Drei Frauen, drei Städte, eine Familie

Cover des Romans "Övergivenheten" von Elisabeth Åsbrink

Elisabeth Åsbrink, 1965 in Göteborg geboren, ist in Schweden eine bekannte Autorin von Sachbüchern und Essays. Övergivenheten ist ihr erstes dezidiert literarisches Werk, ein autobiographischer Familienroman, wie sie selbst sagt. Frühere Publikationen (wie 1947 aus dem Jahr 2016, dt. 1947. Als die Gegenwart begann, 2018 und Orden som formade Sverige, 2018, noch nicht übersetzt) können eher historisch-dokumentarischen und journalistischen Genres zugeordnet werden. Auch die Thematik des Judentums in Schweden hat schon häufig eine Rolle gespielt, nicht zuletzt in dem Werk, das sie bekannt machte: Och i Wienerwald står träden kvar (2012, dt. Und im Wienerwald stehen immer noch die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden, 2016).

Der Titel benennt das zentrale Thema des Romans: Övergivenheten, auf Deutsch etwa: Verlassenwerden – eine Titelwahl, die zunächst hölzern anmutet. Auf Schwedisch klingt diese umständliche Wortbildung geradezu unbeholfen und schwerfällig – man kann auf die deutsche Übersetzung gespannt sein. In einem metanarrativen Selbstgespräch zu Beginn des Romans reflektiert die Erzählerin die Wahl dieses Titels:

Ursprungligen hade jag tänkt döpa denna bok till just Ensamheten. […] Min plan var att en gång för alla sätta namn på den skugga som följt mig genom livet. Jag ville definiera den, helt enkelt förstå, och det gick långsamt upp för mig att ensamheten snarare var ett symptom av själva sjukdomen, den var en följd och en konsekvens, och att jag därför måste byta namn på boken (S. 6).

Ursprünglich sollte dieses Buch Einsamkeit heißen. […] Mein Plan war, ein für alle Mal den Schatten zu benennen, der mich ein Leben lang verfolgt hat. Ich wollte ihn definieren, ganz einfach verstehen, und allmählich sah ich ein, dass Einsamkeit eher das Symptom einer Krankheit war, eine Folgeerscheinung und Konsequenz, und dass ich daher den Titel des Buches ändern musste.

Den Schatten der Einsamkeit zu ergründen und zu erforschen wird zum Motor des Romans. Bereits im ersten Satz, kraftvoll kurz und prägnant formuliert, bekommen die Leser*innen einen deutlichen Hinweis auf die Ursache der Einsamkeit. »Jag föddes flyktberedd. Innan jag ens var gammal nog att veta vad som hänt visste jag att det kunde ske igen« (S. 5, Seit meiner Geburt befinde ich mich in Fluchtbereitschaft. Noch bevor ich alt genug war zu wissen, was geschehen war, wusste ich, dass es wieder passieren konnte.) Wichtig ist nicht nur die Aufrufung einer Fluchtthematik, die den gesamten Roman durchzieht, sondern auch die Andeutung eines vererbten Traumas, gegen das sich die Erzählerin nicht wehren kann.

»Tre kvinnor, tre städer, en familj, av och med mig, Elisabeth Åsbrink.« (Drei Frauen, drei Städte, meine Familie und ich selbst, Elisabeth Åsbrink.) So lauten die ersten Worte des von der Autorin selbst eingelesenen Hörbuchs. Die drei Frauen sind die Erzählerin Katherine, Alter Ego der Autorin, auch K genannt, ihre Mutter Sally und ihre Großmutter Rita. Jeder von ihnen ist ein Romanteil gewidmet, der von einem Tag ihres Lebens in einer europäischen Stadt handelt: »Rita, London 1 december 1949« (Rita, London 1. Dezember 1949); »Sally + K, Stockholm 24 mars 1976« (Sally + K, Stockholm 24. März 1976); »Krigaren av förlorade minnen, Thessaloniki 29 april 2019« (Die Kriegerin der verlorenen Erinnerungen, Thessaloniki 29. April 2019).

London ist der Wohnort der Großmutter der Erzählerin, Stockholm wird zum Wohnort der Erzählerin Katherine/K und deren Mutter Sally, nachdem diese von ihrem Mann verlassen worden ist. Thessaloniki schließlich ist der Herkunftsort der jüdischen väterlichen Linie der hier erzählten Familiengeschichte. Gemeinsam ist den drei Protagonistinnen, dass ihre Schicksale auf verschiedene Weise mit dem Verlassenwerden, der Einsamkeit und dem Vergessen verknüpft sind. Doch geht es um »Övergivenheten« nicht nur im Hinblick auf familiäre Beziehungen, sondern auch im transnationalen historischen Kontext des Antisemitismus und der Shoah.

Was diesen Roman besonders erhellend und lesenswert macht, ist gerade die narrative Verflechtung dieser beiden Ebenen, der persönlichen und der überindividuellen. Åsbrink stellt dar, wie sich Geschichte in einer ständigen Pendelbewegung zwischen kleinem und großem Maßstab vollzieht, wie sich Privates und Öffentliches zueinander verhalten und unaufhörlich aufeinander einwirken.

So musste Ritas Beziehung zu dem Sepharden Vidal 20 Jahre lang verleugnet werden, vor allem vor dessen Mutter, die einer Ehe mit einer Nicht-Sephardin nie zugestimmt hätte. Sally verlässt ihr Geburtsland England, um Abstand zu ihrem Elternhaus, vor allem ihrem jüdischen Vater, zu bekommen. In Stockholm stürzt sie in eine tiefe Krise, als ihr Mann, ein jüdischer Emigrant aus Ungarn, sie verlässt. Ihre Tochter Katherine, die stark unter der Trennung ihrer Eltern leidet und als erst Zehnjährige für die eigene Mutter Elternfunktion übernehmen muss, macht sich als Erwachsene auf den Weg nach Thessaloniki und somit auf Spurensuche nach ihrem sephardischen Ursprung.

Auch im zweiten Teil des Romans, in dem Sally die Protagonistin ist, wird die Beziehung zwischen Mutter und Tochter auf treffsichere Weise verbildlicht. Nachdem Sallys Mann die Familie gemeinsam mit den beiden ältesten Töchtern verlassen hat, lebt Sally allein mit ihrer jüngsten Tochter Katherine, K genannt. Erzählt aus der Perspektive des Kindes K wird der Alltag zu einem ständigen Kampf gegen die Angst, die Mutter durch Selbstmord zu verlieren, und bestimmt von Ks unermüdlichem Bemühen, dies zu verhindern. Ein Teil ihrer Bemühungen besteht darin, dass K bestimmte Wörter sammelt und sortiert. Sie stellt sich vor, dass sie in ihrem Gehirn zwei Kammern eingerichtet hat, die eine für gefährliche und die andere für ungefährliche Wörter. Darüber hinaus gibt es noch einen imaginären Tresor, in dem »det otänkbara ordet«, das undenkbare Wort, verwahrt wird: Vater. Denn »[a]tt använda det otänkbara ordet är som att falla ned i den bottenlösa skuggan i en kastiliansk ravin, eller att kastas i elden levande«. (S. 113, Das undenkbare Wort zu benutzen, ist als fiele man in den bodenlosen Schatten einer kastilischen Schlucht oder als würde man lebendig ins Feuer geworfen.) Das Kind K ist ständig damit beschäftigt, die Stimmungen ihrer Mutter auszuloten, um deren Absturz in die Depression zuvorzukommen. Unablässig folgt sie dem Blick der Mutter – »Om de till exempel passerar ett par som håller varandra i hand kan slukhålet öppna sig« (S. 150, Wenn sie zum Beispiel an einem Paar vorbeikommen, das sich an den Händen hält, kann sich ein Abgrund auftun.) Die Beziehung zur Mutter wird prägnant zusammengefasst in dem Satz: »Ers majestet. Ni är ett moln. Jag är er ständige meteorolog«. (S. 144, Eure Majestät, Sie sind eine Wolke, ich bin Ihr ständiger Meteorologe.)

Der dritte Teil der Handlung wird ebenfalls aus Ks Perspektive dargestellt, doch nun als Erwachsene. Das Kürzel K hat inzwischen eine neue Bedeutung erhalten, es steht jetzt für »krigare« (Kriegerin). K ist nun auf dem Kriegspfad, ausgerüstet mit einer unsäglichen Wut über das Vergessen. Vor allem in diesem Romanteil wird der historische Kontext in die Spurensuche nach Ks Herkunft einbezogen. Die Vorfahren des Großvaters, Sepharden aus Kastilien, waren Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertrieben worden und fanden in Thessaloniki, damals dem osmanischen Reich zugehörig, eine Zuflucht. Als K als Erwachsene der Geschichte ihrer Familie nachforscht, stößt sie zunächst auf Schweigen und Vergessen. Die einzigen Spuren, die sie findet, sind die Grabsteine des zerstörten jüdischen Friedhofs, die zu Baumaterial für Böden in öffentlichen Räumen umfunktioniert worden sind. Tagtäglich wird nun auf den eingemeißelten jüdischen Namen herumgetrampelt. Ein ergreifendes Beispiel für eine Form des Vergessens, die Aleida Assmann »defensives und komplizitäres Vergessen zum Schutz der Täter« nennt (Formen des Vergessens, 2016, S. 53). Die Gewalt des Holocaust setzt sich in einer zynischen Geste fort, in einer Verweigerung der Anerkennung und in einem sabotierten Erinnerungsakt.

Åsbrinks Erzählinstanz gibt den verschiedenen Stimmen aus drei Generationen in einer deutlichen erzählerischen Struktur Ausdruck. Wie ein umschließender Bogen leitet ein erzählendes Ich den Roman ein und beendet ihn. Der erste Satz lautet »Jag föddes flyktberedd« (Übersetzung s.o.) und der letzte »Jag förlåter inget« (S. 313, Ich verzeihe nichts). Innerhalb dieser Klammer wird den Perspektiven der drei Figuren Raum gegeben. Der erste Teil wird intern durch Rita fokalisiert, Sally wird dagegen aus der Perspektive ihrer Tochter K geschildert und K, die Kriegerin, tritt im letzten Teil wiederum mit interner Fokalisierung auf. Diese Struktur betont die Mehrstimmigkeit und die Kollision unterschiedlicher Aktualisierungen von Erinnerung. Komplexität wird durch die gegenseitigen indirekten Kommentierungen und die Verflechtungen zwischen der Familiengeschichte und den historischen Ereignissen geschaffen. Durch intertextuelle Bezugnahmen entsteht eine weitere überindividuelle Ebene, wobei sich die Anwendung des Namens K nahezu aufdrängt: K bezeichnet sowohl das Kind als auch die Erwachsene Katherine. Sie hat sich in einem kafkaesken Labyrinth verirrt, in ihren unablässigen Versuchen, etwas Unmögliches zu verstehen und zu kontrollieren, das Kind in dem steten Bemühen, die Mutter vor sich selbst zu schützen, und die Kriegerin K in ihrem hoffnungslosen Bestreben, verlorene Erinnerungen zurückzuholen.

Markierte Spracharbeit

Die Sprache der Erzählinstanzen ist geprägt von metaphorischem Reichtum. Immer wieder gelingt es, das Gefühl der Vereinzelung durch eindringliche Wortbilder zu veranschaulichen, wie in dem folgenden Beispiel, in dem die Leser*innen die Kühle des dargestellten Raums fast körperlich nachvollziehen können: »Den [ensamheten] stod mellan oss som luftpelare. Våra steg ekade som om vi omgavs av marmor. Våra hjärtan slog som om de krossats« (S. 6, Die Einsamkeit stand zwischen uns wie Luftsäulen. Unsere Schritte hallten wider, als wären wir von Marmor umgeben. Unsere Herzen schlugen, als wären sie zerbrochen.) Trotz der thematisierten Affekte wahren viele Metaphern eine analytische Distanz und entsprechen auf diese Weise einem sezierenden Blick auf die Erinnerungen der Figuren.

Das symbolische Potential von Personennamen, die während der Migrationsprozesse oft einem Wandel unterworfen sind, wird effektvoll herausgearbeitet, wie die Schilderung der ersten Begegnung von Rita und Vidal verdeutlicht. Rita und Vidal stellen fest, dass sie etwas gemeinsam haben, denn ihre Vornamen werden immer wieder falsch geschrieben: Rita wird zu Rida und Vidal wird zu Vital. Nun entdecken sie, dass sie alles ‚richtigstellen‘ können, sobald sie nur einen Buchstaben miteinander tauschen. Diese symbolische Verbundenheit prägt ihre Beziehung ein Leben lang.

Ein qualvoller Schreibprozess

In einem Interview berichtet Åsbrink aufschlussreich über den Schreibprozess (https://www.youtube.com/watch?v=aZkh6RmdcQk, Judisk kultur i Sverige. Live med Elisabeth Åsbrink: Övergivenhet – ett samtal med Jonas Eklöf, 20210328). Ihr ganzes Leben lang habe sich dieses Romanprojekt angebahnt und immer wieder ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, bis endlich ein Schlüsselereignis dazu führte, das Vorhaben umzusetzen. Im Jahre 2011 weilte sie im Rahmen ihrer Recherchen in London. Dort stieß sie auf das Dokument, das ein Familiengeheimnis enthüllte: Ks Großvater, Vidal, hatte Rita erst 1949, ganze 20 Jahre nach der Geburt von Ks Mutter Sally, geheiratet. Ritas Anerkennung in Vidals Familie blieb also ‚ausgesetzt‘ und wurde erst nach dem Tod von Vidals Mutter möglich.

Ambivalente Gefühle und Schreibqualen, so Åsbrink, begleiteten die Arbeit am Manuskript, so dass sie zunächst nur in Fragmenten erzählen konnte. Wie sollte die Fiktionalisierung der historischen Materialien erfolgen? Fortwährend machte sich ein ethisches Dilemma bemerkbar: Wieviel darf über die authentischen Personen enthüllt werden? Åsbrink hatte ihrer Großmutter ein Denkmal setzen wollen, doch mit welchem Recht? Die Antwort auf diese Frage findet sich gerade in der Thematisierung des Außenseitertums und der Anregung, diese auch auf andere diskriminierte Gruppen zu transferieren. Dieser Roman ist ein weiteres Beispiel für Literatur, die das Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität auslotet, und Åsbrink gestaltet diese Wechselbeziehung sprachbewusst und mit erzählerischer Sensibilität.

Ich habe diesen Roman zunächst als Hörbuch kennengelernt. Charakteristisch für die Aufnahme dieses Hörbuchs ist, dass die Autorin selbst liest und daher über Pausen, Akzente und Satzmelodie entscheidet (Hörprobe unter https://www.storytel.com/se/sv/books/%C3%B6vergivenheten-927151). Die kompositorischen oder erzählperspektivischen Anweisungen, die mit dem Layout und den typographischen Gliederungssignalen – wie Kapitel- und Absatzeinteilung, Rubriken, Punkte, Kommata, Ausrufezeichen, Klammern, Groß- und Kleinschreibung usw. – einhergehen, sind vor allem für den Rhythmus der Buchfassung wichtig. Der Einsatz von Åsbrinks Stimme in der Hörbuchfassung verleiht dem Roman eine weitere narrative Dimension: Åsbrink positioniert sich während der Lesung selbst zum Text. Dies verstärkt die autobiographische Lesart und dient als eine Vergewisserung der Authentizität.

Elisabeth Åsbrink: Övergivenheten. Roman, Stockholm: Bokförlaget Polaris, 2020.

(Christine Farhan, Södertörns högskola, Stockholm)

Dieser Beitrag wurde in Schweden veröffentlicht und getaggt , , . Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Sowohl Kommentare als auch Trackbacks sind geschlossen.