Thomas Espedal ist, was die Rezeption und das knappe Piano seiner Sprache anlangt, leise unter den ‚Selbsterzählern’, viel leiser als der über Norwegen hinaus auch in Deutschland und den U.S.A. hinreichend bekannte Karl Ove Knausgård und seine monumentale Hexalogie (Espedal selbst spricht von „800 faste lesere“ („800 festen Lesern“), vgl. den Beitrag von Siri Økland mit dem Titel Tomas Espedal: – Ja, jeg er en åndssnobb (Tomas Espedal: Ja, ich bin ein Bildungssnobb) in Aftenposten kultur vom 21.12.2012; vgl. zur Knausgård-Rezeption in den U.S.A. den Beitrag von Lisa Abend mit dem Titel Norway’s Proust. The unlikely stardom of Karl Ove Knausgaard im Time Magazine vom 02.07.2014). Dabei ist Espedals autonarrativ wiedergegebener ‚Lebenskampf’ nicht minder intensiv, nicht weniger schwer als Knausgårds, dazu durchdrungen von einer besonderen Sensibilität für das Tragische des Alltags. Espedals Ich-Erzählerstimme zeichnet vor allem eine Erlebnisfähigkeit für das Leidvolle aus. Seine Prosa erscheint als aufrichtige Introspektion und Selbstreflexion, ein intimes Abrechnen mit den eigenen Handlungen und Handlungsmotivationen, zugleich jedoch auch als ein eindringlicher, flehentlicher Ruf nach Erlösung von niederschmetternden Schicksalsschlägen und von der gnadenlosen Forderung des Lebens, wieder aufstehen, weitergehen, weitermachen zu müssen.
Der 48-jährige Ich-Erzähler Tomas, der – wie auch in anderen Werken Espedals – die Möglichkeit zum Wechsel in eine Außenposition hat, in der er von sich selbst in der dritten Person spricht, trifft auf einer Silvesterparty eine sehr junge Frau namens Janne, die nur etwa halb so alt ist wie er selbst. Die beiden ziehen sich in ein abseits gelegenes Bibliothekszimmer des Gastgebers zurück und erleben ein leidenschaftliches sexuelles Abenteuer. Während Janne wegen des Altersunterschieds anfänglich unsicher ist, empfindet der Ich-Erzähler sie sofort als einzig wahre und tiefste Liebe seines Lebens.
Trotz der fulminanten Introduktion (Kapitel „Biblioteket“ („Die Bibliothek“)) schwebt von Anfang an eine Tragik über der Beziehung. Diese Tragik wird allerdings erst nach einem langen retrospektiven Intermezzo (Kapitel „Arbeidet, fabrikken“ („Die Arbeit, die Fabrik“), „Kjærlighetsarbeidet“ („Die Liebesarbeit“) und „Arbeidsrom, laboratorierom“ („Arbeitszimmer, Laboratorium“) erzählerisch fortgeführt. Wiederholt vergleicht der Ich-Erzähler seine Beziehung mit derjenigen zwischen dem 38-jährigen Philosophen Pierre Abélard und dessen 16-jähriger Schülerin Heloïse. Deren Liebe endete nach Heloïses entdeckter Schwangerschaft in einer gewaltsamen Trennung, der Entmannung Abélards durch Heloïses gekränkten Onkel Fulbert und der ‚Verwahrung’ beider ehemals Liebender in Klöstern. Abélards in Historia Calamitatum vermittelte Stimmung bildet den psychisch-emotionalen Subtext, vor dem Wider die Natur zu lesen ist. Der Briefwechsel des mittelalterlichen Philosophen mit Heloïse wird ausschnittweise als Intertext in einer norwegischen Übersetzung von Harald Gullichsen zitiert. Auch Ovids Liebeskunst bildet in Thea Selliaas Thorsens norwegischer Übersetzung einen Referenztext, nimmt jedoch – verglichen mit Abélard und Heloïse – lediglich eine intertextuelle Statistenposition ein.
Das bereits erwähnte Intermezzo, das von der gesellschaftlich nicht sanktionierten Beziehung zwischen Ich-Erzähler und Janne sowie den Zitaten zu Abélard und Heloïse umrahmt wird, schlüsselt Tomas’ erste gescheiterte Liebe zu Eli und die ebenfalls gescheiterte Ehe mit der wenige Jahre nach der Scheidung an Krebs verstorbenen Agnete auf. Aus Tomas’ Verbindung mit der exzentrischen, zunächst in Rom lebenden, dann auf Tourneen in Norwegen und Nicaragua in Begleitung von Mann und Kind umherreisenden Schauspielerin Agnete ging die gemeinsame Tochter Amalie hervor, aus einer späteren Liaison Agnetes ihr zweites Kind Harriet. Der Ich-Erzähler versorgte nach Agnetes Tod durchgehend seine leibliche Tochter, eine Zeit lang auch sein ‚Stiefkind’.
Nachdem der Rahmen geschlossen und auch das glückliche Zusammenleben mit Janne dargestellt wurde (Kapitel „En liten bok om lykke“ („Ein kleines Buch vom Glück“)), läuft die Erzählung in einer Coda aus (Kapitel „Notatbøkene“ („Die Notizbücher“) – die Kapitelüberschrift stellt wieder eine Verbindung zum Anfang, zum Untertitel „notatbøkene“ her). Darin verändert sich die fließend-assoziative narrative Form zu einzelnen datierten Tagebucheinträgen und bruchstückhaften Notizen. Sie sind aufgezeichnet, nachdem Janne sowie auch die Tochter Amalie aus dem gemeinsam mit dem Ich-Erzähler bewohnten Reihenhaus ausgezogen sind. Aus unterschiedlichen Motivationen gingen die beiden jungen Frauen nach Oslo: Janne, um etwas zu erleben, um mit anderen und vor allem jüngeren Männern zusammen zu sein; die 19-jährige Amalie, um ihr eigenes Leben zu beginnen. Als Vater und Lebenspartner verlassen bleibt der Ich-Erzähler zurück, verliert sich in seinem Liebeskummer, in Alkohol- und Zigarettenkonsum. Er löst sich als psychisches Subjekt sichtbar in einer stellenweise symbolistisch-kryptischen Sprache auf, die in einigen Passagen delirierend wirkt. Die Sprachform ist teilweise sehr musikalisch, erinnert an gebetsähnliche Formeln mit Anspielungen auf eine mystisch-religiöse Erfahrung bzw. an einen sprachlich praktizierten Ritus des Hieros gamos. Durch die subversive Kraft der Sprache schient zugleich die Hoffung auf einen Wandel, eine Verkehrung des Gegebenen auf:
Ingen dager er helligdager.
Våkner i stuen, på gulvet, like i nærheten av Jannes sofa. Jeg tryglet henne om å la den bli igjen her; sofaen og lampene og mest mulig av tingene hennes, hun lot dem bli igjen.
Alt her er som det var før. Jeg våkner på gulvet, har drukket for mye vin. Tre liter, det betyr at jeg har en kartong tilbake; jeg finner hvitt brød på kjøkkenet, dypper det i glaset med vin, spiser.
Spiser, drikker.
Det er enkelt, det er rent.
Hvitt brød, den hvite kroppen.
Så enkelt, så rent.
Dypper brødet i vinen; hvordan brødet trekker opp i seg blodet hennes.
Det røde, bløte brødet. Den røde, fyldige munnen hennes; jeg spiser den.
Så rødt, så rent. Så rødt, så hvitt. Så hvitt, så rent. Så hvitt. Så hvitt, så hvitt. Så rent, så rødt.
Så rødt, så dødt, så født. Så født og bløtt. Så bløtt og søtt. Så søtsøtt. Så søtrødt. Så søtfødt i munnen.
Så dødbløtt i munnen. Inne i. Inne i munnen. I min. Så dødfødt i munnen. Inne i. I munnen. I munnen i.
I munnen i min. Inne i. Inne i munnen min. Nå er hun i munnen min.
Nå er hun min.
Så enkelt, så rent.
Drikker, spiser.
Alle dager er helligdager (Imot naturen, 148–149).
(Kein Tag ist Feiertag.
Wache im Wohnzimmer auf, auf dem Boden, dicht neben Jannes Sofa. Ich hatte sie angebettelt, es hierzulassen; das Sofa und die Lampen und so viele von ihren Sachen wie möglich, sie ließ sie hier.
Alles hier ist wie vorher. Ich wache auf dem Boden auf, habe zu viel Wein getrunken. Drei Liter, das bedeutet, ich habe noch einen Karton; in der Küche finde ich Weißbrot, tauche es ins Weinglas, esse.
Esse, trinke.
Das ist einfach, das ist rein.
Weißes Brot, den weißen Körper.
So einfach, so rein.
Tauche das Brot in den Wein; wie das Brot ihr Blut aufsaugt.
Das rote, weiche Brot. Ihr roter, voller Mund; ich esse ihn.
So rot, so rein. So rot, so weiß. So weiß, so rein. So weiß. So weiß, so weiß. So rein, so rot.
So rot, so tot, so Brot. So Brot und Not. So Not und rott. So rottrott. So rottrot. So Rottbrot im Mund.
So totnot im Mund. Innen im. Innen im Mund. In meinem. So totbrot im Mund, innen im. Im Mund. Im Mund innen.
Im Mund in meinem. Innen im. Innen in meinem Mund. Jetzt ist sie in meinem Mund.
Jetzt ist sie mein.
So einfach, so rein.
Trinken, essen.
Alle Tage sind Feiertage
(Wider die Natur, 157–159, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).
Die anfänglich gemachte Aussage wird somit ins Gegenteil verkehrt, wird ‚umgeschrieben’.
Außerdem ist die drohende Auflösung des Subjekts einerseits in den zunehmend von mehrtägigen Schreibpausen durchsetzten Tagebuchaufzeichnungen deutlich, andererseits durch die wiederholte Mitteilung über den Gewichtsverlust von mehreren Kilo, den der Ich-Erzähler aufgrund seines Liebeskummers erleidet.
Von Tomas Espedals Werken wurde außer Imot naturen (Wider die Natur) von Hinrich Schmidt-Henkel bisher nur Gå eller kunsten å leve et vilt og poetisk liv (Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen) von Paul Berf ins Deutsche übersetzt. Anlässlich der Übersetzung und bevorstehenden Publikation von Wider die Natur im März 2014 war der Autor auf der Leipziger Buchmesse zu Gast und las ebendort auf dem Nordischen Forum sowie in Kiel und Berlin (Pressemitteilung der Königlich Norwegischen Botschaft in Berlin vom 12. März 2014). Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung steht – davon wird sich der des Norwegischen und Deutschen mächtige Leser leicht selbst überzeugen können – Espedals sprachlich hochkonzentriertem Erzählstil und seinen spielerischen, lyrisch verdichteten Exkursen in nichts nach. Aus obigem Zitat wird die kongeniale Umdichtung des Gegensatzes von Tot-Sein und Geboren-Werden deutlich, das bei einer wörtlichen Wiedergabe im Deutschen den Sprachrhythmus und die Assonanzen zunichte gemacht hätte. Anzumerken wäre, dass Schmidt-Henkel eine größere Varianz an semantisch ähnlichen Ausdrücken wählt, wo das Norwegische dieselben Lexeme benutzt.
Wider die Natur ist als Fortspinnung des 2009 von Espedal publizierten, noch nicht ins Deutsche übersetzen Romans Imot kunsten (Wider die Kunst) und damit als Erforschung einer ‚Natur’ als einem scheinbaren Antipoden zu ‚Kunst’ zu verstehen. Setzt sich das Erzähler-Ich Tomas in Imot kunsten mit sich wiederholenden Mustern innerhalb seiner Herkunftsfamilien auseinander und erforscht selbstreflexiv und biographisch den Schreibprozess, das Schreiben als Arbeit, dessen Implementierung in den Alltag, seine Funktion im und sein Verhältnis zum Leben, so kreisen die Gedanken des Ich-Erzählers in Wider die Natur um die – perspektivisch und kontextuell variable – Natürlichkeit oder Widernatürlichkeit von Handlungen in Intim- und Liebesbeziehungen. Agnete etwa bringt den Ich-Erzähler dazu, den Sexualakt vor der Überwachungskamera einer Villenpforte im nächtlichen Rom auszuführen, eine Handlung, die den Ich-Erzähler zu folgender Reflexion veranlasst:
Det var ingenting naturlig i kjærlighetslivet vårt. Hun hadde alle disse ideene, alle disse påfunnene som skulle krysse en grense, som ikke skulle være normale; hun klarte ikke, kunne ikke være normal; jeg tror hun ønsket å være normal, jeg tror hun ønsket å være naturlig, i samsvar med menneskene og verden rundt seg, men hun klarte det ikke […] (Imot naturen, 64).
(Unser Liebesleben hatte nichts Natürliches an sich. Sie hatte all diese Ideen, diese Vorschläge, die eine Grenze überschreiten, über das Normale hinausführen sollten; es gelang ihr nicht, normal zu sein, sie konnte es nicht; ich glaube, sie wollte aber normal sein, ich glaube, sie wollte natürlich sein, im Einklang mit den Menschen und der Welt um sich herum, aber sie schaffte es nicht […] (Wider die Natur, 65, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).
Der Begriff ‚Natürlichkeit’, den der Text entwickelt, entspricht dem der Authentizität. Er ist in seiner Definitionen immer an Exempel aus dem Beziehungsleben gebunden. Dies zeigt sich in der Reaktion des Ich-Erzählers auf Agnetes aus rein ökonomischen Gründen forcierte Heirat, ihren zweimal – trotz medizinischer Risiken – durchgesetzten Wunsch nach Hausgeburten und schließlich in ihrem Wunsch, zu Hause im eigenen Bett sterben zu dürfen.
Jeg var ikke glad for å måtte gifte meg, men jeg var glad for at vi skulle komme oss bort fra småbruket i skogen, huset i dumpen, det harde, naturlige og falske livet på landet.
Var ikke livet vårt ekte? Bodde vi ikke i naturen, omgitt av skog og dyr? Hadde vi ikke født et barn i huset hvor vi bodde? Jo, men vi elsket hverandre ikke. Vi levde sammen, hadde et barn sammen, samarbeidet så vidt det var, men kjærligheten mellom oss var borte. Kanskje hadde den aldri vært der (Imot naturen, 77).
Det året da den minste datteren fylte tre år i mai, døde Agnete i september. Hun døde i huset. Hun ville dø hjemme. Hun hadde født begge døtrene hjemme, nå ville hun dø på den samme måten, i sin egen seng.
Det var naturlig (Imot naturen, 107).
(Ich war nicht erfreut über die Heiratspläne, aber ich sehnte mich danach, aus dem Kleinbauernhaus im Wald herauszukommen, aus dem Haus in der Senke, aus dem harten, natürlichen und falschen Leben auf dem Lande.
War unser Leben nicht echt? Lebten wir denn nicht in der Natur, umgeben von Wald und Tieren? Hatten wir nicht ein Kind in dem Haus, wo wir lebten, zur Welt gebracht? Schon, aber wir liebten einander nicht. Wir lebten zusammen, hatten ein Kind miteinander, kooperierten ganz gut, aber die Liebe zwischen uns war weg. Vielleicht hatte es sie nie gegeben (Wider die Natur, 79–80, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).
Die Jüngere [i.e. der beiden Töchter, J.E.] wurde in einem Mai drei, im September desselben Jahres starb Agnete. Sie starb zu Hause. Sie wollte zu Hause sterben. Sie hatte beide Kinder zuhause zur Welt gebracht, jetzt wollte sie auf dieselbe Weise sterben, in ihrem eigenen Bett (Wider die Natur, 113, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).
Genauso widernatürlich wie die rational definierte Natürlichkeit Agnetes erscheint die spontane, nicht-rationale Nachgiebigkeit des Ich-Erzählers gegenüber dem situativen, emotionalen, erotisch-sexuellen Impuls, der von Janne ausgeht. Allerdings ist es hier nicht ein intrinsischer Erkenntnisakt des Ich-Erzählers, sondern die Perspektive des sozialen Umfeldes, das Janne mit Tomas’ Tochter Amalie verwechselt, und so die Unnatürlichkeit der Beziehung eines älteren Mannes zu einer sehr jungen Frau aufdeckt.
Da vi skulle gå, strakte han [i.e. ein Bekannter namens Martin Larsson, J.E.] frem hånden: Det var trivelig å hilse på deg og din datter, sa han.
Det skjedde hele tiden. Vi gikk ut sammen, noen kom bort og ville hilse på min datter.
Det var skammelig.
Vi skammet oss.
Hvor kom skamfølelsen fra?
Var lykken skammelig; vår lykke var skammelig, den var ikke naturlig, den var imot naturen.
Vi sluttet å gå ut, vi isolerte oss inne. (Imot naturen, 120)
(Als wir uns voneinander verabschiedeten, reichte er [i.e. ein Bekannter namens Martin Larsson, J.E.] mir die Hand: Es war nett, dich und deine Tochter zu treffen.
Das passierte unablässig. Wir gingen zusammen aus, jemand kam und wollte meine Tochter kennenlernen.
Es war beschämend.
Wir schämten uns.
Woher kam das Schamgefühl?
War das Glück beschämend? Unser Glück war beschämend, es war nicht natürlich, es war wider die Natur.
Wir hörten auf auszugehen, wir verkrochen uns zuhause (Wider die Natur, 127–128, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)).
Dies lässt den verunsicherten Ich-Erzähler schließlich in einer ausweglosen epistemologischen Leere zurück. Ihm bleibt nur, sich auf seine Introvertiertheit zurückzuziehen und sich das Unvermögen einzugestehen, jegliche Umwelt, sei es die Zivilisation oder seien es unbesiedelte Gebiete mit ihrer Flora und Fauna – d.h. die populäre und alltagssprachliche Bedeutung von ‚Natur’ –, erfolgreich relational bewältigen zu können.
Jeg har alltid vært mest lykkelig innendørs, sjelden ute, bortsett fra i enkelte lynaktige glimt som lyste opp noe ufattelig og nytt, noe jeg aldri hadde sett før, noe i naturen.
Jeg har aldri hatt et forhold til naturen (Imot naturen, 109).
(Ich war immer drinnen am glücklichsten, selten draußen, abgesehen von einzelnen, aufblitzenden Funken, die etwas Unfassbares und Neues aufleuchten ließen, etwas, das ich nie gesehen hatte, etwas in der Natur.
Zur Natur hatte ich nie ein Verhältnis (Wider die Natur, 115–116, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).
Der eingangs angestellte Vergleich mit Knausgård empfiehlt sich nicht nur wegen der ähnlichen Thematik – dem öffentlichen Aussetzen intimer Privatheit durch ihre Verwertung als literarisches Material –, sondern auch wegen der realen Freundschaft zwischen den beiden Autoren und schließlich wegen der Knausgård-Rezeption, die in Wider die Natur in den Plot integriert wird:
Vi [i.e. Janne und der Ich-Erzähler Tomas, J.E.] lå ved siden av hverandre i sengen og leste. Vi leste hver våre eksemplarer av Knausgård-bøkene, begynte samtidig og leste parallelt, plutselig la hun ned boken og så på meg; leste du det? spurte hun. Hvordan våger han, det er jo helt utrolig, han er ikke riktig klok, sa hun.
Så leste vi videre.
Helt til jeg la boken min ned og så på henne; leste du det? spurte jeg. Hvordan våger han, det er jo helt utrolig, han ødelegger seg selv, sa jeg. (Imot naturen, 115–116).
(Wir [i.e. Janne und der Ich-Erzähler Tomas, J.E.] lagen nebeneinander im Bett und lasen. Wir lasen jeder in seinem Exemplar der Bücher von Knausgaard, begannen gleichzeitig und lasen parallel, auf einmal legte sie das Buch hin und sah mich an; hast du das schon gelesen?, fragte sie. Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, ist er wahnsinnig, sagte sie.
Dann lasen wir weiter.
Bis ich mein Buch hinlegte und sie ansah; hast du das schon gelesen?, fragte ich. Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, er zerstört sich selbst (Wider die Natur, 123, deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel).
Tomas Espedal steht trotz seines autofiktionalen Erstaunens in eben zitierter Passage nicht hinter seinem Freund Knausgård zurück. Ist der Stil auch ein anderer – weniger abschweifend und weniger um essayistische Themen als vielmehr um das Erzähler-Ich selbst, seine Position als schreibendes, liebendes Ich im eigenen Leben und in der Welt sowie um seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu kreisend –, so ist Espedal doch nicht weniger mutig als Knausgård. Auch er wagt Ehrlichkeit und Intimität, einen Einbezug der lesenden Öffentlichkeit in seine Erlebnisse und Erwägungen.
Espedals Wider die Natur fügt sich ebenso wie das 2013 erschienene Bergeners (Bergenser – der norwegische Titel ist in Anlehnung an Dubliners von James Joyce gebildet) und auch das vorausgehende Imot kunsten in eine Reihe ein, in der sich Espedal mit der Materialität und der lyrischen Gestaltung von Sprache im Roman beschäftigte. Im Gespräch mit Cathrine Strøm anlässlich seiner Einladung auf das Poesie-Festival Audiatur äußerte der Autor am 14.02.2014: „Imot kunsten inngår også i en større syklus. Det er viktig, for når jeg skriver vet jeg at boken ikke er ment å være uttømmelig. Imot naturen fortsetter der den slipper, og så kommer Bergeners. Det skal være mulig å lese bøkene i en større sammenheng“ („Wider die Kunst geht auch in einen größeren Zyklus ein. Das ist wichtig, denn wenn ich schreibe, weiß ich, dass das Buch nicht unerschöpflich sein kann. Wider die Natur setzt an der Stelle an, wo jenes aufhört, und dann kommt Bergeners. Es soll möglich sein, die Bücher in einem größeren Zusammenhang zu lesen“ (Tomas Espedal/Cathrine Strøm (2014): Jag skriver i dina ord. En samtale. Oslo, 7).
So stimmt Wider die Natur als stiller, gefühlvoller, zeitloser Verismo, als aufrichtig und konstant (weiter) sprechender Bordun in das Fortissimo der realistischen, autobiographischen, autonarrativen und autofiktionalen Tendenzen der skandinavischen Gegenwartsliteratur ein. Seine unterbrochene und dennoch schlichte Narration mit lyrisch-poetischen Einschüben macht den Roman zu einem sehr lesenswerten Stück Literatur.
Espedal brach übrigens am 6. April 2014 nach Avignon auf, um anschließend auf den Spuren Petrarcas (und Lauras) zu reisen und ein Jahr lang jeden Tag ein Gedicht – diesmal offensichtlich ausschließlich als solche definierte Lyrik – in Form eines „liten kjærlighetsbok“ („kleinen Liebesbuchs“) zu schreiben (Tomas Espedal/Cathrine Strøm (2014): Jag skriver i dina ord. En samtale. Oslo, 24–25). Es bleibt mit Spannung zu erwarten, wie sich Espedals laufendes lyrisches Sprachprojekt ausnehmen wird.
Tomas Espedal: Wider die Natur (Die Notizbücher). Berlin 2014.
Original: Imot naturen (notatbøkene). Oslo 2011.
(Juliane Egerer, Erlangen-Nürnberg 2014)