I.
Der Debütroman der norwegischen Autorin Marie Aubert (geb. 1979) Voksne mennesker (Erwachsene Menschen) erschien 2019 bei Forlaget Oktober. Dieses Werk mit Fokus auf einer 40-jährigen Hauptperson, die mit dem Erwachsenwerden hadert, bekam interessanterweise im selben Jahr Ungdommens kritikerpris, der von norwegischen Schüler*innen vergeben wird. Rezensent*innen beschrieben das Buch einerseits als schnell vergessene Lektüre (Anne Cathrine Straume), andererseits wurde das Buch als „rig på stille dramatik“ („reich an stiller Dramatik“) (Kristin Vego) positiv hervorgehoben. Die deutsche Übersetzung von Ursel Allenstein erschien 2021 im Rowohlt Verlag. Der skandinavische psychologische Realismus scheint sich großer Beliebtheit zu erfreuen, denn die deutsche Version des Debütbands Marie Auberts Kan jeg bli med deg hjem (Kann ich mit zu dir?) von 2016 ist für 2022 geplant.
II.
Voksne mennesker lässt sich als Familiendrama beschreiben, dem Auberts frühere Erfahrungen mit kürzeren Texten anzumerken sind. Die schnell voranschreitende Handlung erstreckt sich über ein paar Tage und ist in einem Ferienhaus auf einer kleinen Insel im südlichen Norwegen situiert. Hier begegnen wir der Ich-Erzählerin Ida, ihrer Schwester Marthe, Marthes Mann Kristoffer und Kristoffers Tochter aus seiner ersten Beziehung, Olea. Später kommen Idas und Marthes Mutter, die im Verlauf der Erzählung ihren 65. Geburtstag feiern wird, und ihr Freund nach.
Wir erfahren, dass die Hauptfigur Ida, bereits 40 und Single, kürzlich einen Arzt in Göteborg aufgesucht hat, um ihre Eizellen zwecks einer zukünftigen Schwangerschaft einfrieren zu lassen. Als ihre Schwester Marthe ihr kurz nach der Ankunft auf der Insel mitteilt, dass sie schwanger ist, kann Ida damit nicht umgehen: Sie ist der Meinung, dass Marthe ein eigenes Kind und einen netten Freund wie Kristoffer nicht verdient. Marthe habe sich in ihrem Leben nie anstrengen müssen und könne dennoch das Glück einer eigenen Familie genießen.
Diese angespannte Ausgangsituation zwischen den Schwestern verkompliziert sich durch eine Annäherung von Ida und Kristoffer in betrunkenem Zustand. An diesem Abend vertraut Kristoffer Ida an, dass er eigentlich kein weiteres Kind möchte. Ida behält dieses Geständnis nicht für sich, sondern erzählt es Marthe. Zudem wird die Stimmung durch den Vorschlag Marthes und Kristoffers getrübt, das Haus ganz für sich zu nutzen und Ida ihren Anteil des Sommerhauses abzukaufen. Fast keine Beziehung innerhalb der Familie bleibt unbelastet.
Ida versucht, in unterschiedliche Rollen in der Familienkonstellation zu schlüpfen. Heimlich schleicht sie in Marthes und Kristoffers Zimmer, legt sich in deren Bett, kann aber doch nicht liegen bleiben. Sie probiert Kristoffers Schuhe an, in denen ihre Füße wie Kinderfüße aussehen. Mit 40 kann sie nicht mehr zu einem Kind werden. Am Badestrand überkommt sie eine Kindheitserinnerung: „Føttene mine blir til barneføtter, korte bein som må ta sats på det høye trinnet ned fra en liten fjellhylle […]“ (Kap. 5; „Meine Füße werden zu Kinderfüßen, kurze Beine, die sich mutig von einem hohen Felsvorsprung abstoßen müssen […]“).Die Erinnerungssequenz endet abrupt mit der kleinen Schwester Marthe, die von hinten angelaufen kommt und sagt: „så rar du ser ut“ (Kap. 5; „wie komisch du aussiehst“). Ida wird ins Hier und Jetzt zurückgeworfen. Durch ihr Verharren in Kindheitsmustern steht sie sich selbst im Wege.
III.
Die Handlung wird von der Schilderung von drei Bootsausflügen durchzogen, die die Autorin nutzt, um die psychologische Handlungsebene durch einige Metaphern, in denen das Wasser und die Meereslandschaften eine Rolle spielen, zu untermauern. Den ersten Bootsausflug im Fjord unternimmt Ida allein. Sie versucht, der Enge der Insel und des Ferienhauses zu entkommen: „Jeg kunne kjørt og kjørt til jeg ikke så land, til jeg ble mindre og mindre, helt til jeg løste meg opp […]” (Kap. 9; „Ich könnte […] hinausfahren. Jetzt könnte ich es machen. Immer weiter, bis ich kein Land mehr sehe, bis ich kleiner und kleiner werde, mich auflöse […]”). Solange die Möglichkeit besteht, aufs offene Meer hinauszufahren, erhofft sich Ida, nicht zu verschwinden: „Jeg er her, tenker jeg, jeg er her, jeg er her. Jeg er her, jeg skal ikke dø, jeg skal ikke forsvinne, jeg er her“ (Kap. 9; „Ich bin hier, denke ich, ich bin hier, ich bin hier. Ich bin hier, ich werde nicht sterben, ich werde nicht verschwinden, ich bin hier”). Diese Vorstellung vom offenen Meer lässt sich mit der Hoffnung auf eine Schwangerschaft und der gleichzeitigen Furcht vor ihr in Zusammenhang bringen. Ida versucht, in der Selbstbestimmung ihrem Leben Bedeutung zu verleihen.
Die zweite Bootsfahrt hängt mit der ersten zusammen. Alle Familienmitglieder sind anwesend und Marthe ist am Steuer. Sie will zeigen, wie gut sie das Steuern des Boots gelernt hat. Mitten im Fjord bleibt das Boot allerdings wegen des leeren Tanks stehen. Ida weiß, dass eigentlich sie die Panne verursacht hat, denn sie ist in der Früh allein hinausgefahren, ohne nach der Fahrt den Tank nachzufüllen. Sie gibt das aber nicht zu und erlebt ein befriedigendes Überlegenheitsgefühl, nachdem die Fahrt unter Marthes Leitung misslingt. Marthe scheint das Meer nicht auf die gleiche Weise zur Verfügung zu stehen wie Ida.
Während die ersten zwei Bootsausflüge Idas Selbstbestätigung dienen, stellt der dritte eine Katastrophe für sie dar. Kurz bevor sie und Olea ausfahren, erhält Ida die Nachricht, dass ihre Eizellen höchstwahrscheinlich nicht eingefroren werden können, wodurch auf der psychologischen Ebene der dramatische Höhepunkt erreicht wird. Auf der Handlungsebene manifestiert sich dieser wenig später in Form eines Unfalls, bei dem die sechsjährige Olea, die unter Idas Aufsicht steht, ins Wasser fällt. Plötzlich nimmt das Wasser für Ida eine bedrohliche Form an. Die Beziehung zwischen ihr und dem einzigen Kind im Ferienhaus, Olea, ist beeinträchtigt und Idas Fahrkompetenzen werden von allen anderen angezweifelt.
Nach der letzten Bootsfahrt stellt sich die Frage: Wie würde Ida mit dem Leben als Mutter zurechtkommen, wenn sie nicht einmal imstande ist, für kurze Zeit auf Olea aufzupassen? Von ihrem Umfeld mit der Vorstellung eines erwachsenen Lebens mit Mann und Kind konfrontiert, zweifelt Ida nun selbst, ob sie die Verantwortung für ein Kind übernehmen könnte. Die Hoffnung auf eine Schwangerschaft und der offene Horizont des Meeres scheinen zugleich zu verblassen. Am Ende, bevor Ida als Letzte das Ferienhaus verlässt, erhalten wir Einblick in ihren Gedankengang, wobei an die oben zitierten Sätze angeknüpft wird. Sie blättert im Gästebuch des Sommerhauses und stellt fest, dass ihre eigenen knappen Einträge stark mit den vielen ausführlicheren Anmerkungen von Schwester und Mutter kontrastieren und resümiert: „Jeg skulle vært her mye mer, eller jeg skulle vært her på en annen måte, ingen vil vite at jeg har vært her“ (Kap. 23; „Ich hätte viel öfter hier sein sollen, ich hätte auf eine andere Weise hier sein sollen, niemand wird wissen, dass ich hier war“). Ida bittet am Ende des Romans ihre Mutter und deren Freund, das Sommerhaus vorzeitig zu verlassen. Dieser aktive Versuch, das Erwachsenwerden voranzutreiben, korrespondiert mit ihrer Entscheidung, ihren Anteil des Sommerhauses an Marthe und Kristoffer zu verkaufen. Sie will sich nicht länger mit ihrem kleinen Zimmer zufriedengeben, nicht länger die Rollen der anderen einnehmen, um Anerkennung zu gewinnen, oder sich von ihren Kindheitserinnerungen im Sommerhaus limitiert fühlen.
Zwei Interpretationen dieses Schlusses bieten sich an. Ida glaubt, gescheitert zu sein, weil sie ihr Leben nicht selbstbestimmt führt. Gleichzeitig könnte aber die Einsicht, dass ihr Leben in Zukunft unterschiedliche Formen annehmen kann, befreiend sein und ihr dabei helfen, sich mit der schwindenden Hoffnung auf ein eigenes Kind zu arrangieren.
IV.
Der Interpretationsoffenheit, wie wir sie am Ende des Buches finden, bedient sich Aubert nicht konsequent. Die größte Schwäche des Romans manifestiert sich in der Darstellung der Beziehung zwischen Ida und Marthe. Statt ab und zu die Handlungen sprechen zu lassen, werden die Lesenden ausschließlich mit Idas Sichtweise konfrontiert, die die Beziehung zwischen den Schwestern stark überzeichnet erscheinen lässt. Während Aubert in ihren Novellen von 2016 mehr unausgesprochen ließ, werden die Leser*innen von Voksne mennesker öfter als notwendig an die Hand genommen.
Obwohl die Darstellung der Beziehung der Schwestern nur bedingt geglückt ist, ruft Voksne mennesker erfolgreich sowohl Sympathiegefühle für die Hauptfigur Ida als auch Ablehnung ihr gegenüber hervor, wodurch keine einfachen Schlüsse am ambivalenten Ende des Romans zu ziehen sind. Die scheinbare Familienidylle im südlichen Norwegen ist entlarvt und die Insel als Zufluchtsort geschickt entmystifiziert.
Marie Aubert: Voksne mennesker. Oslo: Forlaget Oktober 2019.
(Anton Matejicka, Universität Wien)