Ein Geflecht aus Materie und Worten

Trådar sträcker sig åt alla håll
rötter jag aldrig blev varse då du var med
du stod liksom i vägen
men nu syns de tydligt, lysande klara
nu, då jag är äldst
och är den som ska fortsätta
hålla i trådarna
tills nästa generation tar över

Tioåringens hand i min
då urnan sänks ner i marken
sexåringen på knä intill hålet
följer mormor med blicken
då hon försvinner
ner i mullen

Det är något i jorden här
som känner dig
och nu bekantar sig med mig
vädrar (S. 12-13)

(Fäden laufen in alle Richtungen
Wurzeln, die ich nie bemerkte, als Du dabei warst
du standest irgendwie im Weg
aber jetzt zeigen sie sich deutlich, leuchtend klar
jetzt, da ich die Älteste bin
und diejenige, die nun
die Fäden in der Hand hält
bis die nächste Generation übernimmt

Die Hand der Zehnjährigen in meiner
als die Urne in den Boden versenkt wird
der Sechsjährige auf den Knien am Loch
der Blick folgt Oma
während sie verschwindet
hinunter in die Erde

Da ist etwas hier in der Erde
das dich kennt
und nun Bekanntschaft schließt mit mir
wittert)

Maria Turtschaninoffs (geb. 1977) Episodenroman Arvejord (2022; „Geerbte Erde“) spinnt seine Fäden zu einem dichten Geflecht aus Materie und Worten, aus Menschen, Tieren, Pflanzen, Räumen und Zeiten, aus Genres und Intertexten. Dabei zieht er seine Leser*innen mit einer leichten, ruhigen und doch von einer unterschwelligen Spannung getriebenen Erzählweise in seinen Bann. Verortet ist die Erzählung im schwedischsprachigen Österbotten, wo der Hof Nevabacka und die ihn umgebende Umwelt den Knotenpunkt der Erzählung bilden, von welchem die Erzählstränge wie Schleifen ausgehen und zu dem sie wieder zurückkehren. Doch obgleich der Ort von so zentraler Bedeutung ist und zudem einen hohen Wiedererkennungseffekt für eine mit Finnland vertraute Leserschaft mit sich bringt, haben die (umwelt)ethischen Fragen, die der Roman aufwirft, eine viel weitreichendere, globale Dimension.

Maria Turtschaninoff ist bisher vor allem als Autorin von Fantasyromanen, die in erster Linie Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen, in Erscheinung getreten. Besonders ihre feministisch geprägte Trilogie über das rote Kloster [Maresi (2014), Naondel (2016) und Breven från Maresi (2018)] hat ihr auch über Finnlands Grenzen hinaus zu Bekanntheit verholfen. Diese vielschichtige Erzählung über ein Frauenkollektiv, das sich in einer durch Armut und männliche Gewalt geprägten fiktiven Welt behauptet, steht in der Tradition von Autorinnen wie Ursula K. Le Guin und Margret Atwood.

Arvejord wendet sich nun an ein erwachsenes Publikum und verlässt den Bereich der Fantasy weitgehend. Am Beginn steht ein Prosagedicht, in dem „die Tochter“, das lyrische Ich, seine Mutter beerdigt und sein Erbe in Besitz nimmt, obwohl es zu dem Hof, der seit dem 17. Jahrhundert der Familie gehört, nur eine oberflächliche Beziehung hat. Bald streckt der Ort (und damit sind menschliche und mehr-als-menschliche Umwelt gleichermaßen gemeint) jedoch seine Fühler nach dem Ich aus: „mina steg ljuder mot jorden/ och den lyssnar/ och den viskar/ jag känner dina steg/ jag vet vems dotter du är”. (S. 14 – „[M]eine Schritte hallen in die Erde/ und sie hört zu/ und sie wispert/ ich kenne deine Schritte/ ich weiß, wessen Tochter du bist“.)

Nach diesem Intro, das im 21. Jahrhundert angesiedelt ist, folgt ein Zeitsprung zurück ins 17. Jahrhundert zu Matts, der aufgrund seiner Verdienste als Soldat in „der Westhälfte des Reichs“ ein Stück Land in „der Osthälfte“ erhalten hat. Wie Knut Hamsuns Isaak beackert er die Wildnis und legt Nevabackas Grundstein. Doch weit führt diese Parallele nicht, denn als Matts einen Sumpf trockenlegen will, verführt ihn ein Waldwesen und nimmt ihm das Gelübde ab, das Gebiet unberührt zu lassen.

Aus deren Begegnung geht der Sohn Henric hervor, den das Waldwesen mit den moosgrünen Augen Matts überlässt. Damit nimmt die Familiengeschichte ihren Lauf über fünf Jahrhunderte, wobei „Familie“ sehr weit zu fassen ist, denn die Akteure des Romans sind nicht nur Menschen und magische Wesen, sondern auch Tiere, Pflanzen und Dinge, die ihren Weg nach Nevabacka finden oder von dort stammen. So begründet sich Verwandtschaft vielmehr durch die Beziehung und Zugehörigkeit zum Ort als durch eine konkrete Verwandtschaft oder mögliche genetische Verbindungen. Die frühen Passagen markieren deutlich, dass man es mit einer Erzählung des Nordic Weird zu tun hat, einem noch neuere Genre, das ich beispielsweise in meinem 2022 erschienen Beitrag „Von bewusstseinserweiternden Pflanzen oder der Überwindung des Menschen: Finnish/ Nordic Weird als literarische Antwort auf die ökologischen Krisen des Anthropozäns?“ erörtere (erschienen in Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki CVIII).

Gegliedert ist der Text in fünf Teile, die unterschiedlich lang sind, aber immer ein Jahrhundert umfassen. Sie werden eingeleitet durch kurze Zitate von schwedischen und finnländischen Schriftsteller*innen, Musiker*innen und/ oder Künstler*innen, jeweils von Sanna Manders Illustrationen umrahmt. (Einen Eindruck von Manders Arbeiten kann man auf ihrer Homepage gewinnen.) Es schließen sich Episoden aus dem Blickwinkel verschiedener Protagonist*innen an, die unterschiedlichen Genrekonventionen folgen. Neben erzählenden Passagen findet man einen Dialog in Dramenform, Gedichte und Briefe. Die Erzählperspektive wechselt häufig, wobei eine große Nähe zu vielen Akteur*innen hergestellt wird, obgleich man sie nur kurz begleitet. Dazu tragen besonders die intensiven Beschreibungen sinnlicher Wahrnehmungen bei. Mit wenigen Worten gelingt es Turtschaninoff, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Geräusche und visuelle Eindrücke so zu schildern, dass der*die Leser*in tief in den Ort eintaucht und damit ebenfalls Teil des Geflechts um Nevabacka wird.

Hier liegt die vielleicht größte Faszination des Romans, der zu einem forschenden Lesen einlädt und die Fürsorglichkeit, mit der dieses Geflecht hergestellt und die den vielgestaltigen Protagonist*innen zuteil wird, auf die Lesenden überträgt. Es zeigt sich bald, dass nichts in diesem Text unverbunden bleibt, doch die Zusammenhänge erschließen sich oft nur fragmentarisch oder zeitlich versetzt. Die episodenhafte Form erfordert eine fokussierte und genaue Lektüre, die den Schleifen folgt, um so allmählich eine tiefere Kenntnis über die Umgebung zu erlangen. Gegen Ende des Romans führt diese Lektüre zu einem deutlichen Wissensvorsprung gegenüber den menschlichen Protagonist*innen, welche sich die Vorgeschichte Nevabackas nur noch lückenhaft erschließen können. Einiges an Wissen und manche Erzählung werden zwar tradiert, jedoch ohne dass die Akteur*innen die Hintergründe genauer kennen. So darf beispielsweise eine besondere Eberesche nicht gefällt werden, obwohl niemand außer den Leser*innen mehr weiß, warum dies so ist. Anderes hingegen sagt den Akteur*innen der Gegenwart nichts mehr, obgleich es in einigen Episoden von zentraler Bedeutung war. Ein Beispiel dafür wäre die Hütte im Sumpf, die verschiedenen Protagonist*innen Unterschlupf gewährt hat, nun aber kaum noch zu sehen ist. Manche Dinge werden hingegen mit neuer Bedeutung aufgeladen, so wie eine unbenannte gelbe Blume aus dem Sumpf bei Nevabacka, die im Verlauf des Romans mal die Handlung vorantreibt, mal im Hintergrund bleibt.

Turtschaninoffs Erzählen erinnert ein wenig an Romane von Monika Fagerholm (geb. 1961), da auch hier von den Orten und Dingen eine Wirkmacht ausgeht, die bestimmend für die Handlung ist. Und ähnlich wie in Erzählungen von Rosa Liksom (geb. 1958) wird Fiktives mit Historischem (Kriege, Hungerjahre, Abwanderung in die Großstädte, Emigration nach Amerika etc.) aus einer feministisch geprägten Perspektive verknüpft, wobei dies in Arvejord weniger in Form von linearen Zeitverläufen als vielmehr in Gestalt eines atmosphärischen Zeit-Raum-Gewebes geschieht. Dabei zeigen sich die Weltbilder der Protagonist*innen mit ihren moralischen und religiösen Vorstellungen nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, sondern sie fließen auch in die erzählerische Vermittlung mit ein. Während naturmystische Wesen im 17. Jahrhundert noch als ein realer Teil der Lebenswelt auftreten, nimmt deren Einfluss im Verlauf der Handlung ab und wird zunächst durch eine christliche Sichtweise und später dann von einem naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt abgelöst. Lange sind Männer die Herren auf Nevabacka, doch in den letzten Kapiteln haben die Frauen übernommen.

Neben den die Kapitel einleitenden Zitaten von Gunnar Ekelöf (1907-1968), Helena Westermarck (1857-1938), Alexander Slotte (1861-1927), Lars Lerin (geb. 1954) und Mikael Wiehe (geb. 1946) werden zahlreiche weitere intertextuelle Referenzen eingewebt. Arvejord zeigt sich verwurzelt in der schwedischen Literatur Finnlands. Neben klassischen Autoren wie Johan Ludvig Runeberg (1804-77) und Karl August Tavaststjärna (1860-98) werden bekannte Topoi aus der literarischen Tradition aufgegriffen. So zum Beispiel ein Briefwechsel zwischen einer jungen an Tuberkulose erkrankten Frau und ihrer engsten Freundin, was die Assoziationen zu dem unter Ediths brev (1955; „Ediths Briefe“) in Teilen publizierten Briefwechsel zwischen den Avantgarde-Schriftstellerinnen Edith Södergran (1892-1923) und Hagar Olsson (1893-1978) führt. Das Kapitel „Sommaren mit Doris“ („Der Sommer mit Doris“) hingegen fängt eine Stimmung ein, die an Fagerholms Romane Underbara kvinnor vid vatten (1994; Wunderbare Frauen am Wasser) und Den amerikanska flickan (2004; Das amerikanische Mädchen) erinnert.

Im Verlaufe der Erzählung werden Rollenklischees oft anzitiert, dann aber geschickt unterlaufen. Es wird mit der Erwartungshaltung der Leserschaft gespielt, wenn Frauen zunächst so erscheinen, wie man es von ihnen in einer männerdominierten Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts erwartet, dann jedoch oft auf überraschende Weise als wirkmächtige Akteurinnen in Erscheinung treten und den Blick der Lesenden führen. Ähnliches gilt auch für Kinder, Tiere und mitunter sogar Pflanzen. So zum Beispiel in dem Kapitel „Bittra örter“ („Bittere Kräuter“). Hier kommt der junge Botaniker Per von der Universität im südfinnischen Åbo nach Nevabacka, um eine bisher unbekannte gelbe Blume zu finden. Die junge Bäuerin Sofia gibt sich Schwärmereien für den kultivierten Studenten hin, während sie seinen ausführlichen Erzählungen über seine Studien lauscht. Sie führt ihn täglich in den Sumpf, um den Zeitpunkt der Blüte abzupassen, da nur so sichergestellt werden kann, dass es sich um die gesuchte seltene Art handelt. Sofia träumt davon, dass Per sie mit nach Åbo nimmt, und sie so dem harten Leben auf dem Bauernhof entkommen kann. Doch eines Abends liest sie heimlich einen der Briefe, die Per regelmäßig an seine Kommilitonen schreibt. Dieser Brief ist vollständig wiedergegeben, so dass die Leser*innen durch Sofias Augen unmittelbar mit Pers Worten konfrontiert werden. Dabei mokiert er sich über die Dummheit der österbottnischen Bauern und beschreibt Sofias Gestalt abwertend als grobschlächtig. Sofia wird schmerzlich klar, dass ihr mit Per kein neues Leben winkt und gibt daraufhin vor, abergläubische Angst vor dem Sumpf zu haben, damit sie Per nicht länger begleiten muss.

Nachdem die Lesenden Sofias Perspektive sehr unmittelbar folgen konnten, rückt die Erzählinstanz ein Stück weit von ihr ab:

Hon gick ut i natten utan att väcka någon, och gick över gårdstunet in i skogen utan tillstymmelse till rädslan. Den enda som såg henne gå, var en spillkråka […]. Mörkret slukade henne genast. (S. 172.)

(Sie ging hinaus in die Nacht ohne jemanden zu wecken, und ging über den Hof in den Wald ohne eine Spur von Angst. Die Einzige, die sie gehen sah, war eine Wildkrähe […]. Die Dunkelheit schluckte sie sofort.)

Nach Sofias Abgang schließt sich ein weiterer Brief Pers an seinen Kommilitonen an, in dem er klagt, dass er Österbotten tief enttäuscht verlässt. Er habe mit Hilfe eines anderen Führers als der ängstlichen Bauersfrau den Sumpf aufgesucht und tatsächlich einige Pflanzen gefunden, die womöglich die gelbe Orchidee sein könnten, doch habe irgendein Tier oder Insekt alle Blütenblätter abgerupft, so dass man die Pflanze nicht mit Sicherheit identifizieren könne. Und damit endet die Erzählung über Sofia und Per.

Materialität und Diskursivität sind eng miteinander verflochten in diesem Roman, der durchdrungen ist von Wurzeln im konkreten botanischen wie im übertragenen kulturellen Sinne. Dabei wirft der Text zentrale ethische Fragen unserer Zeit auf. Eine dieser Fragen, die häufig im Kontext literarischer und philosophischer Auseinandersetzung mit dem Anthropozän anklingt, bezieht sich auf die Rolle und die Funktion naturmystischer Zugänge, die in Arvejord Anlass für einen respektvollen, ja fast ehrfürchtigen Umgang mit der natürlichen Umwelt geben. Dabei lädt der Roman jedoch nicht zu einer unkritischen Bejahung vorchristlicher Mythologien und Glaubenssysteme ein, sondern lässt auch deren Kehrseite anklingen, sprich einen Aberglauben, der Vorverurteilungen begünstigt.

In den Abschnitten über das 21. Jahrhundert, die die Erzählung rahmen, wird schließlich eine zentrale Umweltproblematik der heutigen Zeit thematisiert. Angesichts der Nachlässe, mit denen das Ich konfrontiert ist, drängt sich die Frage auf, wie man mit dem von Menschen hergestellten oder hinterlassenen Material, welches die Ökosysteme der Erde zunehmend überfordert, umgehen soll. Dabei wird der Bedeutungsverlust der Gegenstände durch die historisierende Perspektive schmerzhaft vor Augen geführt. Hatten die Menschen der früheren Generationen diese Dinge (Nahrungsmittel einbegriffen) noch mit harter körperlicher Arbeit und großen Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten errungen und in Stand gehalten, so haben sie inzwischen (scheinbar) markant an Wert und Nutzen verloren. Hier zeigt sich eine Entkopplung von der materiellen Wirklichkeit, die in der Gewissheit des Klimawandels als maladaptives Verhalten und Realitätsflucht erkennbar wird. Entsprechend fragt sich „die Tochter“ am Ende, welche Verantwortung man angesichts der Dinge gegenüber den Vorfahren und den kommenden Generationen hat. Aus den „Instruktionen“ der verstorbenen Mutter, die das letzte Kapitel des Romans bilden, geht hervor, dass sich dieses Verantwortungsbewusstsein auf die gesamte belebte Umwelt bezieht:

Jag har fredat skogen
man får inte hugga där på tio år
Skogsrenarna trivs
och grävlingarna
och den där ovanliga orkidén
i vindfällen lever insekter och svampar

Fast du gör som du vill
med alltsammans
Det är din tur nu

Jag hoppas att du kommer att trivas (S. 371)

(Ich habe den Wald schützen lassen
man darf hier zehn Jahre lang nichts fällen
Die Waldrentiere fühlen sich wohl
und die Dachse
und diese ungewöhnliche Orchidee
im Windfang leben Insekten und Pilze

Aber du machst, was du möchtest
mit alldem
Jetzt bist du an der Reihe

Ich hoffe, du wirst dich wohlfühlen)

Für die Lektüre des Romans bietet sich eine Vielzahl umwelttheoretischer Einfallswinkel an. Besonders Donna Haraways neumaterialistische Ansätze, die sie in Staying with the Trouble, 2016 darlegt, drängen sich auf. Sowohl ihre Überlegungen zum Kompost und den Fadenspielen, als auch ihre Forderung, sich „verwandt zu machen“ mit anderen Lebensformen, können leicht auf den Roman adaptiert werden. Ich möchte an dieser Stelle jedoch mit einem Zitat Bruno Latours, entnommen aus dem Essay Où atterrir? (2017) schließen, da es verdeutlicht, dass Turtschaninoffs Roman nicht nur eine umweltethische, sondern auch eine umweltkritische Dimension hat, die nicht an der Oberfläche, sondern vielmehr durch die zeitlichen, räumlichen und die mehr-als-menschlichen Verflechtungen, sozusagen im Wurzelsystem des Textes, ihre Wirkung entfaltet:

In einem Erzeugungssystem [im Gegensatz zu einem Produktionssystem] stellen sich alle Wirkkräfte, alle Lebewesen die Frage, ob sie Nachfahren haben und sich in Vorfahren wiedererkennen, kurz, ob sie Verwandtschaftslinien erkennen und sich darin einfügen, denen es gelingt zu überdauern. […]

Der perverse Charakter der Modernisierungsfront liegt darin, dass sie, indem sie den Begriff der Tradition verächtlich als etwas Verstaubtes abtat, jede Form von Weitergabe, Erbschaft, Wiederaufnahme und also Transformation, kurz: Erzeugung hintertrieb. Und das gilt für die Erziehung der Kleinkinder ebenso wie für die Landschaften, Tiere, Regierungen oder Gottheiten. (Latour, Das terrestrische Manifest, 2018, S. 102-103.)

Diese beiden Systeme sind in Turtschaninoffs Roman klar erkennbar. Besonders der feministischen Perspektive ist es dabei zu verdanken, dass auch dem Erzeugungssystem mit Ambivalenz begegnet wird. Arvejord ist weit entfernt von einer regressiven Utopie, auf die der Titel womöglich schließen lässt. Die Bedeutung von Verwandtschaftslinien, Erbschaft und Weitergabe wird zwar eindringlich vor Augen geführt, doch geschieht dies jenseits anthropozentrischer Parameter. Turtschaninoff bewegt sich auf einer Linie mit Haraway und Latour, da sich das Konzept der Verwandtschaft auf menschliche und mehr-als-menschliche Akteure sowie ihre Lebensräume ausweitet. In diesem Sinne erzählt Arvejord nicht nur die Geschichte einer mit vergangenen Zeiten verflochtenen Gegenwart, sondern die Fäden werden weiter gesponnen und weisen in eine mögliche Zukunft.

Maria Turtschaninoff: Arvejord, Förlaget: Helsingfors, 2022.

(Judith Meurer-Bongardt, Bonn & Köln)

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