Die Bitterkeit von Quitten

Kaum ein Roman hat in den letzten beiden Jahrzehnten in Dänemark soviel massenmediale Aufmerksamkeit erregt wie Knud Romers 2006 erschienener Titel  Den som blinker er bange for døden (ins Deutsche übertragen als Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod, 2009). Nach einer Karriere in der Reklamebranche sowie seinem Wirken als meinungsstarker Journalist und als Gelegenheitsschauspieler (in Lars von Triers Idioterne (1998, Die Idioten)) debütierte der damals schon 46-jährige mit einem Roman, der zu einer autofiktionalen, wenn nicht sogar autobiographischen Lektüre einlud: über das Aufwachsen des Erzählers im provinziellen, xenophoben Nykøbing/Falster und über dessen Mutter, eine Deutsche, die nach dem Krieg aus Liebe nach Dänemark übersiedelte und dort dem virulenten Deutschenhass der dänischen Kleinstädter mit Hilfe von Alkohol zu entfliehen suchte.

Wie historisch korrekt die geschilderten Ereignisse tatsächlich waren, wurde in der dänischen Presse kontrovers diskutiert. Romer benutzte die Debatte nicht zuletzt, um die lange identitätskonstituierende Abgrenzung zum südlichen Nachbarn zu hinterfragen und stattdessen die dänisch-deutschen Gemeinsamkeiten zu betonen. In einem Interview in späteren Jahren formulierte er seine Position so: „Wir sind weit deutscher, als wir uns bewusst sind. Aber nach dem Krieg von 1864 und dem Zweiten Weltkrieg haben wir einander den Rücken zugewandt und eine unnatürliche Grenze zwischen den zwei Ländern gezogen, wo der Übergang in Wirklichkeit gleitend ist“ („Vi er meget mere tyske, end vi er bevidste om. Men efter krigen i 1864 og Anden Verdenskrig har vi vendt hinanden ryggen og trukket en unaturlig grænse mellem de to lande, hvor overgangen i virkeligheden er glidende“).1

Romers nächster, ebenfalls autobiographisch gefärbter Roman über u.a. seine Studienzeit in Kopenhagen und seinen Kampf, ein Insel-Verlag-würdiger Autor zu werden, Kort over Paradis (2018, auf Deutsch als Kartographie der Hölle, 2020), ließ ganze zwölf Jahre auf sich warten. Seitdem verkürzen sich jedoch die Abstände zwischen seinen Büchern. Aktuell ist Romer auf dem dänischen Buchmarkt mit seiner ersten Novellensammlung Den svenske konges hemmelige marmeladeopskrift (2023, Das geheime Marmeladerezept des schwedischen Königs) präsent. Bereits 2021 erschien der im Folgenden besprochene Roman Pigen i Violinen (Das Mädchen in der Geige), ein stramm durchkomponierter Text, der Romer von seiner stärksten Seite zeigt.

„nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich“

Gleich einleitend werden in Pigen i violinen Kontinuität wie Diskontinuität zum früheren Werk Romers markiert: Vorangestellt ist dem Text Rilkes „Liebes-Lied“ (aus: Neue Gedichte, 1907), und zwar komplett in deutscher Originalfassung ohne Übersetzung. Leser:innen von Romers Debütwerk werden sich erinnern, dass der Erzähler in Den som blinker er bange for døden aus diesem Gedicht ein deutschsprachiges Zitat für die Todesannonce der Mutter aussucht (das dann in der Annonce prompt sprachlich verhunzt wurde):

„Wie soll ich meine Seele halten, daß

sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie

hinheben über dich zu andern Dingen?

Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas

Verlorenem im Dunkel unterbringen

an einer fremden stillen Stelle, die

nicht weiterschwingt wenn deine Tiefen schwingen.

Doch alles was uns anrührt, dich und mich,

nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,

der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt?

Und welcher Spieler hat uns in der Hand?

O süßes Lied.“

Das Gedicht lässt sich allerdings nicht nur als Rückverweis auf Romers Debütwerk deuten, sondern zugleich auch als Leitgedanke für den folgenden Geigen-Roman verstehen, der eine Stimme aus zwei zugleich erklingenden Saiten zieht. Dies sind die Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren, die sich erst spät im Roman und nur für eine begrenzte Zeit treffen, aber dennoch (in Rilkes Metaphorik) auf das gleiche Instrument gespannt sind und einen Ton hervorbringen.

Das Mädchen in der Geige

Als Ich-Erzählerin fungiert diesmal eine namenlos bleibende Frau, womit der Bruch mit dem autobiographischen/autofiktionalen Kosmos der früheren Romane deutlich wird. Sie ist das titelgebende ‚Mädchen in der Geige‘, und in dem Roman blickt sie auf ihre strapaziöse Ausbildung als Geigerin von ihrem fünften Lebensjahr über die lokale Musikschule, Geigenlehrer:innen und Konservatorien bis zu ihrem ersten Auftritt als Debütantin einer Solist:innenklasse an der Wiener Hochschule für Musik zurück. Der Preis für seltene Erfahrungen von Transzendenz durch das Geigenspiel ist jedoch fatal: Der Weg zur Künstlerin geht sowohl über konstante Demütigungen tyrannischer Musikprofessoren als auch über die totale Disziplinierung des Körpers. Unsicherheit und Zweifel an der Berufung sind ebenso beständige Begleiter:innen wie Kontrollzwänge, Besessenheit, Dysmorphie und Bulimie. Künstlerische Perfektion ist nur um den Preis zu erreichen, für die Geige jedes normale Leben aufzugeben:

„Man hatte eine Wahl zu treffen und konnte nicht sowohl die Geige als auch das Leben wählen, wie es sonst aussah und was es anbot. Es war das eine oder das andere, alles oder nichts. Und wenn es misslang, verlor man beides gleichzeitig.“

„Man stod over for et valg og kunne ikke vælge både violinen og livet, som det ellers tog sig ud, og hvad det tilbød. Det var det ene eller det andet, alt eller intet. Og hvis det mislykkedes, mistede man begge dele samtidig.“ (S. 59)

Stolz notiert die Namenlose ihre „Geigennarbe“ („violinarret“, S. 85), die unter dem Kinn vom vielen Üben entstanden ist: Die Geige hat sich ihrem Körper eingeschrieben. Die Grenzen zwischen Künstlerin und Instrument werden im Laufe der Ausbildung porös, wobei die Künstlerin den passiven Part spielen muss: „Ich war auf die Saiten der Geige aufgespannt, die meine Laune bestimmte“ („Jeg var spændt ud i strengene på violinen, der bestemte mit humør“, S. 109), heißt es mit indirektem Bezug auf Rilkes „Liebes-Lied“ („Auf welches Instrument sind wir gespannt?“).

Der Masochismus, den sie beim Üben praktizieren muss, dringt jedoch in ihre Träume voller Gewalt ein, in die sie ihre aufkeimende Sexualität verdrängt hat. Kunst und Schmerz werden immer enger miteinander verwoben. Kurz vor Ende des Romans resümiert die Erzählerin: „Musik war Schmerz, nicht Lust – und je besser man spielte, desto mehr tat es weh“ („Musik var smerte, ikke lyst – og jo bedre man spillede, desto mere gjorde det ondt“, S. 135). Die Geige entpuppt sich als Äquivalent der Quitten im elterlichen Garten der Kindheit, über die die Erzählerin notiert: „Ich wunderte mich immer, wie eine Frucht, die so schön war und so herrlich duftete, so bitter schmecken konnte“ („Jeg undrede mig altid over, hvordan en frugt, der var så smuk og duftede så dejligt, kunne smage så bittert“, S. 19). Das Leben als Künstlerin ist kein lustvolles Naschen vom Apfelbaum der Erkenntnis, sondern der Biss in die Quitte.

Auftritt Iris Brendel

Parallel zur Geschichte der Ich-Erzählerin wird eine zweite Geschichte erzählt: die der zwar faktualen, aber gleichwohl fiktivisierten Iris Heymann-Gonzala, argentinische Sängerin und Keramikkünstlerin, bekannt geworden vor allem als erste Ehefrau des Ausnahmepianisten Alfred Brendel (geb. 1931), der 1960–72 mit ihr verheiratet war. In Rückblicken werden Alfred Brendels Kämpfe mit der eigenen Psyche geschildert, die lange seinen Durchbruch als Pianist von Weltrang verhinderten. Erst als 40jähriger konnte er 1971 in London überzeugen – und ging von dort aus auf eine Tournee, nach der er nicht mehr zu seiner Ehefrau in Wien zurückkehrte, die ihn all die schwierigen Jahre unterstützt hatte.

Iris Brendel begegnen die Leser:innen in der Erzählgegenwart des Romans im Wien der 1990er, wo sie mit dem Gespenst ihres Ex-Mannes in ihrer ehemals gemeinsam bewohnten Altbauwohnung lebt und versucht, der Einsamkeit zu entkommen. In dieses „versiegelte Museum“ („forseglet museum“, S. 105) zieht die Ich-Erzählerin nach über zwei Dritteln des Romans vorübergehend als Untermieterin ein. Für Alfreds Brendels ehemalige Ehefrau, die „von den Krümeln seiner Berühmtheit lebt“ („levede på krummerne af hans berømmelse“, S. 32), ist in diesem staubigen, muffigen Erinnerungsraum die gemeinsame Zeit stehengeblieben. Auch wenn der Literaturkritiker Bo Bjørnvig sich durch Romers Iris Brendel nachvollziehbar arg an Miss Havisham in Dickens Great Expectations (1861) erinnert fühlte („Hun holdt sin stemme i hånden“, in: Weekendavisen, 29.10.2021), gelingt Romer doch eine eindrückliche Beschreibung der ewigen Wiederholung des Immergleichen in Iris Brendels Welt, die mit dem Verlassen ihres Mannes gleichsam mumifiziert worden ist.

Kunst und Liebe

Auf welches Instrument aber sind diese beiden Lebensläufe gespannt? Was verbindet die aufstrebende Geigerin mit der verlassenen, in ihrer Einsamkeit erstarrten ersten Ehefrau von Alfred Brendel?

Der Roman endet mit dem Debüt der Geigerin als Solistin, doch der Roman bricht in seinen allerletzten Zeilen brutal mit der durch populäre Erzählschablonen konditionierten Erwartung der Leser:innen, die Künstlerin dürfe jetzt nach all ihrem Leiden für die Kunst wenigstens ihren wohlverdienten Triumph erfahren:

„Es schrie durch mich hindurch und schlug wie ein Blitz ein, der mich spaltete. Alles zerbrach. Es begann aus der Narbe zu bluten und verbrannte, als ich den Bogen auf die Saiten legte, ohne einen Ton zu hören.

Ich war in mir selbst eingeschlossen und für immer in der Geige gefangen und spielte kalte Noten. Weiße Flocken fielen vom Himmel auf mich herab.

Es schneite, und ich drehte mich herum und herum im Takt mit der Zeit, während das Leben an mir vorbeizog, und stand in der Mitte mit meiner Geige in der Spieldose.“

„Det skreg igennem mig og slog ned i et lyn, som skilte mig ad. Alting gik i stykker. Det begyndte at bløde fra arret og brændte op, som jeg satte buen mod strengene uden at høre en lyd.

Jeg var spærret inde i mig selv og lukket inde for evigt i violinen og spillede kolde toner. Det faldt i hvide fnug ned over mig fra himlen.

Det sneede, og jeg drejede rundt og rundt i takt med tiden, mens livet gik forbi, og stod i midten med min violin i spilledåsen.“ (S. 141)

Wie die von Alfred Brendel nach seinem Durchbruch verlassene Iris Brendel erlebt auch die namenlose Geigerin in dem Augenblick, in dem die künstlerischen Träume endlich wahr werden könnten, ihre schlimmste Niederlage. Wie diese wird sie eingesperrt und gefangen in dem kalten Augenblick des Scheiterns, verdammt zur ewigen mechanischen Wiederholung. Und wie diese wird sie zu Fall gebracht, weil sie sich dann doch auf das Instrument der Liebe und nicht der Geige hat spannen lassen. Denn kurz vor ihrem Debüt hatte die namenlose Ich-Erzählerin sich verliebt, hatte nackt mit ihrem Liebsten im Iris(!)see im Wiener Donaupark gebadet und war schließlich nachts nach Hause gekommen: „Ich war verliebt und schloss mir die Tür zum Mädchen auf, das auf mich im Zimmer wartete: bei mir selbst“ („Jeg var forelsket og låste mig ind til pigen, som ventede på mig i værelset: mig selv“, S. 137). Das von Beginn des Romanes an motivisch vorbreitete und an eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann erinnernde Ende mit dem Einsperren der Künstler:in in die dämonische Geige, ihre Reduktion zu einer Spieldosenfigur, ist damit vorgezeichnet.

Liebe und die Kunst erweisen sich als unvereinbar. Die Liebe macht einen verletzlich, wenn man auf ihr Instrument gespannt wird – das muss sowohl die Ich-Erzählerin als auch Iris Brendel erfahren. Auch dies mag man in Rilkes „Liebes-Lied“ vorweggenommen sehen, handelt das Gedicht doch auch von der Sehnsucht, dass die zwei Seelen eben nicht immer zusammen ertönen mögen.

Romers Roman über die Unvereinbarkeit von Kunst und Liebe liest sich längst nicht so allegorisch, wie es in dieser Analyse vielleicht anmuten mag. Farbig, mitunter schon karikaturhaft gezeichnete Nebenfiguren wie die exaltierte, unberechenbare Georgierin Mzia mit ihrem Familienclan oder die deutschstämmige Schlesierin Marie, die im Ausland als Begleitpianistin Geld verdient, um ihre Familie im tristen Katowice durchzubringen, während sie zugleich von einem schöneren Leben im Westen träumt, reichern die Personengalerie an und variieren das zentrale Thema des Romans. Liebevoll wird Wien mit seinem unvergleichlichen Musikmilieu geschildert. Auf marktübliche drei- bis fünfhundert Seiten ausgewalzt, wäre der Roman ermüdend. Doch Romer beschränkt sich klug auf 142 Seiten, auf denen sich allegorische Bedeutungsstruktur und die psychologischen Kosten einer Musiker:innenkarriere durchweg die Waage halten.

Knud Romer: Pigen i violinen. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021.

(Stephan Michael Schröder, Universität zu Köln)

  1. https://politiken.dk/annoncoerbetaltindhold/Nabolandskanalerne/art7560941/Knud-Romer-»Vi-danskere-er-meget-mere-tyske-end-vi-er-bevidste-om« (letzter Zugriff am 16.10.2023) ↩︎
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Die Endlichkeit des Seins: Malte Perssons Untergangslyrik

Der Untergang der Menschheit ist ein Topos mit langer Tradition in der europäischen Literatur, Philosophie und Mythologie. Als Reaktion auf drohende oder tatsächliche Katastrophen ist er immer wieder zum Einsatz gekommen, nicht zuletzt in der Lyrik (siehe dazu einen Essay im populärwissenschaftlichen Magazin Anekdot). Anhand dieses Topos haben skandinavische LyrikerInnen des 20. Jahrhunderts ihre Kriegserfahrungen und ihre Angst vor einem Atomkrieg in weltbekannten Werken verarbeitet, wie zum Beispiel Harry Martinson im Versepos Aniara (1956) oder später Inger Christensen in der Gedichtsammlung alfabet (1981, Alphabet, 1988).

In diese Reihe von UntergangslyrikerInnen ordnet sich Malte Persson 2021 mit seinem Gedichtband Undergången (Der Untergang) ein. In einem Interview auf der Buchmesse in Göteborg 2021 sagte der 1976 geborene, in Göteborg aufgewachsene und in Berlin lebende Schriftsteller, dass es sich in seinem Gedichtband um einen beliebigen künftigen Untergang handele, der die Menschheit mit Sicherheit früher oder später ausradieren wird. Die gegenwärtige Klimakrise sei im Band nicht unbedingt gemeint, so Persson, sondern habe eher den Anlass geboten, über eine Erde ohne Menschen nachzudenken. Für ihn sei es sogar ein tröstender Gedanke, dass die Menschheit nur ein kleiner Passus der Erdgeschichte ist und dass sie wie alle anderen Spezies einmal aussterben muss. Im Kontext des Klimadiskurses wird in Undergången aber die Frage gestellt, was gewesen wäre, wenn wir mit den Ressourcen der Erde anders – bei Persson heißt das mit mehr Verantwortung und weniger Profitgier – umgegangen wären:

Våra plikter svek vi. Mot de döda
och mot de levande och inte födda.
Mot de gudar vi med mänsklig möda
skapat och av vilka vi var stödda.

Elden som Prometheus låtit glöda
slocknar: efter alla övergödda
kommer andra som får ingen gröda
från de fält som elden gjort förödda.

Vetenskapens ljus ska också falna:
solen åter oförstådd i väster
stå i brand bortom de svedda fälten,

efter att vi slutat att som galna
till oss själva fira offerfester.
Efter måltiden och efter svälten.

(Unsere Pflichten versäumten wir. Gegenüber den Toten
und den Lebenden und den Ungeborenen
Gegenüber den Göttern, die wir im menschlichen Bemühen
erschaffen haben und von denen wir unterstützt waren.

Das Feuer, von Prometheus entfacht,
erlischt nun: den Überfressenen
folgen andere, die keine Nahrung erhalten
von den Feldern, die das Feuer zerstörte.

Das Licht der Wissenschaft wird auch verlöschen:
die Sonne im Westen wieder unverständlich
steht in Brand jenseits der versengten Felder,

nachdem wir aufgehört haben, wie Verrückte
uns selbst in Opferfesten zu feiern.
Nach dem Mahl und nach dem Hunger.)

Auffällig ist, dass Persson die Mehrzahl seiner eschatologischen Gedichte in Undergången als Sonette, Terzinen oder Villanellen mit sorgfältig konstruierter Metrik und Endreimen verfasst hat. Diese Formstrenge wurde schon im Sonettband Underjorden (2011, Die Unterwelt) umgesetzt, während sich die drei weiteren Lyrikbände frei zwischen klassischen Formen, Prosagedichten und offener Form bewegten. Seit Perssons Debüt mit dem Roman Livet på den här planeten (2002, Das Leben auf diesem Planeten) liegen zudem vier Kinderbücher und ein weiterer Roman vor. Im Allgemeinen sind Perssons Texte von unaufhörlichen Sprachspielen und Stilbrüchen gekennzeichnet; in Undergången reimen beispielsweise „Bacchus glada följe av backanter“ („Bacchus‘ fröhliches Gefolge aus Bacchanten“) aus der griechischen Mythologie mit dem umgangssprachlichen Kompositum „pantertanter“ (in etwa: „Golden Girls“). Seriöse Literatur muss nicht „besk medicin“ („bittere Medizin“) sein, meint Persson programmatisch in einer der Kulturkritiken, die er regelmäßig in der Boulevardzeitung Expressen schreibt. Perssons kunstreicher Umgang mit der Sprache prägt ebenfalls seine Tätigkeit als Übersetzer. Zusammen mit der Schriftstellerin Isabella Nilsson hat er zwei klassische Werke der Nonsensliteratur übersetzt, und für seine Übersetzungen von englisch-, deutsch- und französischsprachiger Lyrik ins Schwedische wurde er 2021 mit dem renommierten Übersetzungspreis von Samfundet De Nio ausgezeichnet.

Thematisch stehen Reflexionen über unsere Gegenwart stets im Mittelpunkt von Perssons eigenen Texten. Motive wie Vergänglichkeit und Vergeblichkeit sowie die Vereinsamung und die Absurditäten der spätmodernen Informations- und Konsumgesellschaft kommen häufig vor, wie auch Reflexionen über die Funktion, die die Lyrik in der heutigen, digitalen Medienlandschaft hat, beziehungsweise haben könnte. Das gilt besonders für den Gedichtband Till dikten (2018, An die Dichtung), der 2022 in einer Doppelausgabe mit Undergången neu herausgegeben wurde, aber auch für die Bände Underjorden und Undergången.

Die Parallelität zwischen diesen beiden Werken besteht nicht nur in der Formstrenge und der Namensähnlichkeit, sondern auch darin, dass Elemente aus den altnordischen und antiken Mythologien sowie in beiden Fällen historische Ereignisse den Rahmen der Gedichte bilden. In Underjorden wird der mythologische Topos des Niedersteigens in die Unterwelt – die sogenannte katabasis – mit großstädtischen U-Bahn-Fahrten der (Spät-)Moderne verbunden, während Undergången auf verschiedenste Phänomene der Weltgeschichte zurückgreift, um den kommenden Untergang der Menschheit erkennbar zu machen.

Wie wird die Welt nach der Apokalypse aussehen? Darauf gibt Undergången wenige konkrete Hinweise. Der Band beschäftigt sich stattdessen fast ausschließlich mit den noch existierenden Spuren, die die menschlichen Zivilisationen auf die Erde hinterlassen haben und die irgendwann, vielleicht sogar bald, ausgelöscht sein werden. In den drei größeren Abschnitten „Gudarna (1)“– „Gudarna (3)“ („Die Götter“ 1–3), die alle aus Sonetten bestehen, werden negierte Bilder in schneller Folge aufeinandergestapelt; im allerersten Sonett hält Hades niemanden mehr gefangen, niemand wird den wehenden Winden einen Namen geben, die Götter können niemanden vor dem Untergang retten. Ausdrücke der Verneinung wie „ingen“, „inga“, „inte“, „ingenting“, und „aldrig“ gehören zu den am häufigsten vorkommenden im ganzen Band. An die Stelle des Menschlichen und des Menschengemachten tritt in Undergången eine postapokalyptische Leere; auf dem Buchumschlag ist bezeichnenderweise die Formel „0 x 0 = 0“ (null mal null ist gleich null) abgedruckt. Diese Leere zeugt jedoch nicht von Nihilismus. Das lyrische Ich fragt mehrmals besorgt, wie der Untergang verhindert oder zumindest verzögert werden könnte und wie die größten Werte der menschlichen Zivilisation – die Sprache und die Literatur – bewahrt werden könnten. Aus der Position des Schriftstellers kommentiert das lyrische Ich diesen drohenden Verlust wie folgt:

Jag, som medlem av den gamla sekten,
undrar: går det att förhindra dådet?
Denna rikedom av ord vi ärver –

måste den helt säkert gå ur släkten?
Detta är det sista ordförrådet
och jag plundrar nu dess språkreserver.

(Ich, ein Mitglied der alten Sekte
frage mich: Ist die Tat noch abzuwenden?
Dieser Reichtum an Worten, den wir erben –

ist unabwendbar, dass er nie überliefert wird?
Dies ist der letzte Wortschatz
und gerade plündere ich seine Reserven.)

Die universalistische, sich über viele Seiten streckende Aufzählung des Untergehenden enthält Verweise auf Kunstwerke und Technologien, Ideen, Mythen und Diskurse sowie auf menschliche Gefühle und Gebräuche aus verschiedenen Zeitaltern. Auch in zwei sogenannten Zwischenspielen – „Övergiven byggnad“ („Verlassenes Gebäude“) und „Sagospel“ („Märchenspiel“) – verdichtet Malte Persson seinen eigenen Untergangsmythos anhand von Vanitasmotiven wie einem leerstehenden Gebäude, dem Kaninchen aus Alice in Wonderland, das ständig auf seine Uhr schaut, und dem Sturz des Ancien Régime. Paradoxerweise werden aber gleichzeitig alle diese Phänomene, deren Untergang in den Gedichten geschildert oder vorausgesagt werden, durch ihre verneinende Benennung heraufbeschwört und dokumentiert, wie eine Inventur ex negativo. Der schnelle Wechsel zwischen Motiven und Bildern in Undergången fordert einerseits die Lesenden heraus, aber andererseits lassen die strengen Formregeln ein beruhigendes Gefühl der Kontrolle entstehen. Der unüberschaubare, potenziell chaotische Untergang kontrastiert so mit der durchkomponierten Form der Gedichte.

Dies gilt auch für das letzte Gedicht in Undergången, „Världen alltmer hastigt bakåtspolad“ („Die Welt, immer schneller zurückgespult“), welches in fünfhebigem Blankvers die ganze Geschichte der Erde rückwärts erzählt, von den Pandemieschlagzeilen 2020 bis hin zu den physikalischen Einzelheiten des Urknalls. Unter allem, was im Gedicht genannt wird, finden sich viele Städte, die schrumpfen und verschwinden, deren einstige Bedeutung für ihre jeweilige Kultursphäre ausgelöscht wird, wie Paris, London, Konstantinopel, Rom und Athen, bis nur eine letzte Stadt des Altertums, Uruk, bleibt. Die Auslöschung der sozialräumlichen Form der Stadt steht auch für das Verschwinden der staatlichen Verwaltungssysteme, der Künste und der menschlichen Zivilisation überhaupt. Der Schlusspunkt der Rückwärtsbewegung durch die Geschichte der Erde ist ein Zustand, zu dem die Erde womöglich rückkehren wird, wenn keine Menschen mehr da sind, wie in Nietzsches Vorstellung der ewigen Wiederkunft des Gleichen. So gesehen ist der Untergang der Menschheit in Undergången sowohl ein historisches Bild als auch eine Zukunftsvision.

„Världen alltmer hastigt bakåtspolad“ erscheint beinahe wie ein Strudel von Diskurs- und Geschichtsfetzen oder wie eine Collage, die aus unzähligen Referenzen, Echos oder Samplings besteht. Auf ähnliche Weise ist Malte Persson besonders in seinem Gedichtband Apolloprojektet (2004, Das Apolloprojekt) vorgegangen. Neben dem Klimadiskurs weisen alle Gedichte in Undergången Bezüge zu anderen gegenwärtigen Diskursen auf, zum Beispiel zu den Debatten über Identitätspolitik und cancel culture, dem neoliberalen Rationalisierungsdiskurs und den kontroversen Diskussionen über die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa. Auch der Diskurs über die COVID-19-Pandemie kommt in drei ‚viralen‘ Villanellen im Zwischenspiel „Ur samtiden“ („Zeitgemäß“) vor. Im gleichen Abschnitt widmet Malte Persson auch seiner Wahlheimat Berlin eine Reihe von Terzinen. Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls am 9. November 2019 werden die deutsche Teilung und Wiedervereinigung vom lyrischen Ich reflektiert, was viele Fragen aufwirft:

Vad ska byggas? Vem ska riva?
Att ingen mur i längden kan bestå
är väl för lätt sagt och att överdriva?

Om rummet läks, vad sker med tiden då?
Att spårvagnsspår förbinder stadens delar,
förbinder det dess sår? Vad ser den på?

(Was wird gebaut? Wer wird abreißen?
Dass keine Mauer auf Dauer steht
– leichthin gesagt und eine Übertreibung?

Würde der Raum geheilt, was geschähe mit der Zeit?
Verbinden die Straßenbahnschienen die Teile der Stadt,
verbinden sie deren Wunden? Was mag sie sehen?)

Am Ende steht eine Antiklimax als Antwort: „staden skelar“ („die Stadt schielt“), die Sichtweisen gehen auseinander. Das könnte auch so gelesen werden: Berlin ist nicht zu der Hauptstadt der Einigkeit geworden, worauf gehofft wurde – dazu sind die Kontroversen zwischen ost- und westdeutschen Positionen sowie die sozialen Problemlagen wie die Wohnungsnot und die Arbeitslosigkeit zu groß gewesen. Im Gedicht erscheint Berlin somit als ein historisch-diskursives Stadtgebilde, das mit dem Blick eines Außenstehenden betrachtet wird, und nicht als Wohnort oder Wahlheimat des Verfassers. Eine persönliche Perspektive kommt überhaupt selten in Malte Perssons Texten zum Vorschein. Im Vordergrund stehen stattdessen stets seine formbewussten Reflexionen über unsere Gegenwart, die an weltweit aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen anschließen. Aufgrund der universalistischen Einrahmung könnte Undergången als eine Art collagehafte Weltliteratur bezeichnet werden, die auch zu Überlegungen über die Rahmenbedingungen der Gegenwartsliteratur und den Stellenwert der Lyrik einlädt.

(Hanna Henryson, Stockholms universitet)

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Ein Geflecht aus Materie und Worten

Trådar sträcker sig åt alla håll
rötter jag aldrig blev varse då du var med
du stod liksom i vägen
men nu syns de tydligt, lysande klara
nu, då jag är äldst
och är den som ska fortsätta
hålla i trådarna
tills nästa generation tar över

Tioåringens hand i min
då urnan sänks ner i marken
sexåringen på knä intill hålet
följer mormor med blicken
då hon försvinner
ner i mullen

Det är något i jorden här
som känner dig
och nu bekantar sig med mig
vädrar (S. 12-13)

(Fäden laufen in alle Richtungen
Wurzeln, die ich nie bemerkte, als Du dabei warst
du standest irgendwie im Weg
aber jetzt zeigen sie sich deutlich, leuchtend klar
jetzt, da ich die Älteste bin
und diejenige, die nun
die Fäden in der Hand hält
bis die nächste Generation übernimmt

Die Hand der Zehnjährigen in meiner
als die Urne in den Boden versenkt wird
der Sechsjährige auf den Knien am Loch
der Blick folgt Oma
während sie verschwindet
hinunter in die Erde

Da ist etwas hier in der Erde
das dich kennt
und nun Bekanntschaft schließt mit mir
wittert)

Maria Turtschaninoffs (geb. 1977) Episodenroman Arvejord (2022; „Geerbte Erde“) spinnt seine Fäden zu einem dichten Geflecht aus Materie und Worten, aus Menschen, Tieren, Pflanzen, Räumen und Zeiten, aus Genres und Intertexten. Dabei zieht er seine Leser*innen mit einer leichten, ruhigen und doch von einer unterschwelligen Spannung getriebenen Erzählweise in seinen Bann. Verortet ist die Erzählung im schwedischsprachigen Österbotten, wo der Hof Nevabacka und die ihn umgebende Umwelt den Knotenpunkt der Erzählung bilden, von welchem die Erzählstränge wie Schleifen ausgehen und zu dem sie wieder zurückkehren. Doch obgleich der Ort von so zentraler Bedeutung ist und zudem einen hohen Wiedererkennungseffekt für eine mit Finnland vertraute Leserschaft mit sich bringt, haben die (umwelt)ethischen Fragen, die der Roman aufwirft, eine viel weitreichendere, globale Dimension.

Maria Turtschaninoff ist bisher vor allem als Autorin von Fantasyromanen, die in erster Linie Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen, in Erscheinung getreten. Besonders ihre feministisch geprägte Trilogie über das rote Kloster [Maresi (2014), Naondel (2016) und Breven från Maresi (2018)] hat ihr auch über Finnlands Grenzen hinaus zu Bekanntheit verholfen. Diese vielschichtige Erzählung über ein Frauenkollektiv, das sich in einer durch Armut und männliche Gewalt geprägten fiktiven Welt behauptet, steht in der Tradition von Autorinnen wie Ursula K. Le Guin und Margret Atwood.

Arvejord wendet sich nun an ein erwachsenes Publikum und verlässt den Bereich der Fantasy weitgehend. Am Beginn steht ein Prosagedicht, in dem „die Tochter“, das lyrische Ich, seine Mutter beerdigt und sein Erbe in Besitz nimmt, obwohl es zu dem Hof, der seit dem 17. Jahrhundert der Familie gehört, nur eine oberflächliche Beziehung hat. Bald streckt der Ort (und damit sind menschliche und mehr-als-menschliche Umwelt gleichermaßen gemeint) jedoch seine Fühler nach dem Ich aus: „mina steg ljuder mot jorden/ och den lyssnar/ och den viskar/ jag känner dina steg/ jag vet vems dotter du är”. (S. 14 – „[M]eine Schritte hallen in die Erde/ und sie hört zu/ und sie wispert/ ich kenne deine Schritte/ ich weiß, wessen Tochter du bist“.)

Nach diesem Intro, das im 21. Jahrhundert angesiedelt ist, folgt ein Zeitsprung zurück ins 17. Jahrhundert zu Matts, der aufgrund seiner Verdienste als Soldat in „der Westhälfte des Reichs“ ein Stück Land in „der Osthälfte“ erhalten hat. Wie Knut Hamsuns Isaak beackert er die Wildnis und legt Nevabackas Grundstein. Doch weit führt diese Parallele nicht, denn als Matts einen Sumpf trockenlegen will, verführt ihn ein Waldwesen und nimmt ihm das Gelübde ab, das Gebiet unberührt zu lassen.

Aus deren Begegnung geht der Sohn Henric hervor, den das Waldwesen mit den moosgrünen Augen Matts überlässt. Damit nimmt die Familiengeschichte ihren Lauf über fünf Jahrhunderte, wobei „Familie“ sehr weit zu fassen ist, denn die Akteure des Romans sind nicht nur Menschen und magische Wesen, sondern auch Tiere, Pflanzen und Dinge, die ihren Weg nach Nevabacka finden oder von dort stammen. So begründet sich Verwandtschaft vielmehr durch die Beziehung und Zugehörigkeit zum Ort als durch eine konkrete Verwandtschaft oder mögliche genetische Verbindungen. Die frühen Passagen markieren deutlich, dass man es mit einer Erzählung des Nordic Weird zu tun hat, einem noch neuere Genre, das ich beispielsweise in meinem 2022 erschienen Beitrag „Von bewusstseinserweiternden Pflanzen oder der Überwindung des Menschen: Finnish/ Nordic Weird als literarische Antwort auf die ökologischen Krisen des Anthropozäns?“ erörtere (erschienen in Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki CVIII).

Gegliedert ist der Text in fünf Teile, die unterschiedlich lang sind, aber immer ein Jahrhundert umfassen. Sie werden eingeleitet durch kurze Zitate von schwedischen und finnländischen Schriftsteller*innen, Musiker*innen und/ oder Künstler*innen, jeweils von Sanna Manders Illustrationen umrahmt. (Einen Eindruck von Manders Arbeiten kann man auf ihrer Homepage gewinnen.) Es schließen sich Episoden aus dem Blickwinkel verschiedener Protagonist*innen an, die unterschiedlichen Genrekonventionen folgen. Neben erzählenden Passagen findet man einen Dialog in Dramenform, Gedichte und Briefe. Die Erzählperspektive wechselt häufig, wobei eine große Nähe zu vielen Akteur*innen hergestellt wird, obgleich man sie nur kurz begleitet. Dazu tragen besonders die intensiven Beschreibungen sinnlicher Wahrnehmungen bei. Mit wenigen Worten gelingt es Turtschaninoff, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Geräusche und visuelle Eindrücke so zu schildern, dass der*die Leser*in tief in den Ort eintaucht und damit ebenfalls Teil des Geflechts um Nevabacka wird.

Hier liegt die vielleicht größte Faszination des Romans, der zu einem forschenden Lesen einlädt und die Fürsorglichkeit, mit der dieses Geflecht hergestellt und die den vielgestaltigen Protagonist*innen zuteil wird, auf die Lesenden überträgt. Es zeigt sich bald, dass nichts in diesem Text unverbunden bleibt, doch die Zusammenhänge erschließen sich oft nur fragmentarisch oder zeitlich versetzt. Die episodenhafte Form erfordert eine fokussierte und genaue Lektüre, die den Schleifen folgt, um so allmählich eine tiefere Kenntnis über die Umgebung zu erlangen. Gegen Ende des Romans führt diese Lektüre zu einem deutlichen Wissensvorsprung gegenüber den menschlichen Protagonist*innen, welche sich die Vorgeschichte Nevabackas nur noch lückenhaft erschließen können. Einiges an Wissen und manche Erzählung werden zwar tradiert, jedoch ohne dass die Akteur*innen die Hintergründe genauer kennen. So darf beispielsweise eine besondere Eberesche nicht gefällt werden, obwohl niemand außer den Leser*innen mehr weiß, warum dies so ist. Anderes hingegen sagt den Akteur*innen der Gegenwart nichts mehr, obgleich es in einigen Episoden von zentraler Bedeutung war. Ein Beispiel dafür wäre die Hütte im Sumpf, die verschiedenen Protagonist*innen Unterschlupf gewährt hat, nun aber kaum noch zu sehen ist. Manche Dinge werden hingegen mit neuer Bedeutung aufgeladen, so wie eine unbenannte gelbe Blume aus dem Sumpf bei Nevabacka, die im Verlauf des Romans mal die Handlung vorantreibt, mal im Hintergrund bleibt.

Turtschaninoffs Erzählen erinnert ein wenig an Romane von Monika Fagerholm (geb. 1961), da auch hier von den Orten und Dingen eine Wirkmacht ausgeht, die bestimmend für die Handlung ist. Und ähnlich wie in Erzählungen von Rosa Liksom (geb. 1958) wird Fiktives mit Historischem (Kriege, Hungerjahre, Abwanderung in die Großstädte, Emigration nach Amerika etc.) aus einer feministisch geprägten Perspektive verknüpft, wobei dies in Arvejord weniger in Form von linearen Zeitverläufen als vielmehr in Gestalt eines atmosphärischen Zeit-Raum-Gewebes geschieht. Dabei zeigen sich die Weltbilder der Protagonist*innen mit ihren moralischen und religiösen Vorstellungen nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, sondern sie fließen auch in die erzählerische Vermittlung mit ein. Während naturmystische Wesen im 17. Jahrhundert noch als ein realer Teil der Lebenswelt auftreten, nimmt deren Einfluss im Verlauf der Handlung ab und wird zunächst durch eine christliche Sichtweise und später dann von einem naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt abgelöst. Lange sind Männer die Herren auf Nevabacka, doch in den letzten Kapiteln haben die Frauen übernommen.

Neben den die Kapitel einleitenden Zitaten von Gunnar Ekelöf (1907-1968), Helena Westermarck (1857-1938), Alexander Slotte (1861-1927), Lars Lerin (geb. 1954) und Mikael Wiehe (geb. 1946) werden zahlreiche weitere intertextuelle Referenzen eingewebt. Arvejord zeigt sich verwurzelt in der schwedischen Literatur Finnlands. Neben klassischen Autoren wie Johan Ludvig Runeberg (1804-77) und Karl August Tavaststjärna (1860-98) werden bekannte Topoi aus der literarischen Tradition aufgegriffen. So zum Beispiel ein Briefwechsel zwischen einer jungen an Tuberkulose erkrankten Frau und ihrer engsten Freundin, was die Assoziationen zu dem unter Ediths brev (1955; „Ediths Briefe“) in Teilen publizierten Briefwechsel zwischen den Avantgarde-Schriftstellerinnen Edith Södergran (1892-1923) und Hagar Olsson (1893-1978) führt. Das Kapitel „Sommaren mit Doris“ („Der Sommer mit Doris“) hingegen fängt eine Stimmung ein, die an Fagerholms Romane Underbara kvinnor vid vatten (1994; Wunderbare Frauen am Wasser) und Den amerikanska flickan (2004; Das amerikanische Mädchen) erinnert.

Im Verlaufe der Erzählung werden Rollenklischees oft anzitiert, dann aber geschickt unterlaufen. Es wird mit der Erwartungshaltung der Leserschaft gespielt, wenn Frauen zunächst so erscheinen, wie man es von ihnen in einer männerdominierten Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts erwartet, dann jedoch oft auf überraschende Weise als wirkmächtige Akteurinnen in Erscheinung treten und den Blick der Lesenden führen. Ähnliches gilt auch für Kinder, Tiere und mitunter sogar Pflanzen. So zum Beispiel in dem Kapitel „Bittra örter“ („Bittere Kräuter“). Hier kommt der junge Botaniker Per von der Universität im südfinnischen Åbo nach Nevabacka, um eine bisher unbekannte gelbe Blume zu finden. Die junge Bäuerin Sofia gibt sich Schwärmereien für den kultivierten Studenten hin, während sie seinen ausführlichen Erzählungen über seine Studien lauscht. Sie führt ihn täglich in den Sumpf, um den Zeitpunkt der Blüte abzupassen, da nur so sichergestellt werden kann, dass es sich um die gesuchte seltene Art handelt. Sofia träumt davon, dass Per sie mit nach Åbo nimmt, und sie so dem harten Leben auf dem Bauernhof entkommen kann. Doch eines Abends liest sie heimlich einen der Briefe, die Per regelmäßig an seine Kommilitonen schreibt. Dieser Brief ist vollständig wiedergegeben, so dass die Leser*innen durch Sofias Augen unmittelbar mit Pers Worten konfrontiert werden. Dabei mokiert er sich über die Dummheit der österbottnischen Bauern und beschreibt Sofias Gestalt abwertend als grobschlächtig. Sofia wird schmerzlich klar, dass ihr mit Per kein neues Leben winkt und gibt daraufhin vor, abergläubische Angst vor dem Sumpf zu haben, damit sie Per nicht länger begleiten muss.

Nachdem die Lesenden Sofias Perspektive sehr unmittelbar folgen konnten, rückt die Erzählinstanz ein Stück weit von ihr ab:

Hon gick ut i natten utan att väcka någon, och gick över gårdstunet in i skogen utan tillstymmelse till rädslan. Den enda som såg henne gå, var en spillkråka […]. Mörkret slukade henne genast. (S. 172.)

(Sie ging hinaus in die Nacht ohne jemanden zu wecken, und ging über den Hof in den Wald ohne eine Spur von Angst. Die Einzige, die sie gehen sah, war eine Wildkrähe […]. Die Dunkelheit schluckte sie sofort.)

Nach Sofias Abgang schließt sich ein weiterer Brief Pers an seinen Kommilitonen an, in dem er klagt, dass er Österbotten tief enttäuscht verlässt. Er habe mit Hilfe eines anderen Führers als der ängstlichen Bauersfrau den Sumpf aufgesucht und tatsächlich einige Pflanzen gefunden, die womöglich die gelbe Orchidee sein könnten, doch habe irgendein Tier oder Insekt alle Blütenblätter abgerupft, so dass man die Pflanze nicht mit Sicherheit identifizieren könne. Und damit endet die Erzählung über Sofia und Per.

Materialität und Diskursivität sind eng miteinander verflochten in diesem Roman, der durchdrungen ist von Wurzeln im konkreten botanischen wie im übertragenen kulturellen Sinne. Dabei wirft der Text zentrale ethische Fragen unserer Zeit auf. Eine dieser Fragen, die häufig im Kontext literarischer und philosophischer Auseinandersetzung mit dem Anthropozän anklingt, bezieht sich auf die Rolle und die Funktion naturmystischer Zugänge, die in Arvejord Anlass für einen respektvollen, ja fast ehrfürchtigen Umgang mit der natürlichen Umwelt geben. Dabei lädt der Roman jedoch nicht zu einer unkritischen Bejahung vorchristlicher Mythologien und Glaubenssysteme ein, sondern lässt auch deren Kehrseite anklingen, sprich einen Aberglauben, der Vorverurteilungen begünstigt.

In den Abschnitten über das 21. Jahrhundert, die die Erzählung rahmen, wird schließlich eine zentrale Umweltproblematik der heutigen Zeit thematisiert. Angesichts der Nachlässe, mit denen das Ich konfrontiert ist, drängt sich die Frage auf, wie man mit dem von Menschen hergestellten oder hinterlassenen Material, welches die Ökosysteme der Erde zunehmend überfordert, umgehen soll. Dabei wird der Bedeutungsverlust der Gegenstände durch die historisierende Perspektive schmerzhaft vor Augen geführt. Hatten die Menschen der früheren Generationen diese Dinge (Nahrungsmittel einbegriffen) noch mit harter körperlicher Arbeit und großen Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten errungen und in Stand gehalten, so haben sie inzwischen (scheinbar) markant an Wert und Nutzen verloren. Hier zeigt sich eine Entkopplung von der materiellen Wirklichkeit, die in der Gewissheit des Klimawandels als maladaptives Verhalten und Realitätsflucht erkennbar wird. Entsprechend fragt sich „die Tochter“ am Ende, welche Verantwortung man angesichts der Dinge gegenüber den Vorfahren und den kommenden Generationen hat. Aus den „Instruktionen“ der verstorbenen Mutter, die das letzte Kapitel des Romans bilden, geht hervor, dass sich dieses Verantwortungsbewusstsein auf die gesamte belebte Umwelt bezieht:

Jag har fredat skogen
man får inte hugga där på tio år
Skogsrenarna trivs
och grävlingarna
och den där ovanliga orkidén
i vindfällen lever insekter och svampar

Fast du gör som du vill
med alltsammans
Det är din tur nu

Jag hoppas att du kommer att trivas (S. 371)

(Ich habe den Wald schützen lassen
man darf hier zehn Jahre lang nichts fällen
Die Waldrentiere fühlen sich wohl
und die Dachse
und diese ungewöhnliche Orchidee
im Windfang leben Insekten und Pilze

Aber du machst, was du möchtest
mit alldem
Jetzt bist du an der Reihe

Ich hoffe, du wirst dich wohlfühlen)

Für die Lektüre des Romans bietet sich eine Vielzahl umwelttheoretischer Einfallswinkel an. Besonders Donna Haraways neumaterialistische Ansätze, die sie in Staying with the Trouble, 2016 darlegt, drängen sich auf. Sowohl ihre Überlegungen zum Kompost und den Fadenspielen, als auch ihre Forderung, sich „verwandt zu machen“ mit anderen Lebensformen, können leicht auf den Roman adaptiert werden. Ich möchte an dieser Stelle jedoch mit einem Zitat Bruno Latours, entnommen aus dem Essay Où atterrir? (2017) schließen, da es verdeutlicht, dass Turtschaninoffs Roman nicht nur eine umweltethische, sondern auch eine umweltkritische Dimension hat, die nicht an der Oberfläche, sondern vielmehr durch die zeitlichen, räumlichen und die mehr-als-menschlichen Verflechtungen, sozusagen im Wurzelsystem des Textes, ihre Wirkung entfaltet:

In einem Erzeugungssystem [im Gegensatz zu einem Produktionssystem] stellen sich alle Wirkkräfte, alle Lebewesen die Frage, ob sie Nachfahren haben und sich in Vorfahren wiedererkennen, kurz, ob sie Verwandtschaftslinien erkennen und sich darin einfügen, denen es gelingt zu überdauern. […]

Der perverse Charakter der Modernisierungsfront liegt darin, dass sie, indem sie den Begriff der Tradition verächtlich als etwas Verstaubtes abtat, jede Form von Weitergabe, Erbschaft, Wiederaufnahme und also Transformation, kurz: Erzeugung hintertrieb. Und das gilt für die Erziehung der Kleinkinder ebenso wie für die Landschaften, Tiere, Regierungen oder Gottheiten. (Latour, Das terrestrische Manifest, 2018, S. 102-103.)

Diese beiden Systeme sind in Turtschaninoffs Roman klar erkennbar. Besonders der feministischen Perspektive ist es dabei zu verdanken, dass auch dem Erzeugungssystem mit Ambivalenz begegnet wird. Arvejord ist weit entfernt von einer regressiven Utopie, auf die der Titel womöglich schließen lässt. Die Bedeutung von Verwandtschaftslinien, Erbschaft und Weitergabe wird zwar eindringlich vor Augen geführt, doch geschieht dies jenseits anthropozentrischer Parameter. Turtschaninoff bewegt sich auf einer Linie mit Haraway und Latour, da sich das Konzept der Verwandtschaft auf menschliche und mehr-als-menschliche Akteure sowie ihre Lebensräume ausweitet. In diesem Sinne erzählt Arvejord nicht nur die Geschichte einer mit vergangenen Zeiten verflochtenen Gegenwart, sondern die Fäden werden weiter gesponnen und weisen in eine mögliche Zukunft.

Maria Turtschaninoff: Arvejord, Förlaget: Helsingfors, 2022.

(Judith Meurer-Bongardt, Bonn & Köln)

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