Prekär am Ende der Welt

Stark bestrahlte Räumlichkeiten leuchten uns entgegen. Raum im Raum im Raum… Das Licht ist so grell, dass nicht mehr erkennbar ist, was sich im Zentrum all dieser Räume befindet. Die einzigen klar definierten Elemente stehen in der Mitte des Covers: „Viggo Bjerring“ und „Verdenshjertet“. Nach der Novellensammlung Balancekatten („Die Balancekatze“) und dem Kurzroman QWERTY (beide 2016) erschien bei Ekbátana Viggo Bjerrings Debütroman Verdenshjertet (2021; „Das Weltenherz“), in dem wir das Leben des in prekären Arbeitsverhältnissen gefangenen 32-jährigen Mads im Kopenhagen einer nahen Zukunft verfolgen.

Eines Tages findet Mads auf der Online-Plattform EasyJobs einen gut bezahlten Auftrag, der darin besteht, einen Kriminalroman zu redigieren. Dieser wird zum Bestseller und die Auftraggeberin Ane Svendsen bietet Mads an, eine Fortsetzung zu verfassen. Ane Svendsen, eine Literaturagentin, wie sich herausstellt, benötigt für den zweiten Band lediglich 80 Seiten, die dem Text eine menschliche Prägung verleihen. Der Rest des Romans wird von einem Algorithmus verfasst. Mads reist um der Inspiration willen nach Berlin, wo er die ersten unerklärlichen Erfahrungen macht. Per Post erhält er ein mysteriöses Foto, das in der ehemaligen NSA-Abhörstation vor Jahrzehnten aufgenommen wurde. Entschlossen, den auf dem Foto abgebildeten Ort aufzusuchen, begibt er sich in den Grunewald. In den Ruinen der ehemaligen Station bemerkt er einen regelmäßigen Schlag, der an ein Herz erinnert. In der Dunkelheit kann sich Mads nicht mehr auf sein Sehvermögen und das Foto in seiner Tasche verlassen. Die einzige Orientierungshilfe bieten ihm die mechanischen und verführerischen Rhythmen des schlagenden Herzens. So wie Marlow in Joseph Conrads Heart of Darkness (1899), vom Trommelschlag berauscht, einem Zustand der abgestumpften Sinneswahrnehmung und Schläfrigkeit verfällt, tappt Mads im Dunkeln und geht den ohrenbetäubenden Geräuschen nach. Während Marlow, vom mythologischen Bild des Mr. Kurtz angetrieben, sich diesem immer weiter nähert und ihn schließlich machtlos im Gras liegend vorfindet, fällt Mads in Ohnmacht und wacht erst zwei Wochen später in seiner Berliner Wohnung auf. Was in dieser Zeit geschah, bleibt sowohl ihm als auch den Lesenden verborgen.

Als Mads seinen Laptop aufklappt, bemerkt er, dass er in diesen zwei Wochen bei seinem Romanprojekt vorangekommen sein muss. Die neuen Passagen („fremmedteksten“ S. 149 – „der fremde Text“) erscheinen ihm jedoch merkwürdig. Er erinnert sich nicht daran, sie geschrieben zu haben, obwohl darin, wenn auch deutlich dramatisiert, seine innersten Kindheitserinnerungen und Traumata geschildert werden. In diesen Passagen erfahren wir unter anderem, dass Mads höchstwahrscheinlich im jungen Alter seine Mutter verlor. Durch die höchst persönlichen Schilderungen aus Mads’ Leben, der hier trotz der berechtigten Zweifel als Urheber der Passagen gelten soll, wird eine starke Identifizierung der Leser:innen mit ihm hervorgerufen. Die Sprache wird poetischer, plötzlich wird im Präsens erzählt, und wir beobachten den jungen Ich-Erzähler aus unmittelbarer Nähe. Nach diesem stilistischen Wechsel befinden sich die Lesenden in derselben Position wie Mads: im Unklaren darüber, wer was wann schrieb. Wer, wenn nicht Mads selbst, könnte imstande sein, seine persönlichsten Erinnerungen wiederzugeben? Die verlorene Kontrolle über das eigene Gedächtnis wird dadurch verstärkt, dass sich Mads an ein Lied seiner Kindheit nicht mehr erinnern kann, das seine Mutter in einem Urlaub sang.

Abgesehen von der Traumabewältigung und der Frage der Autor:innenschaft stehen Geräusche und Musik im Zentrum des Buches. In Hinblick auf das Auditive wird eine deutliche Entwicklung im „fremden Text“ vollzogen. Am Anfang ist vom monotonen Klingeln des Festnetztelefons zu lesen, das der Ich-Erzähler durch laute Musik übertönen will. Diese Monotonie ist von den rhythmischen Herzschlägen aus dem Teufelsberg nicht weit entfernt: „Telefonen svarer igen: Ringetonen forandrer sig. Lyden bliver højere og mere aggressiv, hurtigere. Den har ringet mindst 20 gange nu.” (S. 147 – „Das Telefon klingelt wieder. Der Klingelton verändert sich. Das Geräusch wird lauter und aggressiver, schneller. Es hat jetzt mindestens schon 20 Mal geklingelt.“) Wie schon das Herz übt auch das ununterbrochene und immer stärker werdende Klingeln des Telefons eine starke Anziehungskraft auf den Ich-Erzähler aus. Er hebt ab und gibt den Hörer an seinen Vater. Mads’ Vater wird per Telefon mitgeteilt, dass seine Frau bei einem Autounfall starb.

In den darauffolgenden Passagen offenbart sich die Musik als Mittel zur Erkenntnis. Im letzten Abschnitt des „fremden Textes“ lesen wir vom Besuch des Ich-Erzählers, jetzt im Teenageralter, in einer Kirche. Der Organist spielt Buxtehudes Toccata in d-Moll und es wird anschaulich, welch berührende Kraft diese Musik für den Ich-Erzähler hat:

Jeg lukker øjnene, og nu kan jeg se de lange tonerækker for mig. Som en guirlande der roterer og skifter farve. Nu spilles der for fuldt udtræk. Tonerne bevæger sig gennem alle registre. Orgelets brus, det kan vælte én omkuld ligesom Vesterhavets bølger. (S. 169)

Ich schließe die Augen und kann jetzt die langen Tonabfolgen vor mir sehen. Wie eine rotierende Girlande, die ihre Farbe wechselt. Jetzt wird mit voller Kraft gespielt. Die Töne bewegen sich durch alle Register. Das Orgelbrausen, das kann einen umstürzen wie die Wellen der Nordsee.

Geräusche werden zu Musik. Die Monotonie und die zweckgerichtete Instrumentalisierung des klingelnden Telefons werden durch Farben und eine ziellose Bewegung „durch alle Register“ ersetzt. Zwar ist die Bedrohung der Nordseewellen präsent, die Einsicht jedoch, zu der der Ich-Erzähler gelangt, ist nicht mehr zu übersehen:

Musikken er himmel og helvede. Musikken er virkelig, det kan være svært at forstå. Musikken strømmer gennem mig, musikken trækker vejret gennem mig. Og nu, i et trolddomssekund, blæser musikken også en tanke ind i mig: at et menneske er et forsvindingspunkt. Et sted hvor universet forenes på én bestemt måde, der kun finder sted den ene gang. (S. 167-168)

Die Musik ist Himmel und Hölle. Die Musik ist wirklich, das kann schwer sein, zu verstehen. Die Musik strömt durch mich hindurch, die Musik atmet durch mich. Und jetzt, im Moment der Verzauberung, bläst die Musik einen Gedanken in mich hinein: dass der Mensch ein Fluchtpunkt ist. Ein Ort, an dem sich das Universum auf eine bestimmte Art und Weise vereint, so wie es nur dieses eine Mal stattfindet.

Die Erkenntnis, der Mensch sei ein Fluchtpunkt, macht die Tragik des Verlustes mit dem Begriff aus der Perspektivenlehre anschaulich. Die Einsicht des jungen Ich-Erzählers, dass kein Mensch wiederholt werden kann, widerspricht dem Coping-Mechanismus seines Vaters maßgeblich. Dieser ist nach dem Tod seiner Frau davon besessen, einen perfekten Kreis zu zeichnen, und glaubt, dass sie bald wiederkommen wird. Zum Misserfolg und dem Sich-In-Kreisen-Drehen verurteilt, flüchtet sich der Vater in eine eigene Welt, aus der er nicht mehr hinausfindet. Nach dem penibel aufgebauten dramaturgischen Höhepunkt der Kirchenszene wird die genremäßige Vermischung vervollständigt. Der Ich-Erzähler besteigt 46 von den 47 Stufen zur Orgel und greift nach einer Waffe in seiner Tasche. Der Organist spielt mittlerweile nicht mehr, die beiden schauen sich an. Der Ausgang dieser Szene bleibt uns verborgen.

Nach dem Lesen der neuen Seiten bleiben Mads bedeutendere Selbstreflexionen verwehrt, und auf die spannungsgeladenen, höchst persönlichen Passagen des „fremden Textes“ folgen Schilderungen aus Berlin. Die allgemeineren gesellschaftskritischen Beobachtungen lassen jedoch die Originalität und Schärfe der vorherigen Seiten vermissen:

De få, der havde taget klimaproblemet alvorligt i begyndelsen af årtusindet, havde troet, at det også betød, at kapitalismens tid var forbi. Men fremtiden var en rodebutik, havde det vist sig, og kun få havde forudset økokapitalismen, som de fleste partier i dag bekendte sig til. (S. 203)

Die Wenigen, die das Klimaproblem zu Beginn des Jahrtausends ernst nahmen, hatten geglaubt, dass das auch bedeuten würde, die Zeit des Kapitalismus wäre vorbei. Die Zukunft jedoch war ein Chaos, wie sich herausstellte, und nur die Wenigsten hatten den Ökokapitalismus vorausgesehen, zu dem sich heute die meisten Parteien bekannten.

Nach den mysteriösen Berlin-Erfahrungen trifft Mads die Literaturagentin Ane Svendsen und den Wissenschaftler und Kardiologen Magnus Svendsen in Dänemark. Magnus erläutert seine Hypothese, dass die Erde, wie sie gegenwärtig erlebt wird, eine von unseren Nachkommen gestartete Simulation ist. Ein endgültiger Beweis dafür sei ein Herz, das sich im Keller unter Svendsens Villa befindet. Dass es um die Simulation schlecht bestellt ist, merke man an den immer häufiger auftretenden ‚Glitches‘ und an der schlechter werdenden Verfassung des Weltenherzens. Die einzige Lösung sei, das Wissen um die Simulation wieder „aus dem Bewusstsein zu verbannen“ und somit die simulierte Welt zu retten. Die Menschen, die von der Simulation wissen – Ane und Magnus Svendsen sowie Mads – müssen, so Magnus’ Aufforderung, den Freitod wählen. Ane begeht daraufhin Selbstmord, Magnus stirbt unter tragischen Umständen, Mads weigert sich jedoch, diese Aufopferung zu vollziehen. Das Ende des Buches ist erneut von Bildern geprägt, die das Gefühl einer Katastrophe zu vermitteln vermögen:

Jeg drejede op ad Nørrebrogade. Overalt blev jeg mødt af det samme syn. Mennesker ubevægelige som mannequindukker. Børn, teenagere, voksne og gamle. Fodgængere, cyklister, bilister. Kvinder og mænd, brune og hvide. Alt og alle var stivnet i en vilkårlig positur. (…) Jeg bevægede mig gennem dette voksmuseum uden at røre ved noget. (S. 257)

Ich bog auf die Nørrebrogade ab. Überall bot sich derselbe Anblick. Menschen unbeweglich wie Schaufensterpuppen. Kinder, Teenager, Erwachsene und Alte. Fußgänger, Fahrradfahrer, Autofahrer. Frauen und Männer, Braune und Weiße. Alles und alle waren erstarrt in einer willkürlichen Pose. (…) Ich bewegte mich durch dieses Wachsmuseum, ohne etwas anzufassen.

Aufgrund der völligen Unbeweglichkeit von Mads’ Umgebung fällt den Lesenden sogar eine einfache Fortbewegung zu Fuß stark auf. Trotz des Ernstes der Situation in sich ruhend und mit der erstarrten Welt rund um ihn konfrontiert, fällt Mads endlich der gesamte Liedtext, den seine Mutter sang, ein. Mitten in dieser an ein Foto erinnernden Szene nähern wir uns ein letztes Mal Mads. Er scheint von den Urheber:innen der Simulation vergessen worden zu sein.

Durch die Idee, die Existenz sei eine pure Simulation, wird die Frage der Autor:innenschaft auf die Spitze getrieben. Das Buchcover scheint die Verschachtelung von Verdenshjertet wiederzugeben. Text im Text im Text. Diese Verschachtelung führt uns vor Augen, dass Mads sich im Unklaren darüber ist, welchen Text er selbst verfasst hat und welcher möglicherweise von einem Algorithmus stammt. Zwar leidet die Dramaturgie von Verdenshjertet unter dem Sprung vom „fremden Text“ zurück in Mads’ Realität. Doch verdeutlicht Viggo Bjerring auf überzeugende Art und Weise, dass es im digitalen Zeitalter längst nicht mehr selbstverständlich ist, den Ursprung eines Textes auf eine oder mehrere klar definierte Verfasser:ininstanzen zurückzuführen. Das Buch kann im letzten Drittel mithilfe der Schilderungen eines nahenden Endes der Simulation eine Untergangsstimmung vermitteln. Das erstarrte Kopenhagen ähnelt einer auf einem Foto festgehaltenen Szene: „Nu var der intet, der bevægede sig mere. Kun mit hjerte der slog helt normalt. En god rytme, et fast taktslag.“ (S. 258 – „Jetzt bewegte sich nichts mehr. Nur mein Herz, das ganz normal schlug. Ein guter Rhythmus, ein stetiger Takt.“)

Viggo Bjerring: Verdenshjertet, Valby: Ekbátana, 2021.

(Anton Matejicka, Universität Wien)

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