Mehr als true crime: Gewalt und Sprache

Det hvorom man ikke kan tie, om det må man tale, om det har man pligt til at tale, om det har man talepligt. (Niels Frank: Livet I troperne, S. 36; Das Leben in den Tropen)

Worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man reden, darüber ist man verpflichtet zu reden, darüber hat man Redepflicht.

Auf den ersten Blick wirkt Fanden tage dig (Der Teufel soll dich holen) wie eine der true crime-stories, die gerade eine mediale Konjunktur erleben. Der Text berichtet in romanähnlicher Form von dem Mord eines 62-jährigen Mannes an seiner ein Jahr jüngeren Ehefrau, knapp drei Monate nachdem sie ihn nach 30-jähriger Ehe verlassen hatte. Die Tat geschah vor den Augen der beiden Söhne des Paares und weiterer Familienmitglieder, die sich eingefunden hatten, um Möbel und Gegenstände aus dem gemeinsamen Haushalt zu holen, eine mit dem Ehemann verabredete Haushaltsteilung nach der Trennung. Der Mann verweigerte den Einlass und trat plötzlich mit einem abgesägten Jagdgewehr aus der Haustür, drohte den Anwesenden und schoss die in Panik flüchtende Frau gezielt in den Rücken. Sie verstarb unmittelbar darauf, und der Mann wurde noch am Tatort verhaftet und ein Jahr später in einem Gerichtsverfahren zu der Höchststrafe von 14 Jahren Haft verurteilt.

In Dänemark sind diese Tatsachen bekannt, lange bevor das Buch erscheint. Die Presse hat ausführlich davon berichtet, nicht nur, weil ein brutales Gewaltverbrechen beliebter Stoff v.a. der Boulevardmedien ist, sondern auch, weil es sich bei der Ermordeten um die Schwester Elin des bekannten Schriftstellers Niels Frank handelt, der jetzt sein Buch über die erschütternden Ereignisse vorlegt. Nun ist Frank nicht als Krimiautor, sondern als formbewusster Lyriker, Essayist und ehemaliger Leiter der Autorenschule in Kopenhagen bekannt, der durch eine ganze Reihe von renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist. Er debütierte 1985 mit der symbolistischen Gedichtsammlung Øjeblikket (Der Augenblick), entwickelte aber im Folgenden aus einer entleerten Symbolik eine avantgardistische Ästhetik. Seine Dichtung ist sprachreflexiv und experimentell, seine poetologischen Essays (z.B. in Yucatán, 1993) enthalten Reflexionen über Bildkunst, Musik und Literatur. Auch mit Gattungsfragen hat sich der Autor wiederholt auseinandergesetzt und z.B. in Livet i troperne (1998; Das Leben in den Tropen) die Grenzen des Aphorismus ausgelotet. Es stellt sich also die Frage, wie dieser sprach- und formbewusste Autor mit der Gewaltthematik, aber auch mit der persönlichen Betroffenheit umgeht. Seine ausdrückliche Absicht formuliert er im Text selbst: Er will die Wahrheit erzählen, keinen Krimiplot entwerfen, so ehrlich, klar und nüchtern wie möglich schreiben und vor allem will er „ikke lave kunst på Elins død“ (242; keine Kunst aus Elins Tod machen).

Da derartige formale Überlegungen der Schreibarbeit zugrunde lagen, ist es legitim, den Bericht – wie es im Untertitel heißt – trotz der Trauer und der Befangenheit des Urhebers als literarischen Text zu beurteilen. Laut Selbstaussage des Autors ist er auf der Grundlage von Hunderten von Notizzetteln entstanden, die er in der Zeit nach dem Mord und während der Gerichtsverhandlung niedergeschrieben hat, um den Fall zu dokumentieren. Der daraus entstandene Text ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil schildert ein Weihnachtsfest bei der Schwester und dem Schwager in Jütland, wo sich die psychische Gewalt des Ehemannes deutlich zeigt, und die Ehefrau beschließt, ihn, nach mehreren vergeblichen Versuchen, endlich zu verlassen. Nach der Flucht aus dem gemeinsamen Haus versteckt sie sich an wechselnden Adressen, u.a. in einem Frauenhaus (»krisecenter«), bis sie ihr eigenes kleines Haus beziehen kann, doch immer noch in Angst davor, verfolgt und bedroht zu werden. Sie reicht die Scheidung ein und fordert eine Haushaltsteilung, bei der es dann zum Mord kommt. Die Tat selbst wird in der Chronologie zunächst ausgespart, weil der Autor, aus dessen Perspektive erzählt wird, nicht zugegen war.

Im zweiten Teil des Textes wird dann darüber ausführlich im Rückblick von verschiedenen beteiligten Personen berichtet. Dieser Teil ist der Dokumentation der Tat selbst, der Ermittlungsarbeit und den Reaktionen auf die Tat gewidmet, der persönlichen des Autors und Ich-Erzählers, aber auch der psychischen Reaktionen der Familienangehörigen und Augenzeugen. Der dritte Teil dann erzählt von der Gerichtsverhandlung, der Anklage, der Beweisaufnahme, den Zeugenaussagen, dem Plädoyer des Verteidigers und schließlich der Verurteilung. Der Blickwinkel des Berichts liegt immer bei dem Ich-Erzähler, aber es gibt viele Zitate von wörtlichen Repliken anderer Personen, die kursiv gekennzeichnet und damit als dokumentarisch markiert sind.

Trotz dieser dokumentarischen Elemente und des erklärten Bemühens um Wahrhaftigkeit ist der Bericht durch Einseitigkeit und Subjektivität geprägt. Schon der Titel lässt erkennen, dass es mit der Nüchternheit nicht weit her ist. Die Verwünschung und die Anrufung des Teufels lassen starke Gefühle und eine einseitige Haltung erkennen. Der Text ist höchst subjektiv und sensibel, man könnte ihn aber auch kritisch als selbstbezogen und vielleicht sogar larmoyant bezeichnen. Der Autor räumt denn auch freimütig ein: »Men jeg ser det i mordets lys, jeg ved det. Jeg ser alting i det lys« (159; Aber ich sehe es im Licht des Mordes. Ich sehe alles in dem Licht). Gerechtfertigt ist diese Befangenheit durch die Tatsache, dass die Argumentation nicht dem Nachweis der Schuld dient, an der es keinen Zweifel gibt, sondern der Darstellung der mannigfaltigen Implikationen der Gewalttat: wie sie sich angekündigt hatte und möglicherweise hätte vermieden werden können, welche psychischen Auswirkungen sie hat, wie die Ermittlungsarbeit und die juristische Aufarbeitung zu beurteilen ist und welche ungelösten Probleme sie hinterlässt. Aus diesem Bestreben heraus ist ein Text entstanden, der mindestens drei bemerkenswerte Aspekte hat.

Zum ersten ist es ein sehr persönlicher Text, dessen Fundament die Erinnerung an die getötete Schwester Elin darstellt. Sie tritt als eine an ihrem Arbeitsplatz und bei Familie und Freunden geschätzte, äußerst liebenswerte und selbstlose Persönlichkeit hervor, die in diesem Erinnerungsbuch mit dem Feingefühl und der Zuneigung charakterisiert wird, die ihr in ihrer Ehe versagt blieben. Posthum erhält sie dadurch die Aufmerksamkeit, die ihr als Mensch zukommt und auf die sie im Leben verzichten musste. Das sensible und doch unaufgeregte Porträt Elins, ihres ausgeprägten Familiensinns, ihrer Sorge für andere und ihrer Güte, macht eine der Stärken des Textes aus.

Zum zweiten ist der Bericht eine Auslotung der psychischen Folgen des Verbrechens für die Familie, zu der auch der Autor gehört. Als Schriftsteller ist es naheliegend für ihn, dass er das Schreiben benutzt, um die verstörende Tat zu bewältigen. Nachdem er zunächst ungeordnete Aufzeichnungen gemacht hatte, stützt er sich nun auf die Schrift, um die Tatsachen und seine Gedanken zu ordnen, um die Wahrheit zu ermitteln und – insofern das überhaupt möglich ist – Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen: »bogen [begyndte] at antage karakter af beskyttelsesrum. På en sær måde skærmede skriften mig mod hændelserne« (241; Das Buch begann den Charakter eines Schutzraumes anzunehmen. Auf eine merkwürdige Weise schirmte die Schrift mich vor den Ereignissen ab). Insofern handelt es sich um ein Therapiebuch.

Generell spielt die Frage der therapeutischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten eine große Rolle im Text. Der (etwas zu lange) Mittelteil der Studie beschreibt in vielen Wiederholungsschleifen die Reaktionen auf die Tat und die psychischen Probleme der verschiedenen Familienmitglieder als Folge davon. Die beiden Söhne, die in gewissem Sinne Mutter und Vater gleichzeitig verlieren, und andere Augenzeugen des Mordes haben diverse Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und müssen sich in therapeutische Behandlung begeben. Sie leiden dauerhaft unter den Erlebnissen, so dass die Gewalt neben den direkten Auswirkungen auch ernsthafte indirekte Folgen hat. In diesem Zusammenhang spricht Frank von einem Versagen der Sprache, von körperlichen Reaktionen und von einer Übermacht der Gefühle, die einer Machtlosigkeit gleichkommen: »I virkeligheden kan jeg nok slet ikke tale om, hvordan det føles. At det er umuligt at tale om det må være en del af magtesløsheden« (268; In Wirklichkeit kann ich wohl gar nicht darüber sprechen, wie es sich anfühlt. Dass es unmöglich ist, darüber zu sprechen, ist Teil der Machtlosigkeit).

Und doch ist es die Sprache, die Frank einen wichtigen Einfallswinkel, ein Instrument bei der Aufarbeitung des Mordes bietet.  Denn seine Aufmerksamkeit für die Sprache erlaubt es ihm, wichtige Elemente des Gewaltverbrechens selbst, aber auch seiner polizeilichen und juristischen Verfolgung herauszuarbeiten. In diesem Sinne bietet die Buchveröffentlichung – zum dritten – Anlass zu kritischen Überlegungen bezüglich der Arbeit der Behörden, der Polizei und der Justiz. Es beginnt mit dem mangelnden Eingreifen der Polizei, als die Situation bei der geplanten Haushaltsteilung zu eskalieren beginnt. In einem Telefonat, das im Übrigen das gesamte Ereignis einschließlich des Mordes in einer offenen Notrufleitung dokumentiert, bezeichnen die zu Hilfe gerufenen Polizisten die Lage zunächst als »husspektakel« (Familienstreitigkeit, wörtlich: häusliches Schauspiel!), zu dem sie nicht jedes Mal ausrücken könnten. Es setzt sich fort mit einer »mentalerklæring« (einem psychiatrischen Gutachten), das von einer Befragung der Angehörigen absieht und sich lediglich auf vier 45-minütige Interviews mit Standardfragen von professionellen Gutachtern bezieht, die zu dem Ergebnis kommen, der Täter sei nicht »sindssyg« (geisteskrank), und die keine Aussagen dazu machen, welch große Gefahr der Familie zufolge weiterhin von ihm ausgeht. Die Angst der Familie steht in keinem Verhältnis zu den Kategorien der Rechtspsychiatrie, die die Fragen nach der Bedeutung und den Konsequenzen der Bezeichnungen ›Psychopath‹, ›gefährlich‹ oder ›gestört‹ ausklammern.

Am wichtigsten sind solche allgemeinen Überlegungen zur Thematik des Frauenmordes oder Femizids. Frank zieht Studien und Forschungsergebnisse heran, gründet seine Wertungen aber wiederum auf eigene Beobachtungen der Sprache- und des Sprachgebrauchs. Eine genaue Repräsentation der Sprache des Täters offenbart seine narzisstischen Züge und entlarvt eine tief gestörte Persönlichkeit. Seine wiederholten direkten und indirekten Drohungen hätten als Warnung der späteren Gewalttat verstanden werden müssen. Die oft unsichtbar bleibende psychische Gewalt, die Formen wie Beschimpfen, Herabsetzen, Verspotten, Bloßstellen und Drohen annehmen kann, stellt nicht selten eine Vorstufe späterer physischer Gewalt dar und muss deswegen ernst genommen und als justiziabel eingestuft werden.

Auch die Sprache des Verteidigers wird unter die Lupe genommen. Zwar erfüllt er bei seinem Plädoyer die Aufgabe des Rechtsbeistandes für den Angeklagten, doch für die Familie ist seine Darstellung schmerzhaft, wenn er durch seine Wortwahl die Gewaltsituation verzerrt darstellt und das Verhältnis zwischen Täter und Opfer verdreht. Selbst unsere Alltagssprache bedarf der sorgfältigen Prüfung. Die häufig benutzte Formulierung einer ›Familientragödie‹ ist unangemessen und verfälschend, denn anstatt die Gewalttat mit der klaren Wortwahl als Tötungsdelikt oder Mord zu bezeichnen, wird durch die Umschreibung die Schuldfrage uneindeutig, auf mehrere Parteien verteilt und als unvermeidlich, da schicksalshaft, bewertet.

Vor allem durch sein sprachsensibles Vorgehen kann Niels Frank nicht nur über eine sehr verstörende persönliche Geschichte berichten, sondern auch auf einige generelle Aspekte dieses Femizids aufmerksam machen, die in der Zukunft sprachliche, praktische und evt. sogar juristische Konsequenzen haben könnten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Femizide statistisch gesehen meist in der Zeitspanne bis zu drei Monaten nach der Trennung geschehen; ein Wissen davon hätte womöglich diesen Mord verhindern können. Der Text ist daher weniger als spannende true crime-story denn als »brugsbog« (Debattenbeitrag) zum Thema oft unterschätzter psychische Gewalt zu lesen.  

Niels Frank: Fanden tage dig. Beretning om et kvindedrab, Gyldendal, 2022.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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