Die Endlichkeit des Seins: Malte Perssons Untergangslyrik

Der Untergang der Menschheit ist ein Topos mit langer Tradition in der europäischen Literatur, Philosophie und Mythologie. Als Reaktion auf drohende oder tatsächliche Katastrophen ist er immer wieder zum Einsatz gekommen, nicht zuletzt in der Lyrik (siehe dazu einen Essay im populärwissenschaftlichen Magazin Anekdot). Anhand dieses Topos haben skandinavische LyrikerInnen des 20. Jahrhunderts ihre Kriegserfahrungen und ihre Angst vor einem Atomkrieg in weltbekannten Werken verarbeitet, wie zum Beispiel Harry Martinson im Versepos Aniara (1956) oder später Inger Christensen in der Gedichtsammlung alfabet (1981, Alphabet, 1988).

In diese Reihe von UntergangslyrikerInnen ordnet sich Malte Persson 2021 mit seinem Gedichtband Undergången (Der Untergang) ein. In einem Interview auf der Buchmesse in Göteborg 2021 sagte der 1976 geborene, in Göteborg aufgewachsene und in Berlin lebende Schriftsteller, dass es sich in seinem Gedichtband um einen beliebigen künftigen Untergang handele, der die Menschheit mit Sicherheit früher oder später ausradieren wird. Die gegenwärtige Klimakrise sei im Band nicht unbedingt gemeint, so Persson, sondern habe eher den Anlass geboten, über eine Erde ohne Menschen nachzudenken. Für ihn sei es sogar ein tröstender Gedanke, dass die Menschheit nur ein kleiner Passus der Erdgeschichte ist und dass sie wie alle anderen Spezies einmal aussterben muss. Im Kontext des Klimadiskurses wird in Undergången aber die Frage gestellt, was gewesen wäre, wenn wir mit den Ressourcen der Erde anders – bei Persson heißt das mit mehr Verantwortung und weniger Profitgier – umgegangen wären:

Våra plikter svek vi. Mot de döda
och mot de levande och inte födda.
Mot de gudar vi med mänsklig möda
skapat och av vilka vi var stödda.

Elden som Prometheus låtit glöda
slocknar: efter alla övergödda
kommer andra som får ingen gröda
från de fält som elden gjort förödda.

Vetenskapens ljus ska också falna:
solen åter oförstådd i väster
stå i brand bortom de svedda fälten,

efter att vi slutat att som galna
till oss själva fira offerfester.
Efter måltiden och efter svälten.

(Unsere Pflichten versäumten wir. Gegenüber den Toten
und den Lebenden und den Ungeborenen
Gegenüber den Göttern, die wir im menschlichen Bemühen
erschaffen haben und von denen wir unterstützt waren.

Das Feuer, von Prometheus entfacht,
erlischt nun: den Überfressenen
folgen andere, die keine Nahrung erhalten
von den Feldern, die das Feuer zerstörte.

Das Licht der Wissenschaft wird auch verlöschen:
die Sonne im Westen wieder unverständlich
steht in Brand jenseits der versengten Felder,

nachdem wir aufgehört haben, wie Verrückte
uns selbst in Opferfesten zu feiern.
Nach dem Mahl und nach dem Hunger.)

Auffällig ist, dass Persson die Mehrzahl seiner eschatologischen Gedichte in Undergången als Sonette, Terzinen oder Villanellen mit sorgfältig konstruierter Metrik und Endreimen verfasst hat. Diese Formstrenge wurde schon im Sonettband Underjorden (2011, Die Unterwelt) umgesetzt, während sich die drei weiteren Lyrikbände frei zwischen klassischen Formen, Prosagedichten und offener Form bewegten. Seit Perssons Debüt mit dem Roman Livet på den här planeten (2002, Das Leben auf diesem Planeten) liegen zudem vier Kinderbücher und ein weiterer Roman vor. Im Allgemeinen sind Perssons Texte von unaufhörlichen Sprachspielen und Stilbrüchen gekennzeichnet; in Undergången reimen beispielsweise „Bacchus glada följe av backanter“ („Bacchus‘ fröhliches Gefolge aus Bacchanten“) aus der griechischen Mythologie mit dem umgangssprachlichen Kompositum „pantertanter“ (in etwa: „Golden Girls“). Seriöse Literatur muss nicht „besk medicin“ („bittere Medizin“) sein, meint Persson programmatisch in einer der Kulturkritiken, die er regelmäßig in der Boulevardzeitung Expressen schreibt. Perssons kunstreicher Umgang mit der Sprache prägt ebenfalls seine Tätigkeit als Übersetzer. Zusammen mit der Schriftstellerin Isabella Nilsson hat er zwei klassische Werke der Nonsensliteratur übersetzt, und für seine Übersetzungen von englisch-, deutsch- und französischsprachiger Lyrik ins Schwedische wurde er 2021 mit dem renommierten Übersetzungspreis von Samfundet De Nio ausgezeichnet.

Thematisch stehen Reflexionen über unsere Gegenwart stets im Mittelpunkt von Perssons eigenen Texten. Motive wie Vergänglichkeit und Vergeblichkeit sowie die Vereinsamung und die Absurditäten der spätmodernen Informations- und Konsumgesellschaft kommen häufig vor, wie auch Reflexionen über die Funktion, die die Lyrik in der heutigen, digitalen Medienlandschaft hat, beziehungsweise haben könnte. Das gilt besonders für den Gedichtband Till dikten (2018, An die Dichtung), der 2022 in einer Doppelausgabe mit Undergången neu herausgegeben wurde, aber auch für die Bände Underjorden und Undergången.

Die Parallelität zwischen diesen beiden Werken besteht nicht nur in der Formstrenge und der Namensähnlichkeit, sondern auch darin, dass Elemente aus den altnordischen und antiken Mythologien sowie in beiden Fällen historische Ereignisse den Rahmen der Gedichte bilden. In Underjorden wird der mythologische Topos des Niedersteigens in die Unterwelt – die sogenannte katabasis – mit großstädtischen U-Bahn-Fahrten der (Spät-)Moderne verbunden, während Undergången auf verschiedenste Phänomene der Weltgeschichte zurückgreift, um den kommenden Untergang der Menschheit erkennbar zu machen.

Wie wird die Welt nach der Apokalypse aussehen? Darauf gibt Undergången wenige konkrete Hinweise. Der Band beschäftigt sich stattdessen fast ausschließlich mit den noch existierenden Spuren, die die menschlichen Zivilisationen auf die Erde hinterlassen haben und die irgendwann, vielleicht sogar bald, ausgelöscht sein werden. In den drei größeren Abschnitten „Gudarna (1)“– „Gudarna (3)“ („Die Götter“ 1–3), die alle aus Sonetten bestehen, werden negierte Bilder in schneller Folge aufeinandergestapelt; im allerersten Sonett hält Hades niemanden mehr gefangen, niemand wird den wehenden Winden einen Namen geben, die Götter können niemanden vor dem Untergang retten. Ausdrücke der Verneinung wie „ingen“, „inga“, „inte“, „ingenting“, und „aldrig“ gehören zu den am häufigsten vorkommenden im ganzen Band. An die Stelle des Menschlichen und des Menschengemachten tritt in Undergången eine postapokalyptische Leere; auf dem Buchumschlag ist bezeichnenderweise die Formel „0 x 0 = 0“ (null mal null ist gleich null) abgedruckt. Diese Leere zeugt jedoch nicht von Nihilismus. Das lyrische Ich fragt mehrmals besorgt, wie der Untergang verhindert oder zumindest verzögert werden könnte und wie die größten Werte der menschlichen Zivilisation – die Sprache und die Literatur – bewahrt werden könnten. Aus der Position des Schriftstellers kommentiert das lyrische Ich diesen drohenden Verlust wie folgt:

Jag, som medlem av den gamla sekten,
undrar: går det att förhindra dådet?
Denna rikedom av ord vi ärver –

måste den helt säkert gå ur släkten?
Detta är det sista ordförrådet
och jag plundrar nu dess språkreserver.

(Ich, ein Mitglied der alten Sekte
frage mich: Ist die Tat noch abzuwenden?
Dieser Reichtum an Worten, den wir erben –

ist unabwendbar, dass er nie überliefert wird?
Dies ist der letzte Wortschatz
und gerade plündere ich seine Reserven.)

Die universalistische, sich über viele Seiten streckende Aufzählung des Untergehenden enthält Verweise auf Kunstwerke und Technologien, Ideen, Mythen und Diskurse sowie auf menschliche Gefühle und Gebräuche aus verschiedenen Zeitaltern. Auch in zwei sogenannten Zwischenspielen – „Övergiven byggnad“ („Verlassenes Gebäude“) und „Sagospel“ („Märchenspiel“) – verdichtet Malte Persson seinen eigenen Untergangsmythos anhand von Vanitasmotiven wie einem leerstehenden Gebäude, dem Kaninchen aus Alice in Wonderland, das ständig auf seine Uhr schaut, und dem Sturz des Ancien Régime. Paradoxerweise werden aber gleichzeitig alle diese Phänomene, deren Untergang in den Gedichten geschildert oder vorausgesagt werden, durch ihre verneinende Benennung heraufbeschwört und dokumentiert, wie eine Inventur ex negativo. Der schnelle Wechsel zwischen Motiven und Bildern in Undergången fordert einerseits die Lesenden heraus, aber andererseits lassen die strengen Formregeln ein beruhigendes Gefühl der Kontrolle entstehen. Der unüberschaubare, potenziell chaotische Untergang kontrastiert so mit der durchkomponierten Form der Gedichte.

Dies gilt auch für das letzte Gedicht in Undergången, „Världen alltmer hastigt bakåtspolad“ („Die Welt, immer schneller zurückgespult“), welches in fünfhebigem Blankvers die ganze Geschichte der Erde rückwärts erzählt, von den Pandemieschlagzeilen 2020 bis hin zu den physikalischen Einzelheiten des Urknalls. Unter allem, was im Gedicht genannt wird, finden sich viele Städte, die schrumpfen und verschwinden, deren einstige Bedeutung für ihre jeweilige Kultursphäre ausgelöscht wird, wie Paris, London, Konstantinopel, Rom und Athen, bis nur eine letzte Stadt des Altertums, Uruk, bleibt. Die Auslöschung der sozialräumlichen Form der Stadt steht auch für das Verschwinden der staatlichen Verwaltungssysteme, der Künste und der menschlichen Zivilisation überhaupt. Der Schlusspunkt der Rückwärtsbewegung durch die Geschichte der Erde ist ein Zustand, zu dem die Erde womöglich rückkehren wird, wenn keine Menschen mehr da sind, wie in Nietzsches Vorstellung der ewigen Wiederkunft des Gleichen. So gesehen ist der Untergang der Menschheit in Undergången sowohl ein historisches Bild als auch eine Zukunftsvision.

„Världen alltmer hastigt bakåtspolad“ erscheint beinahe wie ein Strudel von Diskurs- und Geschichtsfetzen oder wie eine Collage, die aus unzähligen Referenzen, Echos oder Samplings besteht. Auf ähnliche Weise ist Malte Persson besonders in seinem Gedichtband Apolloprojektet (2004, Das Apolloprojekt) vorgegangen. Neben dem Klimadiskurs weisen alle Gedichte in Undergången Bezüge zu anderen gegenwärtigen Diskursen auf, zum Beispiel zu den Debatten über Identitätspolitik und cancel culture, dem neoliberalen Rationalisierungsdiskurs und den kontroversen Diskussionen über die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa. Auch der Diskurs über die COVID-19-Pandemie kommt in drei ‚viralen‘ Villanellen im Zwischenspiel „Ur samtiden“ („Zeitgemäß“) vor. Im gleichen Abschnitt widmet Malte Persson auch seiner Wahlheimat Berlin eine Reihe von Terzinen. Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls am 9. November 2019 werden die deutsche Teilung und Wiedervereinigung vom lyrischen Ich reflektiert, was viele Fragen aufwirft:

Vad ska byggas? Vem ska riva?
Att ingen mur i längden kan bestå
är väl för lätt sagt och att överdriva?

Om rummet läks, vad sker med tiden då?
Att spårvagnsspår förbinder stadens delar,
förbinder det dess sår? Vad ser den på?

(Was wird gebaut? Wer wird abreißen?
Dass keine Mauer auf Dauer steht
– leichthin gesagt und eine Übertreibung?

Würde der Raum geheilt, was geschähe mit der Zeit?
Verbinden die Straßenbahnschienen die Teile der Stadt,
verbinden sie deren Wunden? Was mag sie sehen?)

Am Ende steht eine Antiklimax als Antwort: „staden skelar“ („die Stadt schielt“), die Sichtweisen gehen auseinander. Das könnte auch so gelesen werden: Berlin ist nicht zu der Hauptstadt der Einigkeit geworden, worauf gehofft wurde – dazu sind die Kontroversen zwischen ost- und westdeutschen Positionen sowie die sozialen Problemlagen wie die Wohnungsnot und die Arbeitslosigkeit zu groß gewesen. Im Gedicht erscheint Berlin somit als ein historisch-diskursives Stadtgebilde, das mit dem Blick eines Außenstehenden betrachtet wird, und nicht als Wohnort oder Wahlheimat des Verfassers. Eine persönliche Perspektive kommt überhaupt selten in Malte Perssons Texten zum Vorschein. Im Vordergrund stehen stattdessen stets seine formbewussten Reflexionen über unsere Gegenwart, die an weltweit aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen anschließen. Aufgrund der universalistischen Einrahmung könnte Undergången als eine Art collagehafte Weltliteratur bezeichnet werden, die auch zu Überlegungen über die Rahmenbedingungen der Gegenwartsliteratur und den Stellenwert der Lyrik einlädt.

(Hanna Henryson, Stockholms universitet)

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