Mit dem Roman Hilde (2019), der auf mindestens zwei Ibsen-Dramen basiert, zeigt der schwedische Autor Klas Östergren, der in den 1970er Jahren debütierte, neue Facetten. Sein Projekt erklärt sich vor allem durch seine Vertrautheit mit Ibsens Dramen, die er während der letzten Jahrzehnte vom Norwegischen ins Schwedische übersetzt hat. Hilde geht in das interskandinavische Literaturprojekt IBSEN NOR 2019 ein, bei dem drei Verlage kooperiert haben (Natur & Kultur in Schweden, Rosinante in Dänemark und Oktober in Norwegen). Da Hildes Lebenslauf bis ins Alter verfolgt wird, lässt sich Hilde als Sequel bezeichnen, während sich der Roman Nora der dänischen Kollegin Merete Pryds Helle als Prequel von Ibsens Et Dukkehjem über Noras Kindheit und Jugend qualifiziert. Der norwegische Beitrag Henrik Falk stammt von Vigdis Hjorth und verarbeitet mehrere Werke Ibsens in einer Handlung, die in der Gegenwart angesiedelt ist, wobei seine männliche Titelfigur eine Variante von Hedda Gabler verkörpert.
Östergrens beständige intensive Textarbeit ermöglicht es ihm, die beiden für seinen Roman maßgeblichen Dramen Die Frau vom Meer (Fruen fra havet 1888) und Baumeister Solness (Bygmester Solness 1893) zusammenzuflechten und auszubauen. Weitere Motive und Handlungselemente aus anderen Ibsen-Dramen werden mit leichter Hand in die Sozialgalerie und die Szenographien eingespeist. Die Handlung von Hilde setzt in den 1920er Jahren ein, Schauplatz ist Berlin, wo Hilde Wangel in Herrn Dabers Agentur für Skandinavien-Reisen arbeitet, als typische Angestellte und ‚neue Frau‘, zugleich auch als Reiseleiterin für deutsche wanderlustige Nordlandtouristen. Im Lokal „Schleusenkrug“ im Tiergarten ereilt sie beim Sonntagstee eine Panikattacke, deren mehrmaliges Auftreten sie bald dazu veranlasst, sich in therapeutische Behandlung zu begeben. Hildes Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Lysanger, aber auch an ihren Besuch beim Stararchitekten Solness, der erst wenige Jahre zurückliegt, vertraut sie während der Redekur ihrem Analytiker Dr. Liebig an. Während dieser Handlungseinheit dominiert Hildes Perspektive, zum einen in ihren Monologen auf der Couch, die dem Text ein szenisches Gepräge geben, zum anderen vermittelt über einen männlichen Erzähler (in erlebter Rede). Das psychologische Fundament für diese interne Fokalisierung stellen Die Frau vom Meer und Baumeister Solness bereit, die paraphrasiert bzw. ausgelegt werden.
Im zweiten Teil des Romans erfahren die Lesenden vom Erzähler, der nun auf pseudo-dokumentarische Weise unterschiedliche Quellen über die Protagonistin miteinander in Beziehung bringt, wie sich Hildes Werdegang nach ihrer Rückkehr zur Familie in Norwegen gestaltet. Eine psychoanalytische Publikation von Dr. Liebig wird ausgewertet, Hildes Briefe an ihre Schwester Bolette resümiert, die sie während des Berlin-Aufenthalts geschrieben hatte, und Schilderungen aus dem skurrilen Büchlein Tante Hilde (verfasst von einem Neffen) eingearbeitet. Hildes Neffe verteidigt seine originelle Tante, die nicht nur wegen ihres freizügigen Lebenswandels, sondern auch durch ihre Kontakte zu Nationalsozialisten – in Norwegen und Berlin – ihren Ruf ruiniert hatte.
Das Substrat
Die umfangreiche Figurengalerie macht es beinahe erforderlich, die beiden Ibsen-Stücke zu kennen. Das Drama Die Frau vom Meer, dessen Titel auf Hildes Mutter Ellida Wangel referiert, stimmt auf die sinnliche Idealisierung des Meeres in Hilde ein und gestaltet den suggestiven Kontrast von provinzieller Vernunftehe und dem dramatischen Liebesschwur, der Ellida mit einem mysteriösen Fremden verbindet, dessen blaue Augen hypnotische Wirkung haben. Hildes vertrauliche Beziehung zu ihrer Schwester Bolette wird nur durch die Kenntnis des Dramas nachvollziehbar. Ihre präzise Beobachtungsgabe schon als Kind, ihre vorlauten, treffenden Kommentare und ihre Verachtung für langweilige, antriebsarme Männer, die Schwäche zeigen, sind zum Erscheinungszeitpunkt des Dramas provokant und heute noch erstaunlich. Dass eine Figur wie Hilde von einem Drama ins andere wandert, ist eine Ausnahme in Ibsens Werk.
Mit der einsetzenden Handlung von Ibsens Baumeister Solness ist ein Jahrzehnt verstrichen. Hilde sucht das Ehepaar Solness auf, nachdem sie von einer Hüttenwanderung zurückgekehrt ist. Gleich nach ihrer Ankunft weist Hilde auf die schmutzige Wäsche in ihrem Rucksack hin, die dringend gewaschen werden müsste. Sie erinnert Solness an ihre gemeinsame Begegnung nach einem Richtfest in Lysanger. In einem intimen Gespräch habe er ihr damals ein Königreich versprochen und versichert, dass sie diese Belohnung als Erwachsene von ihm erhalten würde. Die schmutzige Wäsche deutet an, dass die zurückliegende Begegnung keineswegs unschuldig war. Hilde muss Solness’ Erinnerung dann durch ihre Darstellung der Begegnung auf die Sprünge helfen, wodurch Ibsens Drama im Vagen belässt, ob es zu einem Übergriff gekommen war oder ob eine pädophile Szene im Nachhinein gemeinsam imaginiert wird. Die Feststellung von Solness und Hilde, dass sie ähnliche Wunschphantasien hegten und ähnliche Alpträume (vom Fallen) erlebten, stellt im Drama die Seelenverwandtschaft heraus. Östergrens Roman hebt dagegen auf eine gemeinschaftliche Handlung ab, so als sei es nun Zeit, das ‚um(ge)schriebene‘ Skandalon freizulegen oder neu zu perspektivieren. Möglicherweise interpretiert er dabei Ibsens Drama unter den Vorzeichen der Me too-Debatte sowie unter dem Eindruck der Skandale an der Schwedischen Akademie, die Östergren 2018 im Protest verließ.
In Östergrens Roman hat Hilde seit den Kindertagen nicht aufgehört, den Baumeister zu bewundern, sie spricht sogar von Verliebtheit und lobt seine „malmklingande stämma[…]“ (wie Erz tönende Stimme, S. 89). Hilde sucht den alternden Solness nicht etwa auf, um sich zu rächen oder um mit dem verstörenden Erlebnis abzuschließen, sie verführt ihn zu einer exzessiven Geste und schließlich zum Tod durch den Absturz vom selbst entworfenen Turm. Im dramatischen Ausgangstext wird der erste Turmaufstieg Solness’ lediglich aus Hildes Erinnerung geschildert. Im Roman Hilde findet die Turmszene zwei Mal statt, einmal in den Kindheitsjahren in Lysanger am Meer, kurz bevor es in der Bibliothek von Doktor Wangel zum mutmaßlichen Übergriff kommt, ein weiteres Mal, als Hilde als 20-jährige Reiseleiterin einen Abstecher zu Halvard und Aline Solness macht. Sie wird als vitale und charismatische Frau charakterisiert, mit einer Erscheinung, die an das bekannte farbintensive Gemälde des dänischen Malers Jens Ferdinand Villumsen von einer Bergwanderin erinnert. (Die raumgreifende und lichtumflutete Gestalt inkorporiert die vitalistische Überwindung von Fin de siècle und Dekadenz.) Als in Östergrens Roman Hilde den alten Solness animiert, trotz seiner Höhenangst auf den Turm seiner neu errichteten Villa hinaufzugehen, erlebt sie seinen Aufstieg und ihre manipulative Intervention als lustvoll und erhaben. Abermals bejubelt Hilde ihr Idol, abermals meint sie, himmlische Harfenklänge zu vernehmen, als Solness die Turmspitze erreicht hat. Mit seinem Fall aus großer Höhe wird zugleich das unmögliche Liebesverhältnis von Hilde und Solness beendet. Nach dem Begräbnis kümmert sich Hilde um die Witwe und stellt einen kompetenten Nachfolger ein, dies ist die erste markierte Abweichung vom Ibsen-Drama.
Hilde ist bei Östergren nicht etwa Opfer, sondern sie behauptet sich, indem sie die Weichen für die Lebenswege anderer Menschen stellt, konstruktiv oder aber als eine Anleitung zum Scheitern. In Hilde wird leitmotivisch eine eigene Formulierung für ihr manipulatives Vorgehen verwendet: „fingra på andra öden“ (am Schicksal anderer herumfingern). Ihr eigener Werdegang ist davon ausgenommen; Hilde verhält sich bei Östergren eher wie eine Drifterin, die sich denjenigen Unentschiedenen anschließt, die auf ihre Intervention nur zu warten scheinen. Scheitern die Manipulierten infolge ihrer Einflussnahme, schaut Hilde niemals zurück. Sie hat, wie bereits bei Ibsen betont wird, ein „robustes Gewissen“ – bei Östergren ist dies ein Euphemismus für Hildes Skrupellosigkeit. Wenn eine Sache „spannend“ ist, will Hilde an ihr teilhaben, so nahe am Geschehen sein wie nur möglich, obgleich grenzüberschreitende Erfahrungen allein den Männern in ihrem Kreis vorbehalten sind und die großen Gefühle bloß stellvertretend und nicht von Hilde selbst erlebt sind.
Suggestive Zeichendeutungen
In den Kapiteln über Hildes psychoanalytische Sitzungen werden die Lesenden dazu angeregt, Zeichen zu deuten und detektivisch herzuleiten, welches Trauma auf welche Weise umschrieben sein mag. So könnten sie nach der Romanlektüre etwa vermuten, dass Hilde bei ihrem Berliner Sonntagsausflug mit der Farbe Blau konfrontiert wurde und sich deshalb bedrohliche Erinnerungen freisetzten. Vielleicht lag es aber auch am Teefleck, der auf Hildes meeresblauer Bluse zurückbleibt, der einem dunklen Mal ähnelt, das ein Junge aus Lysanger auf der Stirn trug, der in tragische Ereignisse verwickelt war. Hilde hatte ihn dazu angestiftet, über eine Schlucht zu springen, wobei der Junge verunglückt war und lebenslange Schäden davontrug. Eine ambivalente Ästhetisierung bzw. Erotisierung von Gewalt zeichnet sich ab, als Hilde auf Solness’ Grundstück erlebt, wie ein muskulöser Bauarbeiter einen Granitbrocken spaltet. Beim ersten Schlag, nämlich dem Setzen eines der Spaltpunkte, hat das Kind Hilde sogar selbst mitgeholfen. Kurz nach der Spaltung steigt aus der Kluft ein Geruch von Meer und Tang auf, „ännu ett av tillvarons mysterier“ (ein weiteres Mysterium des Daseins, S. 97).
Alles was im Roman berichtet wird, speist sich aus heterogenen Texten und Quellen, auch über die Ibsendramen hinausgehend. Das Angewiesensein auf Texte bleibt den Lesenden von Östergrens Roman ständig bewusst. Dies wird ein weiteres Mal betont, als die intime Annäherung im Rahmen des Couchgesprächs erinnert wird: die Begegnung von Solness und Hilde findet nämlich in der Bibliothek von Hildes Vater statt. Gegen das Regal gedrückt, in dem die medizinische Fachliteratur des Arztes Dr. Wangel verwahrt ist, wird das Mädchen von Solness bedrängt. Das verstörende Erlebnis selbst jedoch bleibt ‚um-schrieben‘ oder in bildhafte Vergleiche eingesponnen. Während Hildes Erinnerungsarbeit wird der Vorfall allmählich auf Abstand gebracht, umgewichtet und verzerrt: „När jag kom in där en dag såg jag att böckerna på hyllan där Solness tryckt sig mot mig fortfarande stod inskjutna så att det bildades en liten rund inbuktning efter mitt huvud.” (Als ich eines Tages die Bibliothek betrat, sah ich, dass die Bücher, vor denen sich Solness an mich gedrückt hatte, im Regal immer noch zurückgesetzt standen, mein Kopf hatte eine rund geformte Einbuchtung hinterlassen, S. 102) Hilde korrigiert die Position der Bücher im Regal, weil sie doch weiß, dass ihr Vater es schätzt, wenn die Schriften präzis auf Kante gereiht sind. Mit diesem Schritt ordnet sie sich der patriarchalischen Gewalt unter und versucht fortan, in einer Allianz mit den handlungsmächtigen und übergriffigen Männern eine kompensatorische Handlungsmacht zu gewinnen. In welchem Maße Hildes Couchbekenntnisse unzuverlässig und lückenhaft sind, zeigt sich daran, dass sie den damaligen Vorfall durch die klar erinnerten Abbildungen in den Medizinzeitschriften ‚verschandelt‘ wähnt, da diese Krankheitssymptome und Missbildungen darstellten: „Allt blev liksom besudlat av störande kunskap.“ (Alles wurde gleichsam von störendem Wissen besudelt, S. 146).
Dass Hilde während ihres gesamten Lebens sehr an Solness’ Anerkennung gelegen blieb, zeigt die Episode über den künstlerischen Austausch der beiden, bei dem sich schon das Mädchen Hilde auf Augenhöhe wähnte. Sie zeigte ihm einst die eigenen Kinderzeichnungen von Gebäuden mit hohen Türmen, die den Baumeister womöglich sogar architektonisch inspiriert hatten: „Halvard Solness satte sig frimodigt på trappan till verandan, och jag fick sitta bredvid honom och berätta hur jag tänkt mig det hela. Han nickade, liksom godkännande, som om han inte alls talade med ett barn, en okunnig unge. Jag fick känna mig liksom vuxen.” (Halvard Solness setzte sich ganz unbefangen auf die Verandatreppe, und ich durfte neben ihm sitzen und erzählen, wie ich mir das alles gedacht hatte. Er nickte, anerkennend, gar nicht als ob er mit einem Kind sprechen würde oder mit einem unbedarften Wesen. Ich fühlte mich irgendwie erwachsen, S. 90).
Satirische Hakenschläge
Der Roman kombiniert unterschiedliche Perspektiven und Textsorten, und durch Hildes derbe Ausdrucksweise und ihre schwankende Orthographie in ihren zitierten Briefen wird die ‚Bejahung der Tat‘ auf die Ebene des Alltäglichen heruntergebrochen. In der Darstellung von Hildes Beziehung zum Geologen Jørgen Friel setzt sich das satirische Element vollends durch. Als Hilde ihren Verlobten für die Teilnahme an einer Amundsen-Expedition trainiert und dabei sogar ihre berüchtigten Kochkünste zum Einsatz bringt, um haltbaren Proviant herzustellen, kommt es zu einem Fiasko: „Han åt, grät och förtvivlade.“ (Er aß, weinte und verzweifelte, S. 273) Abgesehen von Hildes mangelndem kulinarischen Talent erweist sich Jørgen ohnehin als Expeditions-untauglich. Hildes lässiger Auftritt am Grunewalder FKK-Strand sorgt ebenfalls für eine heitere Episode. Historische Persönlichkeiten oder Figuren, die nach eben solchen modelliert zu sein scheinen, wie etwa Hildes Freundin, die an die Malerin und Repräsentantin der ‚Neuen Frau‘ Lotte Laserstein erinnert, tummeln sich einvernehmlich in den drei letzten Kapiteln und ersetzen phasenweise die Ibsen-Figurengalerie. Durch die Familie ihres Verlobten gerät Hilde in die politische Nähe von Nasjonal Samling, der nationalsozialistischen norwegischen Partei. An der Seite des ich-schwachen Geologen Jørgen, der im völkischen Denken den Halt und die Männlichkeitskonzepte wiedergefunden hat, die ihm nach seinen gescheiterten Expeditionsplänen abhandengekommen waren, verhält sich Hilde einmal mehr ohne jegliche Bedenken. Der Entdecker und Skifahrer Fridtjof Nansen und der Bildhauer Gustav Vigeland sind Hildes Idole. Ein Künstler des Modernen Durchbruchs wie Bjørnstjerne Bjørnson – und damit auch ein Autor wie Ibsen – ist Hilde zufolge nur noch etwas für ältliche Langweiler wie den Lehrer Arnholm, der mit ihrer Schwester, der vernünftigen Bolette verheiratet ist.
Das satirische Paradestück des Romans besteht in einer Art Ibsen-Quiz. Dr. Liebig befragt Hilde nach ihrer Einschätzung zu Konfliktsituationen, die der Psychoanalytiker anhand von Ibsen-Dramen illustriert, ohne dies anzugeben. Im Gespräch teilt Hilde mit, dass sie sich mit der wechselfälschenden Ehefrau (Nora) solidarisiert, dass sie für ein Festhalten an Lebenslügen sei (Die Wildente), dass sie das ärztliche Ethos des Arztes begrüßt, der einen Giftskandal aufdeckt (Der Volksfeind), bevor sie, befragt zu einem Konflikt à la Hedda Gabler, ausbricht: „Hon som sköt sig? Den har jag hört!“ (Die sich erschossen hat? Die Geschichte kenne ich! S. 223-224). Ein Selbstmord sei laut Hilde dem tatenlosen Dahinwelken klar vorzuziehen. Das Hedda-Thema erhält von ihr das Prädikat „Verkligen spännande“ (wirklich spannend, S. 225).
Ein weiteres besonderes Lesevergnügen bietet das erstaunliche Fallbeispiel von Hilde als „Porzellanfrau“, denn Dr. Liebig vollführt den Trick, die Darstellung einer Miniatur-Landschaft mit mehreren Hirtenszenen auf einem blau bemalten Teller zu ergründen. Mit Hilfe dieser Mikrostudie kann er seine Fallstudie vollenden und dank Hilde einen wichtigen Karriereschritt setzen. Seine Patientin hatte ihm anvertraut, dass dieses Sonntagsservice daheim in Lysanger bei ihr stets Ekel und Nahrungsverweigerung ausgelöst hatte. Die arkadische Szenographie wird mit absurder Präzision untersucht (S. 228-232), wobei Liebig schließlich entdeckt, dass sich eine männliche Gestalt heimtückisch an eine junge Frau heranschleicht, die am Meeressaum kniet. Dieses Geheimnis, das Erkennen einer lauernden Gefahr, sei Liebig zufolge lebenslang unter Hildes ‚Glasur‘ verborgen geblieben, bis diese Versiegelung bei den Panikanfällen durchlässig geworden sei. Der Erzähler bringt später in Erfahrung, dass Hilde den entscheidenden Teller bei einem Wutanfall über den mangelnden Sportsgeist ihres Verlobten Jørgen zerschlägt. Die potentielle symbolische Aufladung des Geschirrs wird dadurch allerdings nicht in Frage gestellt, sondern eher der Umstand betont, dass weder Liebig noch Hilde selbst einen verlässlichen Schlüssel zum Trauma finden können. Als Liebig seine Patientin noch einmal sehr konkret zum Vorfall in der Bibliothek befragt, wird Hilde von der Farbe Blau schier überflutet, bricht die Behandlung ab und reist fluchtartig nach Norwegen zurück.
Der Roman liefert ein aufschlussreiches, mentalitätsgeschichtliches Epochenprofil. Hildes Vitalismus und derjenige der (männlichen) Pioniere, Entdecker, Forscher und sich selbst überhöhenden Künstler – steht in einem Spannungsverhältnis zum psychoanalytischen Plot von Hilde. Der vitalistische Ich-Kult und die Entmachtung des Subjekts in Freuds Erklärungsmodell sind sowohl paradox erscheinende als auch einander bedingende Phänomene. Hilde selbst geling es kaum, Zugang zu ihrem Innersten zu finden oder ‚Herrin im Haus‘ zu werden. Dagegen sind Therapeuten, Zeitzeugen, Biographen oder Literaten vermeintlich eher in der Lage, einen Blick auf das Verdrängte zu erhaschen. Eine weibliche Berichterstattung oder Überlieferung zu Hildes ‚Künstlerinnenbiographie‘ gibt es nicht. Es scheint, dass diese bestehende Lücke Hilde dazu veranlasst, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, da sie Dr. Liebig den Titel „Der Fall H“ für seine Studie vorschlägt (vgl. S. 297).
Mit einer Anleihe bei E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, als nämlich „der hohe Ratsturm […] seinen Riesenschatten über den Markt“ warf, kurz bevor Nathanael dem Wahnsinn verfällt, gelingt es dem Erzähler, in den letzten Sätzen ein intertextuelles Monument für Hilde zu errichten. Zugleich wird eine Aussage über das Verhältnis von Literatur und Psychoanalyse getroffen.
På vintern, när solen står som lägst, blir alla skuggor mycket långa, så som de alltid blir, vintertid, uppe i norr. Kyrktornets skugga är minst ett hundra meter lång, varvid spetsen på Solness skapelse kan fälla en mörk strimma över namnen på föräldrarnas gravsten. Men den når aldrig fram till ’Hilde Wangel’, hugget i en opolerad vård av granit, full av hav. (S. 299)
Im Winter, wenn die Sonne am tiefsten steht, werden die Schatten sehr lang, wie immer zur Winterzeit im Norden. Der Schatten des Kirchturms ist mindestens hundert Meter lang, wobei die Spitze von Solness‘ Bauwerk einen dunklen Streifen über den Namen der Eltern auf dem Grabstein werfen kann. Doch die Inschrift ‚Hilde Wangel‘, in einen rohen Granitblock gemeißelt, der das Meer enthält, wird er nie berühren.
So wie „Der Sandmann“ zu einem Schlüsseltext Freuds für das „Unheimliche“ wurde, können die beiden Ibsen-Dramen als ein Fundament der übermütig fabulierenden, literarischen Psychoanalyse Östergrens gelten. Zugleich bestätigen sich die literarischen Erkenntnismöglichkeiten der Ibsen-Dramen selbst, unabhängig von den vielfältigen und widerstreitenden Deutungen der Nachwelt. Die tatendurstige Hilde behält im Roman zumindest symbolisch das letzte Wort.
Klas Östergren: Hilde. Roman, Stockholm: Natur och Kultur, 2019.
(Antje Wischmann)