Välkommen till Amerika von Linda Boström Knausgård ist eine Novelle, deren unerhörte Begebenheit in dem selbstgewählten Verstummen eines Mädchens besteht. Die Autorin knüpft an die Kindheitsschilderung ihres ersten Romans Helioskatastrofen (Die Helioskatastrophe 2013) an, die mythologisch vorstrukturiert war. Auch ihrem zweiten Prosawerk geht es um eine produktive Krise. Diesmal richtet sich der Fokus jedoch weder auf psychotische Ausnahmezustände oder Klinikaufenthalte noch die Geburt der Athene aus dem Kopf ihres Vaters, sondern auf ein willentlich erzeugtes Außenseitertum, das ein Kind im Spannungsfeld einer grotesk dysfunktionalen Kernfamilie erprobt.
Ellen verstummt mit elf Jahren für längere Zeit und zieht sich in ihr Zimmer zurück, das mal als Krankenzimmer, mit sich selbst in Bewegung versetzenden Wänden, und mal als „room for one’s own“ fungiert. Die weitgehende Konzentration auf das Interieur macht die Novelle zu einem bedrückenden Kammerspiel, das an die bittersten Strindberg-Dramen erinnert. Die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin wird oft als stream-of-consciousness dargeboten, in einer assoziativen Folge kurzer Sätze, gehäuft auftretenden Ketten von Fragen – intensiviert durch die Ansprache eines Du sowie gelegentliche Tempuswechsel. Das Staccato ruft in Verbindung mit der inszenierten Mündlichkeit den Eindruck eines widerwilligen, verzögerten Sprechens hervor, was auf die zentralen Themen des Schweigens und des Schreibens zu übertragen ist. Ellens extrovertierte Mutter hat ihrer Tochter ein Schreibheft gegeben, um ihr zu ermöglichen, das fehlende Sprechen zu kompensieren. Eine allein therapeutische Instrumentalisierung, wie etwa im Sinne der Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung, steht für Ellen jedoch nicht an erster Stelle. Mehr als der Selbstverständigung dient das Schreiben der sozialen Kommunikation, da Ellen sich eines Tages der Mutter, einer erfolgreichen Schauspielerin, mitteilen möchte, und als Mittel zur Erlangung von Autonomie. Das Schweigen als purer Ausdruck des Willens kann sowohl die suizidale Gefährdung als auch die dämonischen Kräfte des Bruders und Vaters bannen, die der Dunkelheit zugeordnet sind: „Jag hade släppt lös min vilja. Nu kunde vad som helst hända.“ (Ich hatte meinen Willen freigesetzt. Jetzt schien alles möglich. S. 57). Der Bruder hat die Tür zu seinem Zimmer zugenagelt, variiert also die Geste der Isolation.
Eingangs wird die Verweigerung zu sprechen als ein Projekt umschrieben, das am Anfang steht und noch keine nähere Bestimmung hat: „sedan det där med talet“ (das mit dem Sprechen, S. 6). Die Macht von Rede und schriftlicher Äußerung wird erkundet und mit dem biographischen Entwicklungsprozess verknüpft, umrissen in der vagen Formulierung „det där med växandet“ (das mit dem Wachsen/ der Entwicklung, S. 7). Durch die sprachliche Schlichtheit wird wohl auch ein Hineinversetzen in die kindliche Perspektive angedeutet, das konventionelle Substantiv „uppväxt“ (Aufwachsen) wird bezeichnenderweise vermieden. Mit zunehmender Deutlichkeit schält sich allmählich heraus, dass es sich um eine ‚Künstlerinnennovelle‘ handelt, die sich der Legitimierung der Autorschaft widmet. In einigen resümierenden Wendungen kommt zusätzlich die Rückschau einer erwachsenen Person zum Tragen, besonders markant am Ende des Textes: „Det var det här med växandet. Vissa saker hör till vissa åldrar.“ (So war es mit dem Wachsen. Bestimmte Dinge gehören zu einem bestimmten Alter. S. 90).
Die Urszene des Schreibens findet in der Kommunikation mit der Mutter statt: „Jag tog fram skrivboken och en penna. Jag darrade på handen när jag skrev: Skolen brann i dag. Jag gick ut i köket och lade skrivboken på matbordet. Tog tag i mammas arm och pekade på bordet. Hon grät. Mamma grät. Hon tittade på mig med tårarna rinnande utför ansiktet. Kinderna som blev svarta av mascaran som rann i tunna streck. Tack, sa hon och kramade om mig. Jag stod blickstilla inuti omfamningen. Vad hade jag gjort?” (Ich nahm das Schreibheft und den Stift. Meine Hand zitterte als ich den Satz schrieb: Die Schule hat heute gebrannt. Ich ging in die Küche und legte das Schreibheft auf den Esstisch. Ich fasste Mama am Arm und zeigte auf den Tisch. Sie weinte. Mama weinte. Sie sah mich an, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Die Wangen wurde von der Wimperntusche schwarz, die in dünnen Streifen herablief. Danke, sagte sie und nahm mich in den Arm. In der Umarmung stand ich regungslos. Was hatte ich getan?, S. 63). Durch ihre schriftsprachliche Handlung hat Ellen nun doch noch in die Welt eingegriffen.
Mit ihrem verstorbenen Vater, der sich unangenehmerweise in ihr Zimmer geschlichen hat, kommuniziert Ellen ebenfalls schriftlich: „Han måste ut ur rummet. Jag tänkte i några sekunder sedan tog jag skrivboken och skrev: Du är död. Du får inte komma hit. Jag lade skrivboken i hans knä och såg honom läsa. Jaså det är vad du tror. Han skrattade. Eftersom du ber så snällt. Han var borta.” (Er muss aus dem Zimmer heraus. Ich überlegte einige Sekunden, nahm das Schreibheft und schrieb: Du bist tot. Du darfst nicht hierherkommen. Ich legte das Schreibheft auf seinen Schoß und sah wie er las. Aha, das glaubst Du also. Er lachte. Wenn du so nett darum bittest. Er war verschwunden., S. 74)
Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der Werktitel, denn beide Eltern verwenden die Begrüßungsformel, beinahe so, als würden sie Ellens Vorhaben absegnen und als wollten sie vorausschauend dazu beitragen, ihrer Ausnahmetochter den Weg in die Welt (dafür steht „Amerika“) zu ebnen. Wieder ist es zuerst die Mutter, die auf der Bühne von Dramaten das verheißungsvoll unkartierte Gelände Amerikas anpreist: Als derangierte Freiheitsgöttin leuchtet sie den Schutz suchenden Migranten entgegen, obgleich sie ihre Fackel verloren hat (vgl. S. 8). Der Willkommensruf wird vom Vater in einer Traumsequenz wiederholt, als beide Charaktere plötzlich verschmelzen, denn beide sind glatzköpfig, und eine Spiegelscherbe ist in ihre Stirn gedrückt, so dass eine Mutter-Vater-Einheit entworfen wird (vgl. S. 64). Die motivische Anspielung auf die Spaltung von Zeus‘ Schädel, den Geburtsmoment der Athena, wird auf diese Weise auf beide Elternteile ausgeweitet. (Der Vergleich mit Sara Lidmans Athena-Roman Oskuldens minut (Minute der Unschuld 1999) über eine weibliche Erzählbegabung, die sich zuerst als ein freier, nicht korporierter „Wille in der Welt“ manifestiert, der sich Herkunft und Eltern erst noch suchen muss, böte sich an.)
Die genealogische Herleitung bleibt jedoch nicht widerspruchslos: Die rückschauende Perspektive und das Wissen im Nachhinein entfalten sich nämlich in einer überraschenden Volte am Schluss, indem das zuvor favorisierte Narrativ, das der mütterlichen Lichtgestalt zugeordnet wurde, radikal in Frage gestellt erscheint: „Jag brukade stanna vid ögonblicken i båten. Tänkte att så skulle det vara för alltid. Pappas leende när min bror förde in ännu en fisk i båten med håven. […] Mamma, alltid rätt klädd för varje tillfälle. Kanske spelade hon alltid teater? Iklädd en sportjakka med håret i en perfekt hästsvans med leendet riktad som mot en osynlig kamera. Hela familjen på utflykt. Kanske var det den där döda piggvaren som låg på ytan, som min bror absolut ville ta in i båten, för att den såg ut som om den levde, som var det första tecknet på att allt inte stod rätt till? Den stinkande fisken som sjöfåglarna ätit av och som vi inte visste vad vi skulle göra med när vi väl fått den ombord på båten. […] Vad skulle vi göra nu? Vad skulle vi göra med varandra? ” (Immer wieder blieben meine Gedanken an dem besonderen Moment auf der Bootsfahrt hängen. Dachte daran, dass es für immer so sein sollte. Pappas Lächeln, als mein Bruder noch einen Fisch mit dem Kescher ins Boot holte. […] Mamma, wie immer der Situation entsprechend angezogen. Vielleicht spielte sie immer Theater? In einem Anorak, mit einer perfekten Pferdeschwanz-Frisur und einem Lächeln, wie auf eine unsichtbare Kamera hin ausgerichtet. Die ganze Familie auf einem Ausflug. War vielleicht der tote Steinbutt, der an Deck lag und den mein Bruder unbedingt ins Boot bekommen wollte, weil er lebendig wirkte, das erste Anzeichen dafür gewesen, dass etwas nicht stimmte? Der stinkende Fisch, von den Seevögeln angefressen, mit dem wir nichts anzufangen wussten, nachdem wir ihn an Bord geholt hatten? […] Was sollten wir nun machen? Was sollten wir miteinander machen? S. 91f.)
Das klaustrophobische Interieur wird mit dieser Erinnerungsszene an frühere Urlaube zu viert aufgebrochen, und das schicksalshafte Störungsmoment außerhalb der familiären Konstellation verortet. Der deformierte Fisch entfaltet sich wie ein Fluch, während Ellens Mutter sogleich alle Kräfte der Verdrängung mobilisiert (vgl. S. 92). Das Aussehen des Fisches, seine dunklere, mit Tarnungsmuster versehene Oberseite und seine helle Unterseite machen ihn zu einem Symbol, das auf die familiären Antinomien genau abgestimmt ist. Der Ring schließt sich in der Novelle gerade nicht, sondern es wird eine Umwertung der geschilderten Ereignisse erzwungen.
Mit Autofiktion hat dieser streng komponierte Text wenig zu tun, und doch strahlen Gattungsmerkmale aus dem sechsbändigen Min kamp-Zyklus (2009-11) von Karl Ove Knausgård herüber. Das Titelbild-Foto zeigt eine jüngere Frau mit einem stabähnlichen Gebilde in der linken Hand, wenn man den unscharfen Vordergrund des Bildes genauer betrachtet, als Selfie-Stick identifizierbar. Dennoch hat die Person ihr Gesicht komplett abgewandt. In dieser paradoxen Bewegung bestätigt sich die autofiktionale Selbstbespiegelung, dementiert sie aber auch zugleich – vielleicht als ein visuelles Pendant zum Schreiben unter Beibehaltung des Schweigens.
Die Spiegelscherbe, die in Välkommen till Amerika die kahlen Schädel beider Elternfiguren spaltet, spielt in Min kamp eine Rolle für die selbstzerstörerischen Seiten des jungen Karl Ove, der sich Schnittverletzungen im Gesicht zufügt. Jenseits der überraschend verwendeten mythologischen oder symbolischen Querverweise ist auf alle Fälle die in beiden Werken wiederholt genannte Blaubeer-Dickmilch hervorzuheben, die die Knausgård-Kinder in Min kamp beinahe zwanghaft zum Frühstück verlangen.
Es liegt zwar nahe, die Werke des Ehepaars aufeinander zu beziehen; eine polyloge Vernetzung ergibt sich jedoch nicht, stehen sich doch mythische Muster und konzentrierte Verdichtung auf der einen Seite und Essay, Flow, ausufernder Text sowie die Montage heterogener Materialen auf der anderen gegenüber.
Eine gewichtigere thematische Gemeinsamkeit besteht allerdings in der Auseinandersetzung mit dem depressiven und alkoholisierten Vater. Die Ich-Erzählerin bei Boström Knausgård stellt ihr Außenseitertum explizit als Erbe ihres Vaters dar (vgl. S. 5), womit Künstlerschaft und bipolares Syndrom eine unauflösliche Einheit bilden. Für den direkten Vergleich erschiene indessen Beate Grimsruds Roman En dåre fri (Verrückt und frei, 2011) viel ergiebiger, denn diese Autorin verlängert ihre Selbstvergewisserung als Autorin ebenfalls bis in die Krankheitsgeschichte von Kindheit und Jugend zurück. Grimsruds Text legt aber größeren Wert auf die Herausarbeitung des Konstruktionsprozesses und die Erinnerungsakte. Bei Boström Knausgård verrät die fein austarierte Gesamtkomposition, wie die Elemente autobiographischer Erinnerung während des Schreibprozesses fortlaufend auf die zukünftige Autorschaft hin ausgerichtet werden.
Indem die paradoxen und spannungsvollen Gegensätze von Licht und Dunkel (auch Eros und Thanatos) kontinuierlich als planvolle Strukturierungen hervortreten, und indem das Schreiben gewagt und das Schweigen zugleich aufrechterhalten wird, signalisiert Välkommen till Amerika ein Selbstverständnis als modernistische Außenseiterautorin.
Linda Boström Knausgård: Välkommen till Amerika, Stockholm: Modernista, 2016.
(Antje Wischmann, Uppsala)