Kaum ein Roman hat in den letzten beiden Jahrzehnten in Dänemark soviel massenmediale Aufmerksamkeit erregt wie Knud Romers 2006 erschienener Titel Den som blinker er bange for døden (ins Deutsche übertragen als Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod, 2009). Nach einer Karriere in der Reklamebranche sowie seinem Wirken als meinungsstarker Journalist und als Gelegenheitsschauspieler (in Lars von Triers Idioterne (1998, Die Idioten)) debütierte der damals schon 46-jährige mit einem Roman, der zu einer autofiktionalen, wenn nicht sogar autobiographischen Lektüre einlud: über das Aufwachsen des Erzählers im provinziellen, xenophoben Nykøbing/Falster und über dessen Mutter, eine Deutsche, die nach dem Krieg aus Liebe nach Dänemark übersiedelte und dort dem virulenten Deutschenhass der dänischen Kleinstädter mit Hilfe von Alkohol zu entfliehen suchte.
Wie historisch korrekt die geschilderten Ereignisse tatsächlich waren, wurde in der dänischen Presse kontrovers diskutiert. Romer benutzte die Debatte nicht zuletzt, um die lange identitätskonstituierende Abgrenzung zum südlichen Nachbarn zu hinterfragen und stattdessen die dänisch-deutschen Gemeinsamkeiten zu betonen. In einem Interview in späteren Jahren formulierte er seine Position so: „Wir sind weit deutscher, als wir uns bewusst sind. Aber nach dem Krieg von 1864 und dem Zweiten Weltkrieg haben wir einander den Rücken zugewandt und eine unnatürliche Grenze zwischen den zwei Ländern gezogen, wo der Übergang in Wirklichkeit gleitend ist“ („Vi er meget mere tyske, end vi er bevidste om. Men efter krigen i 1864 og Anden Verdenskrig har vi vendt hinanden ryggen og trukket en unaturlig grænse mellem de to lande, hvor overgangen i virkeligheden er glidende“).1
Romers nächster, ebenfalls autobiographisch gefärbter Roman über u.a. seine Studienzeit in Kopenhagen und seinen Kampf, ein Insel-Verlag-würdiger Autor zu werden, Kort over Paradis (2018, auf Deutsch als Kartographie der Hölle, 2020), ließ ganze zwölf Jahre auf sich warten. Seitdem verkürzen sich jedoch die Abstände zwischen seinen Büchern. Aktuell ist Romer auf dem dänischen Buchmarkt mit seiner ersten Novellensammlung Den svenske konges hemmelige marmeladeopskrift (2023, Das geheime Marmeladerezept des schwedischen Königs) präsent. Bereits 2021 erschien der im Folgenden besprochene Roman Pigen i Violinen (Das Mädchen in der Geige), ein stramm durchkomponierter Text, der Romer von seiner stärksten Seite zeigt.
„nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich“
Gleich einleitend werden in Pigen i violinen Kontinuität wie Diskontinuität zum früheren Werk Romers markiert: Vorangestellt ist dem Text Rilkes „Liebes-Lied“ (aus: Neue Gedichte, 1907), und zwar komplett in deutscher Originalfassung ohne Übersetzung. Leser:innen von Romers Debütwerk werden sich erinnern, dass der Erzähler in Den som blinker er bange for døden aus diesem Gedicht ein deutschsprachiges Zitat für die Todesannonce der Mutter aussucht (das dann in der Annonce prompt sprachlich verhunzt wurde):
„Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.“
Das Gedicht lässt sich allerdings nicht nur als Rückverweis auf Romers Debütwerk deuten, sondern zugleich auch als Leitgedanke für den folgenden Geigen-Roman verstehen, der eine Stimme aus zwei zugleich erklingenden Saiten zieht. Dies sind die Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren, die sich erst spät im Roman und nur für eine begrenzte Zeit treffen, aber dennoch (in Rilkes Metaphorik) auf das gleiche Instrument gespannt sind und einen Ton hervorbringen.
Das Mädchen in der Geige
Als Ich-Erzählerin fungiert diesmal eine namenlos bleibende Frau, womit der Bruch mit dem autobiographischen/autofiktionalen Kosmos der früheren Romane deutlich wird. Sie ist das titelgebende ‚Mädchen in der Geige‘, und in dem Roman blickt sie auf ihre strapaziöse Ausbildung als Geigerin von ihrem fünften Lebensjahr über die lokale Musikschule, Geigenlehrer:innen und Konservatorien bis zu ihrem ersten Auftritt als Debütantin einer Solist:innenklasse an der Wiener Hochschule für Musik zurück. Der Preis für seltene Erfahrungen von Transzendenz durch das Geigenspiel ist jedoch fatal: Der Weg zur Künstlerin geht sowohl über konstante Demütigungen tyrannischer Musikprofessoren als auch über die totale Disziplinierung des Körpers. Unsicherheit und Zweifel an der Berufung sind ebenso beständige Begleiter:innen wie Kontrollzwänge, Besessenheit, Dysmorphie und Bulimie. Künstlerische Perfektion ist nur um den Preis zu erreichen, für die Geige jedes normale Leben aufzugeben:
„Man hatte eine Wahl zu treffen und konnte nicht sowohl die Geige als auch das Leben wählen, wie es sonst aussah und was es anbot. Es war das eine oder das andere, alles oder nichts. Und wenn es misslang, verlor man beides gleichzeitig.“
„Man stod over for et valg og kunne ikke vælge både violinen og livet, som det ellers tog sig ud, og hvad det tilbød. Det var det ene eller det andet, alt eller intet. Og hvis det mislykkedes, mistede man begge dele samtidig.“ (S. 59)
Stolz notiert die Namenlose ihre „Geigennarbe“ („violinarret“, S. 85), die unter dem Kinn vom vielen Üben entstanden ist: Die Geige hat sich ihrem Körper eingeschrieben. Die Grenzen zwischen Künstlerin und Instrument werden im Laufe der Ausbildung porös, wobei die Künstlerin den passiven Part spielen muss: „Ich war auf die Saiten der Geige aufgespannt, die meine Laune bestimmte“ („Jeg var spændt ud i strengene på violinen, der bestemte mit humør“, S. 109), heißt es mit indirektem Bezug auf Rilkes „Liebes-Lied“ („Auf welches Instrument sind wir gespannt?“).
Der Masochismus, den sie beim Üben praktizieren muss, dringt jedoch in ihre Träume voller Gewalt ein, in die sie ihre aufkeimende Sexualität verdrängt hat. Kunst und Schmerz werden immer enger miteinander verwoben. Kurz vor Ende des Romans resümiert die Erzählerin: „Musik war Schmerz, nicht Lust – und je besser man spielte, desto mehr tat es weh“ („Musik var smerte, ikke lyst – og jo bedre man spillede, desto mere gjorde det ondt“, S. 135). Die Geige entpuppt sich als Äquivalent der Quitten im elterlichen Garten der Kindheit, über die die Erzählerin notiert: „Ich wunderte mich immer, wie eine Frucht, die so schön war und so herrlich duftete, so bitter schmecken konnte“ („Jeg undrede mig altid over, hvordan en frugt, der var så smuk og duftede så dejligt, kunne smage så bittert“, S. 19). Das Leben als Künstlerin ist kein lustvolles Naschen vom Apfelbaum der Erkenntnis, sondern der Biss in die Quitte.
Auftritt Iris Brendel
Parallel zur Geschichte der Ich-Erzählerin wird eine zweite Geschichte erzählt: die der zwar faktualen, aber gleichwohl fiktivisierten Iris Heymann-Gonzala, argentinische Sängerin und Keramikkünstlerin, bekannt geworden vor allem als erste Ehefrau des Ausnahmepianisten Alfred Brendel (geb. 1931), der 1960–72 mit ihr verheiratet war. In Rückblicken werden Alfred Brendels Kämpfe mit der eigenen Psyche geschildert, die lange seinen Durchbruch als Pianist von Weltrang verhinderten. Erst als 40jähriger konnte er 1971 in London überzeugen – und ging von dort aus auf eine Tournee, nach der er nicht mehr zu seiner Ehefrau in Wien zurückkehrte, die ihn all die schwierigen Jahre unterstützt hatte.
Iris Brendel begegnen die Leser:innen in der Erzählgegenwart des Romans im Wien der 1990er, wo sie mit dem Gespenst ihres Ex-Mannes in ihrer ehemals gemeinsam bewohnten Altbauwohnung lebt und versucht, der Einsamkeit zu entkommen. In dieses „versiegelte Museum“ („forseglet museum“, S. 105) zieht die Ich-Erzählerin nach über zwei Dritteln des Romans vorübergehend als Untermieterin ein. Für Alfreds Brendels ehemalige Ehefrau, die „von den Krümeln seiner Berühmtheit lebt“ („levede på krummerne af hans berømmelse“, S. 32), ist in diesem staubigen, muffigen Erinnerungsraum die gemeinsame Zeit stehengeblieben. Auch wenn der Literaturkritiker Bo Bjørnvig sich durch Romers Iris Brendel nachvollziehbar arg an Miss Havisham in Dickens Great Expectations (1861) erinnert fühlte („Hun holdt sin stemme i hånden“, in: Weekendavisen, 29.10.2021), gelingt Romer doch eine eindrückliche Beschreibung der ewigen Wiederholung des Immergleichen in Iris Brendels Welt, die mit dem Verlassen ihres Mannes gleichsam mumifiziert worden ist.
Kunst und Liebe
Auf welches Instrument aber sind diese beiden Lebensläufe gespannt? Was verbindet die aufstrebende Geigerin mit der verlassenen, in ihrer Einsamkeit erstarrten ersten Ehefrau von Alfred Brendel?
Der Roman endet mit dem Debüt der Geigerin als Solistin, doch der Roman bricht in seinen allerletzten Zeilen brutal mit der durch populäre Erzählschablonen konditionierten Erwartung der Leser:innen, die Künstlerin dürfe jetzt nach all ihrem Leiden für die Kunst wenigstens ihren wohlverdienten Triumph erfahren:
„Es schrie durch mich hindurch und schlug wie ein Blitz ein, der mich spaltete. Alles zerbrach. Es begann aus der Narbe zu bluten und verbrannte, als ich den Bogen auf die Saiten legte, ohne einen Ton zu hören.
Ich war in mir selbst eingeschlossen und für immer in der Geige gefangen und spielte kalte Noten. Weiße Flocken fielen vom Himmel auf mich herab.
Es schneite, und ich drehte mich herum und herum im Takt mit der Zeit, während das Leben an mir vorbeizog, und stand in der Mitte mit meiner Geige in der Spieldose.“
„Det skreg igennem mig og slog ned i et lyn, som skilte mig ad. Alting gik i stykker. Det begyndte at bløde fra arret og brændte op, som jeg satte buen mod strengene uden at høre en lyd.
Jeg var spærret inde i mig selv og lukket inde for evigt i violinen og spillede kolde toner. Det faldt i hvide fnug ned over mig fra himlen.
Det sneede, og jeg drejede rundt og rundt i takt med tiden, mens livet gik forbi, og stod i midten med min violin i spilledåsen.“ (S. 141)
Wie die von Alfred Brendel nach seinem Durchbruch verlassene Iris Brendel erlebt auch die namenlose Geigerin in dem Augenblick, in dem die künstlerischen Träume endlich wahr werden könnten, ihre schlimmste Niederlage. Wie diese wird sie eingesperrt und gefangen in dem kalten Augenblick des Scheiterns, verdammt zur ewigen mechanischen Wiederholung. Und wie diese wird sie zu Fall gebracht, weil sie sich dann doch auf das Instrument der Liebe und nicht der Geige hat spannen lassen. Denn kurz vor ihrem Debüt hatte die namenlose Ich-Erzählerin sich verliebt, hatte nackt mit ihrem Liebsten im Iris(!)see im Wiener Donaupark gebadet und war schließlich nachts nach Hause gekommen: „Ich war verliebt und schloss mir die Tür zum Mädchen auf, das auf mich im Zimmer wartete: bei mir selbst“ („Jeg var forelsket og låste mig ind til pigen, som ventede på mig i værelset: mig selv“, S. 137). Das von Beginn des Romanes an motivisch vorbreitete und an eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann erinnernde Ende mit dem Einsperren der Künstler:in in die dämonische Geige, ihre Reduktion zu einer Spieldosenfigur, ist damit vorgezeichnet.
Liebe und die Kunst erweisen sich als unvereinbar. Die Liebe macht einen verletzlich, wenn man auf ihr Instrument gespannt wird – das muss sowohl die Ich-Erzählerin als auch Iris Brendel erfahren. Auch dies mag man in Rilkes „Liebes-Lied“ vorweggenommen sehen, handelt das Gedicht doch auch von der Sehnsucht, dass die zwei Seelen eben nicht immer zusammen ertönen mögen.
Romers Roman über die Unvereinbarkeit von Kunst und Liebe liest sich längst nicht so allegorisch, wie es in dieser Analyse vielleicht anmuten mag. Farbig, mitunter schon karikaturhaft gezeichnete Nebenfiguren wie die exaltierte, unberechenbare Georgierin Mzia mit ihrem Familienclan oder die deutschstämmige Schlesierin Marie, die im Ausland als Begleitpianistin Geld verdient, um ihre Familie im tristen Katowice durchzubringen, während sie zugleich von einem schöneren Leben im Westen träumt, reichern die Personengalerie an und variieren das zentrale Thema des Romans. Liebevoll wird Wien mit seinem unvergleichlichen Musikmilieu geschildert. Auf marktübliche drei- bis fünfhundert Seiten ausgewalzt, wäre der Roman ermüdend. Doch Romer beschränkt sich klug auf 142 Seiten, auf denen sich allegorische Bedeutungsstruktur und die psychologischen Kosten einer Musiker:innenkarriere durchweg die Waage halten.
Knud Romer: Pigen i violinen. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021.
(Stephan Michael Schröder, Universität zu Köln)
- https://politiken.dk/annoncoerbetaltindhold/Nabolandskanalerne/art7560941/Knud-Romer-»Vi-danskere-er-meget-mere-tyske-end-vi-er-bevidste-om« (letzter Zugriff am 16.10.2023) ↩︎