage Kopenhagens, geht dann zum Aufbaustudium nach New York, freundet sich mit dem Sohn steinreicher Kolumbianer an, den er über Weihnachten in seiner Heimat besucht und dort eine Affäre mit dessen Schwester anzettelt. Dann aber kehrt er zurück und heiratet standesgemäß ein Mädchen aus guter Familie, sie kaufen ein teures Haus und bekommen zwei Kinder. Er wird Anwalt, hat sofort Erfolg und verdient viel Geld, steigt in Spekulationsgeschäfte ein, um noch mehr zu verdienen, bis er im Zuge der Finanzkrise pleitegeht, geschieden wird, zu trinken beginnt und vor die Hunde geht. Warum sollen wir uns als Leser*innen mit diesem unsympathischen und ziemlich uninteressanten Menschen und seiner Geschichte beschäftigen, die vielfach erzählt und einigermaßen vorhersehbar ist? Und was ist das eigentlich für ein Roman, und was macht ihn aus?

Als psychologische Studie ist er zu oberflächlich, er wirkt eher wie eine Karikatur. Als Gesellschaftsroman ist er hingegen zu einseitig, auf die reiche Oberschicht konzentriert, ohne die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auch nur in den Blick zu bekommen. Weil er in vier Teile geteilt ist, liegt der Gedanke an einen desillusionierten Bildungs- oder Entwicklungsroman nahe, manches erinnert durchaus an Henrik Pontoppidans Lykke-Per (1898-1904; dt. Hans im Glück): die Herkunft, der Aufstieg, das Glücksstreben und schließlich die Resignation. Genretypisch beginnt es mit Kindheit und Jugend, dann folgt der Aufbruch in die große, weite Welt, darauf die Heimkehr mit Eheschließung, Familiengründung und beruflichem Erfolg, der schließlich in Gier, Katastrophe und Desillusion mündet. Im Vergleich zu dem nach Innovation und Rationalität strebenden Lykke-Per fragt man sich nun aber, wonach Filip eigentlich strebt, welches die Leitlinien seines Lebens sind. Er studiert Jura und ist damit qualifiziert, dem Gesetz und dem Recht zu dienen, doch das Rechtssystem wird in diesem Roman beschrieben als bevölkert von „dem, der har arvet retten til riget, dem, hvis forældre og bedsteforældre er berømte advokater, højesteretsdommere og departementschefer, dem, der kender byens retssale som deres egne bukselommer […] Hør nu her, siger deres udstråling. Vi er loven. Hvem fanden er du?” (42; „denen, die das Recht auf das Reich geerbt haben, deren Eltern und Großeltern berühmte Rechtsanwälte, Richter am Obersten Gerichtshof und Staatssekretäre sind, denen, die die Gerichtssäle der Stadt wie ihre eigene Westentasche kennen […] Jetzt hör mal, sagt ihre Ausstrahlung. Wir sind das Gesetz. Wer zum Teufel bist du?“). Filip spezialisiert sich auf Konkursrecht, er interessiert sich nicht dafür, juristische Beistand zu leisten, nicht für Recht und Gerechtigkeit, sondern nur dafür, möglichst viel Geld zu verdienen und ständig seinen sozialen Status zu erhöhen und vom Desaster anderer zu profitieren. Er benutzt seine Ausbildung und sein Wissen als ein Werkzeug, um das zu finanzieren, was er für „das richtige Leben“ hält. Als einen Bildungsroman gelesen, kann man Guldagers Roman nur als eine Parodie verstehen.

Aber nicht alles ist satirisch, parodistisch oder gesellschaftskritisch angelegt. Filip ist auch mit einigen individualisierenden Zügen ausgezeichnet, die sowohl von dem klischeehaften Glanzbild als auch von dessen Karikatur abweichen. So stehen am Beginn des Romans die schwere Krebskrankheit und der Tod der Mutter, als er noch ein Kind ist; er hat einen schwerbehinderten Bruder, demgegenüber er sich immer zurückgesetzt fühlt; aus diesem Grund hat er ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater; er wird zuerst zum Psychologen und dann auf ein Internat geschickt, wo er allerdings gute Freunde findet. All dies wird jedoch nicht eingesetzt, um ihn sympathischer oder verständlicher zu machen, sondern um die Ambivalenzen der Lesenden ihm gegenüber zu erhöhen. Diese Zwiespältigkeit erreicht Guldager durch eine Erzählhaltung, die eine Mischung aus einer allwissenden Erzählinstanz und einem Einblick in das Bewusstsein der Figuren darstellt. Meist ist es jedoch Filips Gedankenwelt, mit der wir konfrontiert werden. In erlebter Rede – und das heißt in seiner Sprache und Ausdrucksweise – erfahren wir, was Filip fühlt und denkt, doch wird dabei immer in der dritten Person erzählt: „Først på vej hjem forstod Filip, hvad besøget handlede om. Han vidste endnu ikke, præcis hvad han skulle bruge sit jurastudie til, men uanset hvad han valgte, skulle det være hans eget valg, ikke? Ikke noget, hans familie havde valgt for ham. Det skulle netop ikke være en pligt. Det skulle også være noget, han havde lyst til, ikke?” (65; „Erst auf dem Heimweg verstand Filip, worum es sich bei dem Besuch handelte. Er wusste noch nicht, was genau er mit seinem Jurastudium anfangen sollte, aber unabhängig davon, was er wählte, sollte es doch seine eigene Wahl sein, oder? Es sollte eben keine Pflicht sein. Es sollte etwas sein, wozu er Lust hatte, oder?“). Wie in diesem Abschnitt gleitet die Erzählersprache oft beinahe unmerklich über in Filips Gedanken. Als Lesende werden wir in das Figurenbewusstsein hereingelassen, aber gleichzeitig – durch die Verwendung der 3. Person – auf Distanz gehalten; manchmal können wir nicht einmal ganz sicher sein, ob ein Satz einem Figurenbewusstsein oder der Erzählstimme entstammt.

Auf diese Weise wird Filips Verhältnis zu sich selbst gespiegelt. Auch er hat immer einen gewissen Abstand zu sich selbst und zu seinem eigenen Leben. Stets beobachtet er sich und fragt sich, ob er jetzt wirklich glücklich ist, ob er „das richtige Leben“ lebt und wer er eigentlich ist: „Hvem er vi? Hvordan bor sådan nogle som os? Hvilket liv ønsker vi os, og hvilken bolig passer til det liv? […] Det er noget uhyggeligt ved alle spørgsmålene, alle valgene – som om livet er ét stort designerkøkken.” (177: „Wer sind wir? Wie wohnen Leute wie wir? Welches Leben wünschen wir uns, und welche Art von Wohnung passt zu diesem Leben? Es liegt etwas Unheimliches in all diesen Wahlsituationen – als ob das Leben eine einzige große Designerküche ist.“). Filip ist nicht nur ein elitärer Karrierist, er ist auch ein Zweifler und ein Suchender. Aber er hat keine Werte und keine Haltung und weiß daher nicht, wonach er sucht; Geld und Status geben ihm nur vermeintliche Antwort auf die wiederholt vorgebrachte Frage danach ‚hvem han er’ (96; wer er ist) und ob er jetzt wirklich glücklich ist. Das ebenfalls wiederholte „han ser sig selv udefra“ (228, 252; „er sieht sich selbst von außen“) beschreibt diesen Status der Inauthentizität, wiederum mit seinem Satz, von dem man nicht sicher weiß, ob er Erzählerkommentar oder Selbst-Beschreibung ist. Es ist also keine Überraschung, dass die Lesenden irritiert werden, indem sie gezwungen sind, sich ständig hin- und herzubewegen zwischen Interesse und Abwehr, zwischen Verständnis und Distanznahme.

Der Roman ist also – vor allem durch seine bewusst irritierende Erzählweise – kein Gesellschafts- oder Entwicklungs-, sondern eher ein Zeitroman über die 90er und 00er Jahre, eine Diagnose über eine Generation in einer neoliberal verzerrten Wohlfahrtsgesellschaft, die sich über ihr Glücksstreben definiert. Der Text greift damit das Selbstverständnis der Dänen als eines der glücklichsten Länder der Erde auf und macht deutlich, dass das Streben nach der Messbarkeit des Glücks gefährlich ist. Es führt unter anderem zur ständigen Selbst-Beobachtung, die den Blick für Andere und Wichtiges verstellt. Ohne dass die heute ubiquitären Medien der Selbstdarstellung eine nennenswerte Rolle spielen, ist Et rigtigt liv eine Art Selfie-Roman.

Katrine Marie Guldager: Et rigtigt liv. Gyldendal: Kopenhagen, 2019

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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