Stockholm, 11. Dezember 2010. Nachdem erst ein Auto explodiert ist, sprengt sich der Täter selbst in die Luft. Das erste Selbstmordattentat in Skandinavien ist ein Racheakt für den schwedischen Militäreinsatz in Afghanistan und für die Mohammed-Zeichnungen des schwedischen Künstlers Lars Vilks, die den Propheten als Hund darstellen. Zum Glück explodieren nicht alle Sprengsätze, was in der vollen Innenstadt zu einer Katastrophe geführt hätte. Trotzdem macht der versuchte Anschlag schmerzhaft deutlich, dass auch Schweden durch islamistischen Terror verwundbar ist.
Vor dieser emotionsgeladenen Kulisse irrt Amor umher. Eigentlich will er nur einen Bohrkopf umtauschen, doch der Weg durch die verunsicherte Stadt wird zur Suche nach seinem Platz in einer Gesellschaft, die ihm vertraut und plötzlich doch so fremd ist. Mit Verwandten und Freunden, seinen „Brüdern“, spricht Amor zumindest in Gedanken über Alltägliches, das Attentat und die große Frage: Wie verhält man sich, wenn man aufgrund seines Palästinenserschals von allen Seiten als potentieller Täter betrachtet wird? Schließlich ist sogar Amor überzeugt: Er muss es wohl selbst gewesen sein, oder?
Auf nur etwas mehr als hundert Seiten hat Jonas Hassen Khemiri eine intime, aber große Erzählung geschrieben. Jag ringer mina bröder ist ein Dialog zwischen Amor und seinen Mitmenschen und ein Dialog mit sich selbst. Das kleine Werk ist ein Grenzgänger zwischen fiktionaler Realität und Einbildung, zwischen Zugehörigkeit und Außenseitertum, Individualität und Anpassung und nicht zuletzt zwischen literarischen Genres.
Jag ringer mina bröder überzeugt gerade durch seine sprachliche Klarheit. Im Gegensatz zu Khemiris Debütroman Ett öga rött (Das Kamel ohne Höcker, 2003) ist die Ernsthaftigkeit des Themas nicht mehr hinter einer ironischen Leichtigkeit versteckt. Khemiri findet eine Balance zwischen Humor und Ernst, einfachen Worten und intensiver Bildsprache. Die Erzählung wirkt durch die Mischung aus Alltag und Ausnahmezustand und die Komplexität der Charaktere erschreckend realistisch.
Khemiri umgeht die Gefahr, seine Schilderung der Betroffenen einseitig und unreflektiert werden zu lassen. Amor weiß, dass er aufgrund seines Aussehens zu Unrecht verurteilt wird. Trotzdem ist seine Reaktion ebenso von stereotypen Denkmustern beeinflusst: Dass schwedische Polizisten dem Fahrer eines ausländischen Autos ohne Gewaltanwendung und Machtdemonstration den Weg zeigen, ist für ihn unvorstellbar. Das Misstrauen seiner Umgebung macht auch Amor paranoid. Statt dem Schwarz-Weiß-Bild des machthabenden Schwedens das des unterdrückten, hilflosen Schwedens gegenüberzustellen, wendet sich der Roman gegen Stereotypisierungen. Es gibt keine eindeutigen Grenzen, weder im Inhalt noch in der Form.
Jonas Hassen Khemiri ist Schriftsteller und Dramatiker. In Jag ringer mina bröder verschmelzen durch die überwiegende Dialogform beide Genres miteinander. Seine dramatische Struktur macht den Roman nicht nur zu einem intensiven, sondern auch höchst dynamischen Text. Zwischen plötzlichen Perspektivwechseln und Momentaufnahmen, die die weitere Handlung bestimmen, wirken etwas längere Beschreibungen der Vergangenheit fast schon störend.
Als wenn er sich in seinem eigenen Drama befindet, tritt Amor in verschiedenen Rollen auf. Mal passt er sich an, mal rebelliert er, mal erlebt sein physisches Ich und mal fantasiert sein Traum-Ich. Wir sind direkt in seinem Kopf und sehen die Welt mit seinen Augen – beziehungsweise werden in seinem Körper gesehen. Genau wie für Amor verschwimmen auch für uns die Grenzen zwischen Realität und Einbildung. Das, was bleibt, ist Verwirrung und Unsicherheit.
In Schweden ist Jonas Hassen Khemiri längst nicht mehr nur als Schriftsteller, sondern auch als Gesellschaftskritiker bekannt. Der Roman Jag ringer mina bröder basiert auf einem gleichnamigen Beitrag, den Khemiri nach dem Selbstmordattentat in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter geschrieben hat und in dem er über genau dieselben Themen wie Angst, richtiges und falsches Verhalten, Identität und Schuld reflektiert.
Im vergangenen Jahr erregte sein an die schwedische Justizministerin gerichteter Brief „Bästa Beatrice Ask“ in Dagens Nyheter enorme öffentliche Aufmerksamkeit. In diesem Brief, der auch in der Taschenbuchversion von Jag ringer mina bröder abgedruckt ist, kritisiert Khemiri das Projekt Reva („rättssäkert och effektivt verkställighetsarbete“, rechtssichere und effektive Vollzugsarbeit), welches unter anderem durch erweiterte Personenkontrollen die Ausweisung von Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung verbessern soll. Auch wenn Personen nicht nur aufgrund ihres Aussehens kontrolliert werden dürfen, wird dieses von vielen als einziger Grund empfunden. Anlass des Briefes ist die Aussage Asks im schwedischen Radio, dass sie trotzdem nicht über Kategorisierungen nach rassistischen Merkmalen beunruhigt sei, da dass das Empfinden von Rassismus auf persönlichen Vorerfahrungen beruhe: „Es gibt früher Verurteilte, die denken, dass sie immer in Frage gesetzt werden, obwohl man es niemandem ansieht, dass er eine Straftat begangen hat. Das handelt viel von dem eigenen Erlebnis.“ Khemiris Brief ist allerdings ein Zeugnis von ständigen Vorurteilen und Verurteilungen durch seine Mitmenschen und durch den eigenen Staat aufgrund einer anderen Hautfarbe.
Jag ringer mina bröder ist im Oktober 2012 in Schweden erschienen und feiert als Theaterstück immer wieder neue Premieren. Dass Jag ringer mina bröder schnell für das Theater adaptiert wurde, ist aufgrund seiner dramatischen Form nicht überraschend. Schon im Januar 2013 wurde es im Stadttheater Malmö uraufgeführt und ist seitdem in mehreren schwedischen Städten zu sehen gewesen.
Im schwedischen Kontext entstanden, haben die Problematik und die grundlegenden Ideen des Werkes auch internationale Relevanz. Jag ringer mina bröder ist der schwedische Beitrag zu „Europe Now“, einem Projekt von fünf europäischen Theatern, das sich mit zeitgenössischen Dramen der neuen europäischen Wirklichkeit widmet, die durch neue Grenzziehungen, Bevölkerungsstrukturen und Identitäten geprägt ist. Zurzeit wird das Stück außerdem im New Ohio Theatre in New York gespielt.
Jag ringer mina bröder berührt auch ein internationales Publikum, weil jeder ein Amor sein kann, der unter kollektiven Stigmatisierungen leidet. Genauso kann jeder Teil dieses Kollektivs und somit für die individuelle Krise eines anderen mitverantwortlich sein. Jag ringer mina bröder ist nicht bequem zu lesen, aber es ist ein wichtiges Buch. Es rüttelt auf, indem es die Konsequenzen vorschneller Verurteilungen sichtbar macht, mit denen das Gegenüber zu kämpfen hat. In seiner scharfsinnigen Wiedergabe der sozialen Missstände reiht es sich in die große Tradition der schwedischen politisch und gesellschaftlich engagierten Literatur ein.
Jonas Hassen Khemiri: Jag ringer mina bröder, Stockholm: Albert Bonniers Verlag, 2012.
(Hannah Tischmann, Malmö, März 2014)