Sami Said hat sich auf dem schwedischen Buchmarkt längst etabliert: 2012 erschien sein vielbeachtetes Debüt Väldigt sällan fin (Ungeheuer selten schön) über das Ringen des verschlossenen Studenten Noha um eine Identität zwischen zwei Kulturen, Schweden und Eritrea. Presse und Medien hoben den knappen Schreibstil des Autors hervor, der in jedem Lesemoment überraschend, detailstark und oft witzig, aber auch spröde und unzugänglich wirkt. Da Said selbst aus Eritrea stammt, sahen viele in diesem biografisch inspirierten Erstling eine sprachlich neuartige Variante von Migrationsliteratur. Der nachfolgende Briefroman Monomani (2013) – eine Figur namens ‚Sami‘ schreibt eine Art Entschuldigung an seine wegen eines Buchprojektes vernachlässigte Mailfreundin ‚Sara‘ – wurde ebenso positiv aufgenommen. Erzählt wird in beiden Fällen aus der Ich-Perspektive, wobei die Protagonisten Noha bzw. ,Sami‘ ihr Lesepublikum nicht an die Hand nehmen; vielmehr zeichnen sich beide Figuren durch eine begrenzte Sicht sowie durch eine gewisse erzählerische Unzuverlässigkeit aus, bedingt durch ihre (jeweils unterschiedlich begründete) Isoliertheit, Unsicherheit und Überforderung im sozialen Miteinander. Es wäre jedoch zu kurz gedacht, das „Draußen-Sein“ der Ich-Erzähler als primär migrationsbedingt aufzufassen, wie einige überzeugende Rezensionen zeigen (darunter Antje Wischmanns Buchbesprechung zu Väldigt sällan fin).
Einfaches Schubladendenken würde dem reichen semantischen Potenzial von Saids Erzählkunst auch keinesfalls gerecht werden, was sich erst recht in dem sechs Jahre später folgenden Roman Människan är den vackraste staden (Der Mensch ist die schönste Stadt) zeigt. Dessen literarische Qualität wurde mit zwei wichtigen Preisnominierungen (2018 Augustpriset, 2019 Literaturpreis des Nordischen Rates) bedacht und 2019 mit Aftonbladets Literaturpris belohnt. Im Mittelpunkt der Handlung steht der illegale Flüchtling San Francisco, vermutlich somalischer Herkunft, der irgendwo zwischen Afrika und Skandinavien einem Platz sucht, an dem er willkommen ist. Die seltenen geografischen Hinweise lassen nur eine ungefähre Verortung des Geschehens zu, stattdessen werden die drei Romanteile von Figurenkonstellationen getragen: Der erste Teil „Inte mitt skep“ (Nicht mein Schiff) ist mit dem Massai ,Manni‘ verbunden, der für den schwedischen Pass eine Einheimische geheiratet hat, nun aber durch die Ehefrau und auch durch Arbeitgeber erniedrigt und ausgebeutet wird. Im zweiten Teil „Meteoriten“ (Der Meteorit) steht vor allem Richard ,Lejonhjärta‘ (Löwenherz), ehemals Hussain, im Fokus, der für seine Lebensziele den Weg der Anverwandlung von fremden Haltungen und Worten wählt. So möchte er beispielsweise die gehobene schwedische Gesellschaft mit antiislamischem Nationalismus und eine angehimmelte Frau mit Bonmots seines Freundes San Francisco erobern – für Letzteren ein Grund weiterzuziehen, zumal inzwischen klar ist, was ihm wirklich wichtig ist: „Mamma. Yei. Hela lyckan. Aldrig lilleman igen. Miljoner. San Francisco. Ett världspass. Aldrig hunger igen. Tio par skor. Yei.“ (Mama. Yei. Das ganze Glück. Niemals mehr ,kleiner Mann‘. Millionen. San Francisco. Ein Weltpass. Niemals wieder Hunger. Zehn Paar Schuhe. Yei. – 184, kursiv im Original). San Franciscos Wünsche nach dem „ganzen Glück“ vollenden sich in einer Art Utopie am Ende des dritten Teils „Vi vill ha frukten, inte trädet“ (Wir wollen die Frucht haben, nicht den Baum). Eine wichtige Rolle im dritten Teil spielt der genannte Yei, bester Freund und liebenswerter Halbkrimineller mit einer traumatischen Vergangenheit, den San Francisco auf einer Insel im Atlantik wiedertrifft. Wie es zu dem Spitznamen Yei (statt ursprünglich Malik) kam, erfährt man nicht. Denkbar wäre eine Anspielung auf eine Stadt im Süd-Sudan, aber auch auf den gleichlautenden japanischen Mädchennamen, zu deutsch ,blühend‘ – ein passendes Adjektiv für die wahnwitzigen Einfälle und die mädchenhafte Schönheit des Freundes, der zuweilen auch ,Wendy‘ oder ,Sötnos‘ (Herzchen) genannt wird. Yei wiederum wählte für seinen Freund, der eigentlich Ahad heißt, den Spitznamen San Francisco aus, weil dieser sich eine Zukunft in Amerika erträumt. Aufgrund der engen Freundschaft zwischen San Francisco und dem androgynen Yei ist man versucht, an die gleichnamige kalifornische Metropole mit ihrer weltbekannten LGBT-Szene als heimlichen Sehnsuchtsort des Protagonisten zu denken, und tatsächlich wird die Stadt gelegentlich im Text genannt (so etwa im oben angeführten Zitat). Doch auch andere Reiseziele sind im Gespräch, zudem gibt es keine expliziten Hinweise auf die sexuelle Orientierung der beiden Freunde. Stattdessen erfährt man, dass eine Sternenkarte irgendwo in einem afrikanischen Bushäuschen einst den Ausschlag für den ,Leitstern‘ Amerika als allgemeines Reiseziel gab. Sterne, Mond und Universum sind wiederkehrende Symbole im Roman, dessen Umschlagbild folgerichtig ein Sternenhimmel ziert. Zugleich lässt sich der ,Griff zu den Sternen‘ als Metapher interpretieren, denn San Francisco ist Idealist, er denkt ,groß‘ und über alle Grenzen hinweg – doch dazu später mehr.
Es lässt sich feststellen, dass die eingangs genannten Merkmale der zwei Vorgängerromane auch hier zutreffen: Die Handlung wird getragen vom Ich-Erzähler San Francisco, der sich als „pålitligt opålitlig“ (zuverlässig unzuverlässig – 13) beschreibt. Er ist ein einsam Suchender im Schatten der Illegalität, der seine Erlebnisse und Überlegungen überwiegend nur anskizziert, nicht erklärt; die augenzwinkernde Ironie macht die Lektüre zwar zu einem großen Vergnügen, verschleiert aber das Textverständnis oft zusätzlich. Der Zusammenhang vieler Informationen, die alle relevant zu sein scheinen, erschließt sich, wenn überhaupt, erst im Nachhinein. Das gilt nicht zuletzt für die Dialoge, denn im Gegensatz zu den anderen Figuren haben San Franciscos eigene Repliken keine Anführungszeichen; somit wird nicht immer deutlich, ob er gerade spricht oder denkt.
Doch wie bei Said üblich, folgt auch hier die Form dem Inhalt: Dass die Leser im Unklaren gelassen werden, spiegelt beispielsweise die Orientierungslosigkeit illegaler Flüchtlinge auf der Sprachebene, wie viele Rezensenten erkannt haben, darunter Mats Kolmisoppi: „[D]en dallrande språkridån är en viktig del i en medveten poetik som vill försätta läsaren i ett tillstånd av förhöjd förvirring. Att det är svårt att veta vilken sida om gränserna man befinner sig på spelar ingen roll för den som är på väg, människorna i romanen är ändå inte önskvärda någonstans.“ (Der zitternde Sprachvorhang ist ein wichtiger Teil in einer bewussten Poetik, die den Leser in einen Zustand erhöhter Verwirrung versetzen will. Dass es schwer ist, zu wissen, auf welcher Seite der Grenzen man sich befindet, spielt keine Rolle für denjenigen, der unterwegs ist, die Menschen im Roman sind dennoch nirgendwo erwünscht. – in: „Ett tillstånd av förhöjd förvirring“ / Ein Zustand erhöhter Verwirrung, Göteborgs Posten, 20.09.2018)
Durch diese Verwirrung entsteht aber auch ein Zuwachs an Deutungsmöglichkeiten, den man als Plus verbuchen könnte. Manche*r Lesende fühlt sich vielleicht gerade deshalb ,abgeholt‘, weil auf diese Weise den Assoziationen freien Lauf gelassen und ein ganz eigener Zugang zum Geschehen gefunden werden kann. Und damit wäre man ganz auf einer Linie mit San Francisco:
Denn Saids dritter Roman entwickelt sich in eine völlig andere Richtung als seine beiden Vorgänger, weil die Figur San Francisco aus ganz anderem Holz als Noha oder ,Sami‘ geschnitzt ist. Er ist nicht kontaktscheu und kämpft auch bei unvorhergesehenen Ereignissen nicht um Kontrolle und Abgrenzung, sondern geht offen und lernbereit auf seine Mitwelt zu. Wo irgend möglich, sucht er Kontakt und Austausch, inklusive Selbstgespräche und ,Dialoge‘ mit Pflanzen, Tieren und unbelebten Gegenständen. Seine leicht ironische Neugierde auf die Umwelt grenzt gelegentlich an Leichtsinn, etwa wenn er sich an eine Gruppe maskierter Rechtsradikaler wendet, die ein Einwandererghetto besetzen wollen und deshalb an der Fassade eines Gebäudes hochklettern, um eine Flagge zu hissen:
„Får vi gå med? Vi är som ni. Insisterar ni tar vi på oss masker fast vi är snyggare utan. Förresten, vad är poängen med flaggan? Det har jag aldrig begripit. Måste man dra med hela stammen upp till toppen för att det ska räknas? […] Stick, sa de med händerna och uppblåsta bröst.“ (245/246)
(Dürfen wir mitgehen? Wir sind wie ihr. Wenn ihr darauf besteht, setzen wir Masken auf, obwohl wir ohne hübscher sind. Übrigens, was ist eigentlich der Sinn der Flagge? Das habe ich nie begriffen. Muss man mit dem ganzen Stamm [= hier: Volksgruppe] bis zur Spitze hinaufziehen, damit es gilt? […] Hau ab, sagten sie mit den Händen und geschwollener Brust.)
Auch wenn er also zuweilen keinen rechten Erfolg hat: San Francisco interessiert sich nicht für die rein theoretische Auseinandersetzung mit Geschichte und Kultur, sondern möchte Menschen, Orte und Ereignisse in ihrer vollen Bandbreite und Konkretheit erfahren. San Francisco versteht sich nämlich als „Entdeckungsreisender“ – ein tragendes Motiv des Romans, der in den Presserezensionen gern als „Robinsonade“ (Aftonbladet, 20.05.2019) bzw. „Odyssee“ (Dagens Nyheter, 20.05.2019) bezeichnet oder mit der Gattung des pikaresken Schelmenromans (Dagens Nyheter, 05.09.2018; Helsingborgs Dagblad, 20.09.2018) verglichen wurde. Ich halte diese literarischen Kategorisierungen jedoch für zu eng gefasst. Meiner Ansicht nach stellt gerade der Begriff der Entdeckungsreise – also die Erkundung von etwas bislang Unbekanntem in weitestem Sinne – den entscheidenden Schlüssel zur gesamten Machart des Romans dar, weil er neben der geografischen Komponente auch auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit sowie das weite Feld zwischenmenschlicher Beziehungen anwendbar ist. Jeden dieser Bereiche findet man im Roman vertreten, zudem nutzt San Francisco die Erforschung sinnlicher, phantastisch-assoziativer und (in Ansätzen) sprachpoetischer Erfahrungswelten, um seinen realen und idealen Zielen näherzukommen. So beschert beispielsweise eine (illegal durchgeführte) Nasen-OP dem zuvor ständig nach Luft Ringenden eine bislang unbekannte Form der synästhetischen Wahrnehmung, aber auch traurige Einsichten:
„Sträva, isiga, sjöblöta, illgröna, måsskitsvita kröp de [= lukterna] in under draperiet och uppför sängbenen. Man kunde inte värja sig. Jag tänkte att jag skulle behöva många nya ord. Jag tänkte att jag skulle återvända till platserna jag besökt för att uppleva dem på nytt. Eller hade jag ens varit någonstans? Addis, Khumis och Rom hade aldrig inträffat, inte som de egentligen var. En upptäcktsresande som aldrig steg ombord, skeppet gav sig av utan honom. Jag tänkte att jag inte skulle stå ut en sekund till. Jag hoppades att det var en tripp och att den snart var över.“ (129)
(Rauh, eisig, meeresfeucht, knallgrün, mövenscheißeweiß krochen sie [= die Gerüche] unter dem Vorhang hinein und die Bettfüße hinauf. Man konnte sich nicht wehren. Ich dachte, dass ich viele neue Worte brauchen würde. Ich dachte, dass ich zu den Orten zurückkehren sollte, die ich besucht hatte, um sie aufs Neue zu erleben. Oder war ich jemals irgendwo gewesen? Addis, Khumis und Rom waren niemals geschehen, nicht [so,] wie sie eigentlich waren. Ein Erlebnisreisender, der niemals an Bord ging, das Schiff legte ohne ihn ab. Ich dachte, dass ich [das] keine Sekunde länger aushalten würde. Ich hoffte, dass dies ein Trip war und dass er bald vorüber war.)
Die bildliche Sprache und die latente Rhythmisierung (dreimal „jag tänkte att jag skulle“) sind ebenso typisch wie die Satzstruktur, die einmal mehr verunklart, was eigentlich gemeint ist: Lässt sich der aktuelle Rausch nicht ertragen oder das Wissen um die unvollständige Erfahrung der bereits besuchten Städte? In jedem Fall deutet dieses Beispiel aber an, dass der Erzählstil des Romans mit dem Label „impressionistisch“, wie es Jenny Högström im Aftonbladet getan hat („Allt ljus på de osynliga“/Alles Licht auf die Unsichtbaren, 03.10.2018), streng genommen unzureichend beschrieben ist. Denn die Erzählung vollzieht sich nicht nur auf rein sensorischer Ebene, sondern fokussiert auch auf die komplexen Gedankenspiele ‚hinter‘ diesen Wahrnehmungen.
In Überforderung oder Resignation zu verharren, kann sich San Francisco aber nicht leisten. Sein Selbstbild als „Entdeckungsreisender“ ist bei allem Humor natürlich auch ein Euphemismus und Überlebens-Mantra im Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, was ihn stets von den anderen Flüchtlingen unterscheidet:
„Alltid ska de invända att det inte går, att man måste förhålla sig realistiskt till möjligheterna. Men hoppet då? Man måste väl få ha sina visioner. Jag kunde inte med dem länge till. Deras negativitet vägrade låta sig bevekas. Det gällde att sticka omeldelbart, innan de förändrade en.“ (91)
(Immer werden sie einwenden, dass es nicht geht, dass man sich gegenüber den Möglichkeiten realistisch verhalten muss. Aber was ist mit der Hoffnung? Man muss doch seine Visionen haben dürfen. Ich konnte nicht lange bei ihnen sein. Ihre Negativität weigerte sich, erweicht zu werden. Es galt, unmittelbar abzuhauen, ehe sie einen veränderten.)
Die aus realen wie imaginären Quellen gespeiste Entdeckungsreise San Franciscos bildet nämlich eine Art experimentellen geistigen Schutzraum, in dem Faktizität und Realismus um des Überlebens willen tatsächlich weniger Relevanz besitzen müssen als Fiktionalität und Idealismus – und dieser kreative Raum ist die Literatur, die wir hier lesen! Der teilweise verwirrende, quasi-autistische Erzählstil im Roman lässt sich somit nicht nur als Spiegelbild der erzwungenen Isolation illegaler Flüchtlinge (s.o.) verstehen, sondern gründet in allererster Linie auf der individuellen Lösung der Hauptfigur aus seiner Not. San Franciscos Talent zum ‚Groß-Denken‘ und ‚Quer-Denken‘ über alle Grenzen hinweg bildet die Grundvoraussetzung für die Stimmigkeit der gesamten Erzählung, inklusive der humanistischen Vision in der letzten Romanszene:
„Det kom inte plötsligt, det var inte ett av mina berömda infall. Det var en klarhet som hade växt fram ur allt jag sett och varit med om. […]
Jag sa, jag ska bygga en park precis här. Inte för att det är något särskilt med platsen. Eller just därför.
Jag sa, det ska bli den vackraste parken i världen. De ska komma från andra kontinenter för att besöka den. […]
Jag reste mig upp och knöt fast slöjan i en gren, som en flagga.
Ja sa, det är inte blommorna, det är inte buskarna. Det är inte skyskraporna eller folkvimlet heller. Det är du, jag och de vi känner. Människan är den vackraste staden.
Yeis blick.
Jag glömde vad jag skulle säga.
Syrsorna.“ (366/367)
(Das kam nicht plötzlich, das war keiner von meinen berühmten Einfällen. Es gab eine Klarheit, die aus allem erwuchs, was ich gesehen und erlebt hatte. […] Ich sagte, ich werde genau hier einen Park bauen. Nicht weil mit dem Ort irgendetwas Besonderes ist. Oder gerade deshalb. Ich sagte, dies wird der schönste Park auf der Welt. Sie werden von anderen Kontinenten kommen, um ihn zu besuchen. […] Ich stand auf und knotete den Schleier an einem Zweig fest, wie eine Flagge. Ich sagte, es sind nicht die Blumen, es sind nicht die Sträucher. Es sind auch nicht die Wolkenkratzer oder das Volksgewimmel. Du bist es, ich und diejenigen, die wir kennen. Der Mensch ist die schönste Stadt. Yeis Blick. Ich vergaß, was ich sagen wollte. Grillen.)
Die innertextuelle Komik zwischen der oben erwähnten Flaggenaktion durch Rechtsradikale und der hier nachgeahmten Geste mit einem muslimischen Schleier, durch die Polemik wie auch Pathos unterlaufen werden, ist ein weiteres Beispiel für Saids feinsinnige Textgestaltung. Abgesehen davon mutet die hier vorgestellte Park-Idee surreal an, wenn man bedenkt, dass die zwei Freunde gerade auf einem trockenen Feld unter einem Baum irgendwo in Afrika stehen, denn dorthin sind sie zurückgekehrt („tillbaka är det nya framåt“/zurück ist das neue Vorwärts – 356). Bemerkenswert erscheint neben der geplanten (und hier nicht zitierten) bescheidenen Umsetzung der symbolische Gehalt der Vision. Sie basiert auf San Franciscos Reiseerfahrungen („allem […], was ich gesehen hatte und wo ich dabei war“, s.o.), darunter besonders auf seinem Aufenthalt in einem halb zerfallenen Park im dritten Romanteil. In jenem ehemaligen „paradiesträdgård“ (Paradiesgarten – 287) hätte sich San Francisco nämlich unter der Ägide einer älteren verwitweten „Madam“, die den heimatlosen jungen Mann bei sich aufgenommen hatte, für immer einrichten können, dieses jedoch nur zum Preis der Selbstaufgabe. Nach der Entscheidung, sein Schicksal lieber in die eigene Hand zu nehmen, steht San Francisco erstmals zu seinem Geburtsnamen Ahad, einem der 99 Namen des Schöpfergottes Allah. Obgleich der Begriff Paradies nicht explizit fällt, lassen der zeitnahe Namenswechsel, der Neuentwurf des Parks in der oben zitierten Passage sowie ihr litaneiartiger Sprachduktus (viele Absätze werden mit „jag“/ich eingeleitet: ich sagte, ich dachte …) eine Art Paradieserzählung nach Vorlage des Korans oder auch der christlichen Bibel vermuten. Denn San Francisco/Ahad legte sich nie auf eine Religion fest. Betrachtet man die Szene jedoch im Licht der Fluchtgeschichte sowie der schon erwähnten Überschrift zum dritten Romanteil „Vi vill ha frukten, inte trädet“ (Wir wollen die Frucht haben, nicht den Baum), so ergibt sich ein differenzierteres Bild, wie ich abschließend mit einigen exemplarischen Überlegungen und Kurzverweisen auf das Alte Testament aufzeigen möchte:
Der Satz „Vi vill ha frukten, inte trädet“ stammt laut Sami Saids Quellenangabe aus einem ironischen Tweet des Hiphop-Sängers K’naan und kritisiert, allgemein gesprochen, das gedankenlose Sich-Bedienen am Ertrag von fremder Leute Arbeit. Auch San Francisco ließ sich lange von einem ,gemachten Nest‘ ins andere treiben. Insofern deutet der Satz als Überschrift des Romanteils 3 (analog zu den weiter oben genannten Teilrubriken 1 und 2) einerseits eine weitere Sackgasse auf seiner Reise an, zu der die Episode im Park der Madam auch beinahe geriet. Andererseits ist im Zuge weltweiter politischer und sozialer Veränderungen und Krisen nicht nur der lockende Griff nach fremden„Früchten“ problematisch (wenngleich aus der Sicht eines Flüchtlings oft schiere Not dahintersteht), sondern auch das passive Ausharren in festgefahrenen Situationen und Strukturen; bewusst aus solchen auszubrechen, indem man vielfältige Erkenntnisse aus ihnen zieht – dieses Talent zeichnete den ‚Entdeckungsreisenden‘ San Francisco stets auf besondere Weise aus, wie bereits oben beschrieben. Und so erscheint es plausibel, die Überschrift nicht allein als ironische Warnung vor einem Irrweg, sondern im Gegenteil als durchaus ernst gemeinte Forderung und Ausweg zu interpretieren: nämlich im Sinne einer gegen den Strich der alttestamentarischen Moral gelesenen Missachtung des göttlichen Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,16-17), um auf diese Weise aktiv aus der erzwungenen Unmündigkeit und Perspektivlosigkeit in einem fremdbestimmten ,Paradies‘ auszubrechen. Diese Lesart wird speziell durch die Schilderungen des alten Parks, aber auch von der Reise als Ganzes gestützt. Zu San Franciscos wesentlichsten Erträgen aus dem symbolischen Biss in oftmals saure ,Äpfel‘ gehören seine Erfahrungen mit kategorialen Zuschreibungen (Gut/Böse, Richtig/Falsch … inklusive ihrer Relativität je nach Kontext) sowie das Erkennen und Akzeptieren eigener und fremder „Nacktheit“ (vgl. Gen 3,7) im weitesten Sinne menschlicher Fehlbarkeit, Sehnsucht und Bedürftigkeit.
Drastische Konsequenzen im Sinne einer schweren ,Schuld‘ nach biblischem Vorbild (vgl. Gen 3, ab Vers 14) bringt der Wille zum Erkenntnisgewinn jedoch nicht mit sich; das wäre angesichts der komplexen Überlebensanforderungen an einen Menschen ohne gültige Papiere auch nicht sinnvoll. Vielmehr erweisen sich die genannten Einsichten als existenziell notwendig auf der Suche nach „ett värdigt liv“ (einem würdigen Leben, 235) und schwingen folglich zwischen den Zeilen des Resümees in der letzten Romanszene mit, in der San Francisco/Ahad anhand seiner persönlichen kleinen ,Paradieserzählung‘ ein modernes Lebensideal entwirft, das ohne geografische oder kulturelle Verortung („Nicht weil mit dem Ort irgendetwas Besonderes ist. Oder gerade deshalb.“, s.o.) und auch jenseits aller ideologischer und hierarchischer Festschreibung funktioniert. Stattdessen rückt er mit der metaphorischen Quintessenz „Människan är den vackraste staden“ – der Übertragung der „schönsten Stadt“ (angelehnt an frühere Reiseideen) auf das neue Lebensziel Mensch – elegant und beinahe beiläufig die menschliche Kernbeziehung ins Zentrum, deren einfacher Anspruch in der globalen Realität eigentlich selbstverständlich und doch oft utopisch erscheint: sich vorbehaltlos zu öffnen und einzulassen auf das konkrete Gegenüber in seiner ganzen Schönheit, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Und das gilt vor allem, wenn es sich um einen geliebten Menschen handelt. Denn obgleich es, wie im ganzen Roman, so auch in dieser Park-Idee um die Offenheit gegenüber allen Menschen geht (s.o.), deutet sich im Verhalten der zwei jungen Männer in den letzten Sätzen des Buches nun doch zum ersten Mal ihre Liebe zueinander an. Das Erkennen von Sexualität und Begehren kann aber in San Franciscos/Ahads humanistischem Denken gerade nicht zu sündhafter Scham und Vertreibung nach biblischem Vorbild führen. Vielmehr bildet die Lebensgemeinschaft der beiden das Fundament der Paradiesvision, in der sich die kosmopolitische, von kultureller und sexueller Freiheit getragene Idee eines perfekten Lebensortes konkretisiert, die der Spitzname San Francisco in Anlehnung an die kalifornische Weltstadt immer schon latent anklingen ließ.
Sami Said: Människan är den vackraste staden. Natur & Kultur: Stockholm, 2018.
(Angelika Gröger, Greifswald)