Ermächtigt zur Selbstermächtigung

Wenn Ola Larsmo seinen neuen Roman Översten (Der Oberst) in diversen Interviews vorstellt, die auf Youtube oder Vimeo leicht zugänglich sind, dann zeigt er gerne ein etwa drei Zentimeter langes und einen Zentimeter dickes Projektil, das man zu Tausenden auf den Feldern um Gettysburg gefunden hat, wo mit 43.000 Toten und Verletzten eine der blutigsten Schlachten des Amerikanischen Sezessionskriegs tobte. Es wäre also gut möglich, dass genau diese Kugel dem Helden seines Dokumentarromans Knut Oscar Broady um die Ohren flog, und es ist sehr wahrscheinlich, dass genau so ein Fabrikat seinen Körper in einer früheren Schlacht vollständig durchbohrte. Das Projektil hat in den Interviews die Funktion eines Authentizitätsverstärkers; in gewissem Sinn wird es als Zeuge aufgerufen, in dem die Vergangenheit ins Jetzt ragt und uns im wahrsten Sinne des Wortes berühren kann, wenn wir es in die Hand nehmen.

Bei der Lektüre der 600 Seiten des Romans lernt man eine Menge darüber, wie sich das Leben vor 150 Jahren in den Armenvierteln von Stockholm und New York ausgenommen haben muss: etwa, wie man einen Säugling am Leben erhielt, wenn die Mutter tot, aber kein Geld für eine Amme da war; wie man aus Kadavern und Exkrementen Salpeter zur Schießpulverherstellung gewann; was der Fugitive Slave Act für einen in die Nordstaaten geflüchteten Schwarzen bedeutete, oder wie eine Überfahrt von Schweden in die USA auf einem Segelschiff verlief. Nebenbei erwähnte Namen und Zusammenhänge locken von der Lektüre weg ins world wide web, weil man mehr wissen will über Georg Scott und die Engelska Kapellet in Stockholm, über die Crusenstolpekravallerna (Crusenstolpe-Kravalle), über Beechers bibles, the bloody Wheatfield, das dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Amendement, die Fabrikantengeschichte von Colgate oder die Weltausstellung von 1876 in Philadelphia. Die Welt wird zweifellos größer, wenn man sich dem Roman anvertraut. Und doch legt Larsmo Wert darauf, dass auch eine noch so penible Akkuratesse in historischen Dingen die Distanz zur Vergangenheit nicht überwinden kann: „Detta är en roman“, schreibt er im Nachwort, „som växer på ett verkligt liv som murgröna på en ek. Konturerna av verkligheten finns förhoppningsvis där, men det rör sig om avbildning och fiktion“ (S. 591 – „Dies ist ein Roman, der auf dem wirklichen Leben wächst wie Efeu an einer Eiche. Die Konturen der Wirklichkeit sind hoffentlich erhalten, aber es handelt sich um Abbildung und Fiktion“).

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Knut Oskar Broadys Leben bietet einen starken Stamm, an den sich der Efeu der dokumentarischen Fiktion hochranken kann: Es beginnt 1832 in Uppsala und endet 1922 in Stockholm. Geburts- und Sterbeort liegen nur etwa 70 Kilometer auseinander, doch Broadys Lebensweg führt ihn durch viele der Brennpunkte seiner Zeit hindurch: In Stockholm erlebt er als Kind aus nächster Nähe das Judenpogrom von 1838 sowie die sogenannten marsoroligheterna (Märzunruhen), die politischen Krawalle, die sich im Zuge der 1848er Revolutionen ereigneten; dann gehört er zu denjenigen, die die großen Emigrationswellen aus Skandinavien in die USA einleiten. Zu seinem Unglück bucht er für sich und seine schwangere Frau Plätze auf dem Schiff Laurvig und erleidet so die dokumentiert schlimmste Überfahrt in der gesamten Geschichte der schwedischen Auswanderung: Die üblichen drei Wochen Überfahrt weiten sich wegen andauernder Stürme auf drei Monate aus; die Hälfte aller Mitreisenden stirbt an der Ruhr und findet ihr Grab in den Fluten des Ozeans, darunter seine Frau kurz nach der Entbindung. Dann wird er Zeuge der Bandenkriege im berüchtigten New Yorker Viertel Five Points sowie der legalisierten Jagd auf Schwarze, die aus der Sklaverei der Südstaaten in die Nordstaaten geflohen waren. Als es 1861 zum Sezessionskrieg kommt, nimmt er als überzeugter Abolitionist teil, schlägt sich auf den bekannten Schlachtfeldern und wird aufgrund seines Einsatzes bis zum Oberst befördert. Doch nach dem Krieg vollzieht sich eine weitere Wende: Er schlägt das lukrative Angebot einer Karriere in der US-amerikanischen Armee aus, wird stattdessen ein bescheidener baptistischer Pfarrer und kehrt nach einigen Jahren als Missionar ins lutherische Schweden zurück; dort gründet er die erste freie theologische Hochschule und baut an dem Schweden der Volksbewegungen mit; ohne die Frauen-, Freikirchen-, Temperenz- und Arbeiterbewegung wäre der Demokratisierungsprozess Schwedens im 20. Jahrhundert mit seinen stark egalitären Zügen nicht vorzustellen. Larsmo sammelt aus unzähligen verstreuten Quellen Schnipsel eines Lebens zusammen und formt sie zu einer Geschichte, die sowohl eine individuelle Existenz als auch den Aufbruch in die Moderne erzählt.

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Dieser Stoff musste einen engagierten Autor wie Ola Larsmo anziehen, wobei er das letzte Kapitel – Broadys Anteil an der Umgestaltung Schwedens durch seinen Kampf für eine religiös multikulturelle Gesellschaft – nur auf wenigen Seiten andeutet. Im Zentrum stehen vielmehr die schweren Lebensbedingungen der untersten sozialen Klassen, der Zynismus einer Sklavenhaltergesellschaft und die Frage danach, woher man die Kraft bekommt, gegen beide anzukämpfen. Spätestens seit seinem Roman Himmel og jord må brinna (1993) über einen Streik der Angestellten einer Streichholzfabrik in Västervik 1917 gehört Larsmo zu den wichtigsten Stimmen der Dokumentar- wie der Arbeiterliteratur, beides Gattungen der littérature engagée, in der Schweden große Vertreter*innen hervorgebracht hat; immer wieder erzählt Larsmo Geschichten von Ausbeutung, Unterdrückung und Rassismus an historisch genau recherchierten Schicksalen, Milieus und Konstellationen. Doch die (mal ausgesprochene, mal nur implizite) Folie hinter diesen dunklen Geschichten ist meist hoffnungsvoll hell, denn sie ist informiert von den sozialen und politischen Verbesserungen, die in der historischen Fortsetzung dieser Geschichten erstritten wurden.

Die Tatsache, dass er in seiner Literatur den Sprachlosen und den Verstummten eine Stimme gibt, hat ihr Äquivalent in seinem Engagement für Meinungsfreiheit und verfolgte Autor*innen: Von 2011 bis 2017 war Larsmo der Vorsitzende des schwedischen PEN-Zentrums, seit 2018 ist er Vorstandsmitglied von PEN International, einer Organisation, die sich den Kampf gegen Rassismus, Klassen- und Völkerhass in die eigene Charta geschrieben hat. So passt es besonders gut, dass Översten, dieser Roman über den Abolitionismus, im September 2020 herauskam, als man in den USA – mit der Tötung von George Floyd im Mai hinter sich und der Präsidentschafts-ab-wahl von Donald Trump im November vor sich – erneut um die Gleichbehandlung aller Mitbürger*innen stritt.

Die Hoffnung auf Selbstermächtigung wird in Översten sehr früh als feiner Streifen am Horizont in einem ansonsten düsteren Panorama angelegt. Bereits nach fünf Seiten, in dem die Menschen links und rechts von Broady sterben, lässt Larsmo seinen Protagonisten eine Szene beobachten, die man nur prophetisch nehmen kann: Auf einer Koppel sieht der fünfjährige Knut Oscar mit seiner Mutter, wie ein großer, bedrohlicher Rappe ein noch junges weißes Schaf attackiert. Mit unbändiger Wut verfolgt das Pferd sein Opfer und tritt nach ihm. Doch plötzlich passiert etwas Eigenartiges. Als das Pferd sich zum wiederholten Male in vollem Galopp dem Schaf nähert, springt das Schaf plötzlich mit gesenktem Kopf in die Flanke seines Peinigers. Nach einem zweiten Gegenangriff lässt das Pferd schließlich von seinem Opfer ab.

Det var märkligt, sade mor och reste sig. Det där var förunderligt. Något sådant hade hon aldrig sett förut. Och medan vi gick in mot stadens glänsade torn och kupoler återkom vi gång på gång till vad vi sett, hur lammet vunnit seger över den stora svarta hingsten. (S. 16)

Das war seltsam, sagte Mutter und erhob sich. Das da war verwunderlich. So etwas hatte sie nie zuvor gesehen. Und als wir den glänzenden Türmen und Kuppeln der Stadt entgegengingen, kamen wir wieder und wieder darauf zurück, was wir gesehen hatten, wie das Lamm über den großen schwarzen Hengst gesiegt hatte.

Diese kurze Szene auf den ersten Seiten wird im Verlauf des Romans nie mehr genannt; doch das Titelbild auf dem Schutzumschlag erhebt sie zum Deutungsrahmen des Romans: Das Cover zeigt den heranstürmenden Rappen von schräg unten, zeigt, wie es sein Opfer im Angriff mit dem Blick fixiert. Es handelt sich also um den Moment, in dem das Lamm zum Gegenangriff ansetzen muss, wenn es nicht den Hufen des Rappen erliegen will, oder – in der Sprache des Abolitionismus – den Moment, in dem es sich entscheidet: All slaves or all free. (S. 360)

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Larsmo verschränkt also die Geschichte einer individuellen Befreiung seiner Hauptfigur aus drückenden sozialen Lebensumständen mit dem Kampf um die Sklavenbefreiung, und am Horizont erkennt man die Umgestaltung des vormodernen Schweden, das für die Armen nur Verachtung, Abhängigkeit, Ungerechtigkeit und Gewalt bereithielt. Das Ringen auf allen drei Schauplätzen wird als Akt der Selbstermächtigung dargestellt, womit der Abolitionismus sehr zu Recht nicht zu einer milden Gabe der Weißen an ihre ‚schwarzen Brüder und Schwestern‘ verkommt, vielmehr empört die Tatsache der Sklaverei als Angriff auf den Menschen an sich.

Etwa in der Mitte des Romans bricht Broady psychisch zusammen – nicht nur weil sich die USA als dieselbe Hölle wie Schweden herausstellt; er fühlt sich nun auch verantwortlich für den Tod seiner Frau und Tochter. Sein Freund George Hatt, ein gläubiger Baptist, der sich für die Ärmsten von New York engagiert und wie Broady selbst eine historisch verbürgte Person ist, tröstet ihn nicht etwa mit einem frommen Verweis auf das Jenseits; vielmehr will er ihn zum Aufstand gegen die Hölle motivieren:

Det är krig […], sade han. Det där mörkret han bär inom sig, som vill dra ned honom, det är fienden. Han tror att det som hänt honom var hans fel. Men det är ännu alls inte bestämt vad det som skett oss egentligen betyder. Den kampen är ännu inte avgjord. (S. 304)

Es ist Krieg […], sagte er. Das Dunkel, das du in dir trägst, das dich runterziehen will, das ist der Feind. Du glaubst, dass das, was dir passiert ist, dein Fehler wäre. Aber es ist noch überhaupt nicht entschieden, was das, was uns passiert ist, eigentlich bedeutet. Dieser Kampf ist noch nicht entschieden.

Einige Seiten später antwortet Hatt mit derselben Logik, als er auf die Situation der Sklaven in den USA angesprochen wird: „[D]u sade häromkvällen att detta var laglöst land. Men det är inte avgjort vilka vi skall vara. Så såg han upp mot mig och sade: det är det inte för någon av oss“ (S. 317 – „Neulich Abend sagtest du, dass dies ein gesetzloses Land sei. Aber es ist nicht entschieden, wer wir sein werden. Dann sah er auf zu mir und sagte: das ist es für niemanden von uns”). Als Broady dann gegen Ende des Romans den Dampfer sieht, der ihn zurück nach Schweden bringen soll, wird er von seinem Mitreisenden Edgren gefragt, was ihm in den Sinn kommt, wenn er an das Stockholm seiner Jugend denkt. Und er nennt eine Szene der schikanösen und brutalen Misshandlung von Kindern, die als Schiffsjungen angeheuert haben.

– Det är vad jag tänker på, sade jag. Edgren hörde skärpan i min röst, lade en hand runt min överarm och kramade till.

– Jag vet, Broady, sade han. Jag vet. Men vi reser hem med avsikten att bryta sönder det där bandet.

– Ja, sade jag. Hem. (S. 576)

Daran denke ich, sagte ich.

Edgren hörte die Schärfe in meiner Stimme, legte eine Hand um meinen Oberarm und drückte mich an sich.

– Ich weiß, Broady, sagte er. Ich weiß. Aber wir reisen mit der Absicht nach Hause, dieses Band zu zerreißen.

– Ja, sagte ich. Nach Hause.

Das persönliche Schicksal, die Sklaverei, die Demütigung der Armen und Ausgelieferten – Larsmo erzählt den Moment, in dem das Lamm den Kopf senkt und zum Gegenangriff übergeht.

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Doch wie kommt ein Mensch, der zu einem Zeitpunkt seines Lebens auch das Wenige verloren hat, das er besaß; der sich noch dazu selbst hasst, weil er meint, den Tod seiner Liebsten verschuldet zu haben; und der nun erlebt, wie ein Freund, weil er schwarz ist, entführt und wahrscheinlich zu Tode gequält wird, – wie kommt eine solche Existenz dazu, seinem individuellen und seinem sozialen Schicksal die Stirn zu bieten? Ein historisches – und damit per se fremdes – Leben plausibel zu erzählen, nennt Larsmo als eigentliche Herausforderung dokumentarischer Belletristik: „Wie nahe kann ich einem anderen Leben als meinem eigenen kommen – einem Leben, das unter so ganz anderen Bedingungen so weit entfernt und vor so langer Zeit gelebt wurde?“ („Hur nära kan jag komma ett annat liv än mitt eget – ett liv som levdes på så helt andra villkor så långt borta och för så länge sedan?“)[1]

Larsmo plausibilisiert den Wandel in der Selbstdeutung einer Existenz, der die Aussicht auf den Tod willkommener erscheint als das Weiterleben, indem er – wohl in Übereinstimmung mit den Selbstzeugnissen Broadys – auf das religiöse Muster der Bekehrung zurückgreift. Die Entscheidung zur Selbstermächtigung motiviert er also durch den Einbruch einer neuen Evidenz. Der Rückgriff auf dieses Muster widerspricht der Geschichte von der Selbstermächtigung nicht, wie man vielleicht meinen könnte. Denn im Muster der Bekehrung ist bereits eine Spannung angelegt, die sie als Kommunikationsakt unweigerlich besitzt: Wer nämlich wen bekehrt, ist auch im christlichen Paradigma nicht ausgemacht. Bekehre ich mich oder werde ich bekehrt? Wer hier Agens und wer Patiens ist, lässt sich – wie bei jeder Begegnung – nicht entscheiden. Diese Phänomenologie der Bekehrung macht die Öffnung einer abgeschlossenen Situation plausibel, die nicht in selbstbezügliche Innerlichkeit, dogmatische Abhängigkeit oder religiösen Fatalismus führt. Von Anfang an bindet Larsmo die Bekehrung, die er durch Broadys Stimme als Erfahrung des Gesehenwerdens beschreibt, an einen sozialen Aufbruch:

Ansiktet såg mig, dess blick sökte mig oavvänt. Jag log mot en äldre herre i sliten rock som steg av färjan, han nickade i samförstånd och försvann sedan i vimlet. Vi tillhörde nu samma hemliga sammansvärjning, alla på gatan och alla de som levde sina liv inne i husen deltog i ett stort och oavslutat byggnadsverk. The promised land. (S. 326)

Das Gesicht sah mich, sein Blick suchte mich unentwegt. Ich lächelte einem älteren Herrn in einem abgetragenen Mantel zu, der von der Fähre stieg, er nickte einvernehmend und verschwand dann im Gewimmel. Wir gehörten jetzt derselben heimlichen Verschwörung an, alle auf der Straße und all die, die ihre Leben in den Häusern lebten, nahmen an einem großen und unabgeschlossenen Bauwerk teil. The promised land.

Larsmos Roman arbeitet also an einer neuen Erzählung der Moderne, die bspw. in Hans Joas’ Sakralität der Person oder Charles Taylors Quellen des Selbst ihre soziologischen und philosophischen Äquivalente findet: Översten erzählt die Selbstermächtigung der Moderne nicht als ein per se säkularisierendes Ereignis und verlässt damit den narrativen Pfad, dem man in der europäischen Selbstverständigung das gesamte 20. Jahrhundert gefolgt war. In Knut Oscar Broady lässt uns Larsmo einem Menschen begegnen, den das religiöse Erlebnis nicht unter die Knute der Tradition und der etablierten Ordnung zurückzwingt, sondern zur Selbstermächtigung ermächtigt:

Det var märkligt […]. Det där var förunderligt […], hur lammet vunnit seger över den stora svarta hingsten. (S. 16)

Das war seltsam […]. Das da war verwunderlich […], wie das Lamm über den großen schwarzen Hengst gesiegt hatte.

Ola Larsmo: Översten. Roman, Stockholm: Kaunitz-Olsson, 2020.

(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)


[1] https://www.svtplay.se/video/28430013/babel/babel-sasong-32-stina-jackson-vanessa-springora-ola-larsmo

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