»Sara er forkert, og det er ikke bare en følelse, det er både synligt og målbart, at hun er anderledes i forhold til andre. Hendes skelet er forkert vokset sammen, så det er helt skævt, knoglerne vender den forkerte vej og stikker ud de forkerte steder […] Hun har gået til læge og fysiolog, afspændingspædagog og massage, gymnastik, mensendieck, rolfing, yoga, zoneterapi, body-sds, alexanderteknik, akupunktur, osteopat, homøopat og heilpraktiker, men lige meget hjælper det.« (5)
»Sara ist verkehrt, und das ist nicht nur ein Gefühl, das ist sowohl sichtbar als auch messbar, dass sie anders ist als andere. Ihr Skelett ist verkehrt zusammengewachsen, so dass es ganz schief ist, die Knochen gehen in die falsche Richtung und treten an den falschen Stellen hervor [..] Sie ist zum Arzt und zum Physiologen gegangen, zum Entspannungspädagogen und zur Massage, Gymnastik, Mensendieck, Rolfing, Yoga, Zonentherapie, Körper SDS, Alexandertechnik. Akupunktur, zum Osteopathen, Homöopathen und Heilpraktiker, aber es hilft alles nichts.«
Der Textanfang stellt uns nicht nur die Hauptperson des Romans, sondern auch die nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge im dänischen Wohlfahrtsstaat vor. Die personale Erzählperspektive impliziert eine Ambivalenz von sympathetischer Nähe zur Protagonistin und durch Übertreibung evozierte ironische Distanz. Diese Art des Erzählens ist typisch für Kirsten Hammann, und auch diese Art von Heldin kennt man schon aus ihren früheren Romanen (seit Vera Vinkelvir, 1993), was manche Rezensenten kritisch anmerken. Obwohl Hammann eine der erfolgreichsten und wichtigsten dänischen Gegenwartsautorinnen ist, muss sie für ihr um handlungsunfähige weibliche Protagonisten zentriertes Werk häufig Kritik einstecken. Die Rezensenten sind sich auch in der Bewertung ihres jüngsten Romans nicht einig; schon bei der Frage nach der Gattungsbezeichnung changieren sie zwischen Groteske, Krimi, Chicklit und »samtidsroman der spidder tidsånden« (Kamilla Löfström in: Information 27.2.2015; »Gegenwartsroman, der den Zeitgeist trifft«). Die einen zeigen sich amüsiert über Hammanns frechen Ton (man habe »den største fornøjelse ved at læse Hammann: hendes hedenske humor, det djævelske drilleri« – Lise Garsdal in: Politiken 26.2.2015; »das größte Vergnügen Hammann zu lesen: ihr heidnischer Humor, ihre teuflische Neckerei«), andere beklagen die klischeehafte Übertreibung, die zu offensichtlich und zu langatmig sei, um den Leser wirklich herauszufordern (Morten Kyndrup in: Standart 3.10.2015).
Die Handlung ist in der Tat schnell erzählt: Es geht um die 38-jährige Sara, ihre Beziehung zu dem in Scheidung lebenden Philip und seinen beiden Töchtern, die jedes zweite Wochenende bei ihnen verbringen, sowie der höchst attraktiven Nachbarin Frederikke, die immer mehr in ihr Dasein eindringt. Obwohl Saras Leben durch einen hohen Lebensstandard, eine schöne Wohnung und eine funktionierende Beziehung ausgefüllt zu sein scheint, zweifelt und verzweifelt sie an allem. Sie findet sich hässlich, langweilt sich, wünscht sich ein eigenes Kind und antizipiert Philips Untreue und das Ende der Beziehung. Ihre Suche nach dem perfekten Glück wird durch ihre ständigen Selbstzweifel verstellt, die sich in einer konstanten Selbstbeobachtung Ausdruck geben: »Hun vakler foroverbøjet ind gennem stuen. ›Jeg vakler foroverbøjet‹ tænker hun og lægger sig på sofaen« (104; »Sie wackelt nach vorne gebeugt durch das Zimmer. ›Ich wackele nach vorne gebeugt‹, denkt sie«). Ihr Leben wird zu einem Rollenspiel, in dem sie immer das Schlimmste annimmt. So kann es kaum verwundern, dass alle ihre Befürchtungen in Bezug auf die Beziehung im Stile einer self-fulfilling prophecy schließlich eintreten: Saras zunächst absurd scheinende Eifersucht erweist sich im Nachhinein als berechtigt – das erwünschte Kind bekommen Philip und Frederikke.
Ihre emotionale Instabilität betrifft jedoch nicht nur den engsten privaten Bereich, sondern erstreckt sich auch auf globale Zusammenhänge: »Sara er bange. Jorden gik ikke under i 2012, som mayaerne mente, men ifølge fremtidsforskeren John L. Petersen havde de ret i, at det blev et vendepunkt« (9; »Sara hat Angst. Die Welt ist 2012 nicht untergegangen, wie die Maya meinten, aber dem Zukunftsforscher John L. Petersen zufolge hatten sie recht damit, dass es ein Wendepunkt war«). Sara sorgt sich also nicht nur um sich selbst, sondern um die Zukunft der Welt; während sie abspült, fühlt sie sich schuldig gegenüber »alle dem, der mangler rent drikkevand« (23; »all denen, die kein sauberes Trinkwasser haben«), und während sie Salat zubereitet, um sich gesund zu ernähren, stellt sie sich den Zusammenbruch der Nahrungsversorgung und des gesamten Wohlfahrtsstaats vor. Während die Lesenden derartige Schuldgefühle durchaus kennen, lassen die Übertreibungen eine ironische Distanz entstehen, die auf die als unangemessen dargestellte Sorge der Wohlfahrtsstaatbürgerin um den Zustand der Welt abzielen soll. Das ist vor allem deswegen der Fall, weil es für sie keinen Unterschied macht, ob sie sich um ihr Aussehen, ihren Kinderwunsch oder um den Klimawandel und globalen Wassermangel Gedanken macht. Der Roman erzielt seine kritische Dimension also aus einer Nivellierung der Problemstellungen, die allesamt in eine egozentrische Perspektive überführt werden. Die vorgebliche Sorge um die Welt wird auf diese Weise als sentimental und »hopelessly private« (vgl. Vivasvan Soni: Mourning Happiness, 2010) entlarvt.
Saras Ängste um die Zukunft, vor allem aber ihre Unzufriedenheit mit dem Leben veranlassen ihren Freund Philip, ihr eine Reise zu schenken, die sie selbstbewusster und glücklicher machen soll. Das von Sara ausgewählte Ziel ist Bhutan, durch die Fernreise bekommt die globale Perspektive nun eine konkrete Verankerung in Saras Leben. Zum Glücklichsein gibt Bhutan in besonderer Weise Anlass. In diesem Land hat man das Messen des Bruttonationalglücks (BNG) eingeführt, das den Lebensstandard in einer neuen, humanistischen Weise definieren sollte. Der Ausdruck wurde 1979 von Jigme Singye Wangchuck, dem damaligen König von Bhutan, geprägt, um dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, einem ausschließlich materiell und ökonomisch bestimmten Maß, einen ganzheitlicheren Bezugsrahmen gegenüberzustellen. In diesem Sinne entwirft Alene hjemme eine triadische Relation von Globalisierung, Schuld und Glück, die gängige Vorstellungen vom aktuellen globalen Tourismus aufgreift: Er enthält ein Glücksversprechen und bringt doch in der Konfrontation mit der Alterität des ›global south‹ Unbehagen und Schuldgefühle der Bessergestellten hervor. Eine ähnliche Problematik wurde übrigens auch in Kirsten Thorups Roman Tilfældets Gud (2011) umgesetzt.
Erstaunlich ist nun aber, dass in dem über 300 Seiten langen Roman der Bericht über die Ferien in Bhutan ausgespart bleibt. Während wir am Ende des dritten Kapitels im Detail erfahren, dass sich die Protagonistin für die Reise Sonnenbrille, Rucksack und Wanderschuhe kauft, beginnt das vierte Kapitel mit dem knappen Satz »Fire uger senere« (88; »Vier Wochen später«) – das touristische Erlebnis stellt eine signifikante Leerstelle im Roman dar. Zwar berichten die folgenden Seiten von jetlag und Müdigkeit und reißen auch ein paar Erzählungen an, die allerdings seltsam leer bleiben: »hun siger hele tiden ordet ›fantastisk‹, det var ›fantastisk‹, hun er så glad, og ›eventyr‹, det var et ›eventyr‹« (91; »sie sagte die ganze Zeit das Wort ›phantastisch‹, es war ›phantastisch‹, sie ist so froh, und ›Abenteuer‹, es war ein ›Abenteuer‹«). Der Bericht der Reise selbst reduziert sie auf den passiven Status des typischen package-tourist: »Lander med et bump i Wien, af sted, af sted, […] Kom ind! Gå ud! Næste! Og så spytter Københavns lufthavn hende ud fra bagagebåndet« (88-89; »Landet mit einem Rumms in Wien, weiter, weiter […] Komm rein! Geh raus! Nächster! Und dann spuckt der Kopenhagener Flughafen sie am Gepäckband aus«). Ebenso touristentypisch wie die Passivität der Pauschalreisenden ist das Thema Souvenirs, durch die Sara versucht, ihr Ferienerlebnis zu teilen und zu bewahren, doch die mitgebrachten Gebetstücher mit den bunten Farben Bhutans verblassen buchstäblich in der Waschmaschine. Der Tourismus wird auf diese Weise seiner Glücksverheißung beraubt, das Abenteuer, der Ausstieg aus der Zeit (vgl. Georg Simmel: »Das Abenteuer«, 1911) ist nicht nur sehr kurzfristig, sondern die touristische Reise hat keinerlei Konsequenzen für das Alltagsleben und die Persönlichkeit der Hauptperson. Auch in dieser Beziehung stellt der Tourismus eine Leerstelle dar, die durch die erzählerische Lücke markiert wird. Die Bhutan-Reise besteht lediglich aus unruhiger Vorfreude und erschöpfter Erinnerung. Die Zeitstruktur des Romans erlaubt kein momentbezogenes situationales Glück, es ist immer ins Unbestimmte hin aufgeschoben. Die erzählerische Enthaltsamkeit bedeutet aber auch, dass der Charakter Bhutans als etwas Geheimnisvolles bewahrt bleibt; er wird nicht durch die Augen einer westlich geprägten Erzählerin überformt dargestellt. Die touristische Aneignung wird nicht in die Erzählung überführt, sondern als ohnehin vergeblich markiert. Der Zusammenhang von Tourismus und Glück wird deutlich negiert.
Wie schon in En dråbe i havet (2008) konfrontiert Hammann in dem ihr eigenen witzigen Jargon die überzogenen Selbstzweifel der Wohlfahrtsstaat-Bürgerin mit einer globalen Perspektive, konfrontiert Glücksstreben und Schuldgefühle. Man darf sich also durch den egozentrischen Ton und die pathetischen Beziehungsprobleme des Romans nicht täuschen lassen – er geht durchaus über die gängigen chicklit-Anliegen hinaus. Doch kann man sich fragen, ob die durchgehende Ironisierung nicht auch auf die ernsten Themen zurückwirkt und nicht nur Sara, sondern auch die von ihr aufgerufenen Problemstellungen unfreiwillig relativiert.
Kirsten Hamman: Alene Hjemme, Kopenhagen: Gyldendal, 2015.
(Annegret Heitmann, München)