Im Herbst ist ein neuer Roman von Hanne Ørstavik erschienen, ein richtiger Ørstavik-Roman heißt es in den Besprechungen der norwegischen Zeitungen. Leser/innen, die mit Ørstaviks Werk vertraut sind – zehn Romane und ein Lesedrama hat sie seit ihrem Debut 1994 veröffentlicht und dafür alle wichtigen norwegischen Literaturpreise bekommen – erwarten bei dieser Bezeichnung einen überaus formbewussten Text, der Fragen der Identität verhandelt. Und das bekommen sie auch. Einfache, aber präzise Beschreibungen und Schilderungen von Äußerem werden durchzogen, durchbrochen, überlagert, verzerrt, ergänzt von Passagen aus Gedankenströmen, Assoziationsfetzen und Reflexionsschleifen zur Frage nach dem Ich und der Welt. Eine vorsichtige, schwebende Annäherung an äußere und innere „Wirklichkeiten“ mit einem Netz von „virker som“, „som om“, „noe“, „det“, das sich über den Text zieht. Kleine Nuancen nehmen immer wieder etwas zurück, wo man sich eben sicher gefühlt hat. Wo es eben noch „hun“/“sie“ hieß, heißt es jetzt „jeg“/“ich“: „Hun vil så gjerne leve. Jeg vil så gjerne kjenne, kjenne meg levende, kjenne noe, før jeg dør.“ (33) – „Sie will so gerne leben. Ich will so gerne empfinden, mich lebendig fühlen, etwas empfinden, bevor ich sterbe.“ Wo man einen festen Punkt auszumachen scheint, wird dieser wieder zurückgenommen mit „tenker hun“/“denkt sie“ oder „sier hun til seg selv“/“sagt sie zu sich selber“ (30): „Hun ligger og ser ut i det hvite og vet at hun har begynt, noe har begynt, nå er det bare å fortsette. Sier hun til seg selv.“ (30) – „Sie liegt da und sieht hinaus ins Weiße und weiß, dass sie begonnen hat, etwas begonnen hat, nun gilt es nur, das fortzusetzen. Sagt sie zu sich selbst.“ Mit solchen Verfahren kommt Ørstavik zu dieser spezifischen Textwirkung, mit der sie ihr Publikum seit ihrem ersten Roman, Hakk (1994) konfrontiert. Dort war bereits am Druckbild zu erkennen, wie der Text aus kleinen Stücken entsteht, die sich gegenseitig kommentieren. In postmoderner Manier werden die Lesenden auch bei diesem Roman an der Textarbeit beteiligt, müssen selbst „weben“, damit ein/e Text/ur entsteht. Also ein Text in der für Ørstavik typischen Art, die den Lesenden hohe Aufmerksamkeit abfordert. Die die einen zu faszinierten Lesenden macht und die anderen vom Lesen abhält.
Die Handlung – wenn man es denn eine Handlung nennen möchte – ist schnell erzählt: Siv, 40, Schriftstellerin, bekommt das Angebot, in der Wohnung von Sally an der südenglischen Küste zu wohnen. Sally, eine englische Schriftstellerkollegin ist für mehrere Wochen in Rom, um dort zu schreiben. Siv nimmt das Angebot an, reist nach England, wohnt in der Wohnung, findet sich mit sich selbst konfrontiert und kann dem nur stundenweise entkommen, wenn überhaupt, nur in den Stunden, die sie in einer kleinen Boutique arbeitet, zwischen Klamotten und Kunden, ihrer Kollegin Pip und dem Ladeninhaber Leo. Während sie hier die Unmittelbarkeit menschlicher Begegnung erlebt, ist sie gleichzeitig damit beschäftigt, ihre vor kurzem beendete Beziehung zu Rudolf zu verarbeiten, die Beziehung zur Mutter und vor allem ihre Beziehung zu sich selbst und zum Schreiben. Als Sally plötzlich aus Rom zurückkommt, um ihre Mutter zu besuchen, die in Schwierigkeiten zu sein scheint, begleitet Siv sie. Sie reist jedoch früher wieder zurück und entschließt sich wenige Tage später, ihren Aufenthalt in England ganz zu beenden und nach Hause zurückzukehren.
Das ist also der Plot zu dem Titel „Hyenene“. Geübte Ørstavikleser verblüfft dabei gleich zu Beginn des Textes, dass „Hyenene“ – „die Hyänen“ nicht nur Metaphernspender sind, sondern bereits im ersten Satz des Romans überraschend konkrete Tiere, präsentiert in einem überraschend lebensweltlichen Medium: Siv sieht sich nachts Filme von Hyänen auf YouTube an. Die Auseinandersetzung mit den Hyänen als konkreten Tieren zieht sich durch den ganzen Roman – ihre Lebensweise, ihr Aussehen, die große Ähnlichkeit der männlichen und weiblichen Tiere, die auch an ihren Geschlechtsorganen kaum zu unterscheiden sind. Bereits am Anfang von Roman und Englandaufenthalt druckt Siv sich verschiene Bilder von Hyänen aus. Viel später, auf der Rückreise von Sallys Mutter, zieht sie sie wieder aus der Tasche und sieht sie sich intensiv an, betrachtet sie wie Porträts, kommt zu der Einschätzung „det er som de er så mange dyr på en gang, i én kropp, som om de har spor i seg av så mange andre“ (217) – „es ist, als ob sie so viele Tiere gleichzeitig sind, in einem Körper, als ob sie Spuren in sich hätten von so vielen anderen“ – von Bär, Hund, Pferd, Känguruh. Die Tiere werden als „Zusammengesetzte“ erkannt, hybrid, polyvalent, polymorph. Schließlich fragt sich Siv, warum sie nur die „netten“ Bilder ausgewählt hat, „die freundlichen, auf denen die Hyänen friedlich sind und fast niedlich aussehen, oder traurig; hat sie die andere Seite dieser Tiere ausgespart? Ihre gefährliche Seite, die Raserei und Wildheit, die Tatsache, dass sie töten. Warum hat sie nicht die Bilder ausgedruckt, die Menschen mit Verletzungen zeigen, die Hyänen ihnen zugefügt haben, und die Bilder, die die Hyänen mit offenem Maul zeigen, mit Blut auf der Zunge? Wie sie Fleisch aus noch lebenden Tieren reißen? Von hier aus entwickelt sich eine Erkenntnis von Gegensätzen, die nicht dialektisch vereint und doch aneinander gekoppelt sind: „De er både søte og farlige. Begge deler. Helt samtidig. Jeg må våge det, tenker hun.“ (229) – „Sie sind beides, süß und gefährlich. Beides. Ganz gleichzeitig. Ich muss es wagen, denkt sie.“ Und hier findet sie auch zu einer Einschätzung dazu, wie ein angemessenes Verhältnis zu einem Mann möglich sein kann: „Ikke skyte mannen, tenker hun, men slippe ham inn, slippe ham til. At han også er en del av meg, tenker Siv.“ (229) – „Nicht den Mann erschießen, denkt sie, sondern ihn hereinlassen, ihn heranlassen. Dass er auch ein Teil von mir ist, denkt Siv.“
Ist wirklich etwas anders geworden? „Og nå har jo noe forandret seg, Siv, sier hun til seg selv.“ (227) – „Und jetzt hat sich ja etwas verändert, Siv, sagt sie zu sich selbst.“ Hat Siv in diesen Wochen etwas „gelernt“, „erfahren“? Kann man einen Faden ziehen, Veränderungen, Entwicklungen daran aufreihen, ein Ich festmachen, eine Identität finden? Veränderungen durch was? Durch die Begegnungen mit den Leuten von der Boutique, durch das Verlieben in einen anderen Mann, durch den Besuch mit Sally bei deren Mutter, durch die Selbstbegegnung und die intensive Reflexionsarbeit? Ist am Schluss also ein Entwicklungsprozess abgeschlossen? Das hängt davon ab, welcher der Erzählstimmen man Glauben schenken kann und will bzw. ob man überhaut einer der Bewusstseinsinstanzen vertraut. Aber es spricht vieles für einen Wandel. Der letzter Absatz zeigt Siv jedenfalls im Flugzeug, die Sicherheitsanweisungen sind soeben zu Ende, das Flugzeug ist durch die Wolken in das starke Licht der Sonne gekommen. Siv sieht hinaus, in das Weiße, das Weiche, nimmt ihre Hände wahr, wie sie auf dem Mantel liegen, halb ineinander, die offenen Handflächen nach oben.
Hanne Ørstavik: Hyenene. Oktober Forlaget, 2011
(Simone Schiedermair, Greifswald, März 2012)