Über Gaben, die man gerne nicht bekommen hätte, und solche, ohne die man nicht leben kann.
Beate Grimsruds God Jul. Hvor er du?
Ole Karlsen zum sechzigsten Geburtstag
„[J]ulepresangene jeg ikke ville ha som barn […] sparte [jeg] til sommeren i en rosemalt kiste og siden gravde ned i en grop i hagen. De uønskede presangene tok opp hele plassen i kroppen min og overskygget det fine. Å få noe uønsket var så smertefullt, siden det var så mye jeg ønsket meg. En gang fikk jeg et broderi som var festet til en ramme, der det var forventet at jeg skulle brodere bokstaven B med ørsmå sting. […] Gropen i hagen ble en grav. Jeg ville ikke at sånt jeg ikke ville ha skulle finnes når det var så mye jeg ville ha som ikke fantes. Så mye jeg savnet. En sørgegrop. En grop for den usynlige Beate. Den jeg nektet å bli. Man kan bli sett og tydelig gjennom en presang, men man kan også bli usynlig og sint.“
(S. 9-10 – „Die Weihnachtsgeschenke, die ich als Kind nicht haben wollte, hob ich bis zum Sommer in einer rosenbemalten Kiste auf und vergrub sie dann in einer Mulde im Garten. Die ungewünschten Geschenke nahmen den ganzen Platz in meinem Körper ein und überschatteten das Schöne. Etwas Ungewünschtes zu bekommen, war so schmerzhaft, denn es gab so vieles, was ich mir wünschte. Einmal bekam ich eine Stickerei, die auf einem Rahmen befestigt war, und es wurde erwartet, dass ich den Buchstaben B mit winzigkleinen Stichen sticken sollte. […] Die Mulde im Garten wurde ein Grab. Ich wollte nicht, dass das existierte, was ich nicht haben wollte, wo es doch so viel gab, was ich haben wollte, was aber nicht existierte. So viel, was ich entbehrte. Eine Trauermulde. Eine Mulde für die unsichtbare Beate. Für die, die ich mich weigerte zu sein. Man kann durch ein Geschenk gesehen und deutlich werden, aber man kann auch unsichtbar und wütend werden.“)
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In vielen Buchhandlungen gibt es ein Regal, auf dem man ausschließlich sogenannte „Geschenkbücher“ findet. Diese Bücher heißen „Von ganzem Herzen“ oder „Jetzt ist der Augenblick“ oder „Lebenslust“. Die Weihnachtsvarianten haben Titel wie „Weihnachten wie es einmal war“ oder „Winterzauber, Weihnachtsglanz“ oder „Wenn die Nächte länger werden“. Sie wurden nicht zum Lesen geschrieben, sondern aus rein dekorativen Gründen. Geschenkbücher gehören für viele zu der Kategorie Geschenke, die sie gerne nicht bekommen hätten.
Auf den ersten Blick gibt sich Beate Grimsruds Büchlein God Jul. Hvor er du? (2012 – Frohe Weihnachten. Wo bist Du?) den Anschein, ein solches Geschenk zu sein: Es kam kurz vor Weihnachten in die Buchhandlungen, es ist dünn, es hat viele Bilder, der Umschlag zeigt auf der Vorderseite eine lichtergeschmückte Palme in einer Wüstenlandschaft, auf der Rückseite ein lichtergeschmückte Tanne in einer Schneelandschaft, die Titelseite ist mit einem Weihnachtswichtel mit roter Zipfelmütze dekoriert. Auch der Titel entspricht ganz den Genrekonventionen. Im Zusammenspiel mit den vielen Schnee- und Kindheitsfotos bekommt er einen melancholischen Klang: Früher (d.h. unter der Tanne, als ich noch Kind war,) war Weihnachten froh; doch wo ist es hin, die frohe Weihnacht? Zu Weihnachten gehört die Klage über den Verlust des echten Weihnachten.
Doch dann liest man die erste Passage über die ungewünschten Geschenke, die so gar nicht in ein Geschenkbuch passen wollen. Die Autorin will uns nicht mit nostalgischen Erinnerungen an verklärte Familienfeste rühren, sondern zeigen, dass unsere Identität von anderen geformt ist: Geschenke werden zu Identitätsangeboten, die schlimmstenfalls begraben werden müssen, bevor sie Macht über uns bekommen.
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God Jul soll als autobiographische Skizze gelesen werden. Das Büchlein enthält Reflexionen und narrative Abschnitte, die vom Verhältnis der Autorin zu ihrer großen Schwester Torunn handeln, von Nächten, die sie unter freiem Himmel verbracht hat, von Weihnachtsabenden, die sie auf verschiedenen Kontinenten feierte, von Gemeinsamkeiten zwischen Jordaniens Sandwüsten und Norwegens Schneewüsten und von vielem anderen. Die Passagen geben die Gedanken der Autorin in der Weihnachtsnacht 2010 wieder, die sie zusammen mit der großen Schwester in der Wadi Rum Wüste in Jordanien verbringt. In der Regel – so erfährt der/die Lesende – sei sie gesprächig und munter, doch die Schweser muss sich auf der gemeinsamen Reise immer wieder über ihre Verschlossenheit beschweren. Offensichtlich befindet sich die Erzählerin in einer Krise. Schlaflos grübelt sie über die Globalisierung, den weltumspannenden Tourismus, das Schreiben und immer wieder über das Beschenktwerden nach.
Überraschenderweise nennt sie an keiner Stelle ihren Megaerfolg, den Roman En dåre fri (Ein Tor in Freiheit). Das ist seltsam, denn der Roman kam 2010 heraus, also im selben Jahr, von dem das autobiographische God Jul erzählt. Der Roman handelt von Eli, die von klein auf an Schizophrenie leidet; sie muss ihr Leben in ständigem Kampf gegen die zerstörerischen Stimmen in ihrem Kopf, gegen Espen, Erik, Emil und Eugen, behaupten. En dåre fri ist damit die Geschichte eines leidenden, aber auch eines siegreichen Menschen, der allen Widerständen zum Trotz seine erzählerische Begabung zur Entfaltung bringt und dem es gelingt, eine erfolgreiche Autorin zu werden. Da Elis Publikationen allesamt die Titel von Grimsruds Büchern tragen, besteht keinen Zweifel, dass man auch Elis Geschichte autobiographisch lesen soll. Wo freilich die Grenze zwischen Fiktion und der sogenannten “Realität“ geht, lässt Grimsrud offen. Nicht nur beim Publikum, auch bei den Kritikern kam diese Autofiktion sehr gut an. 2010 erhielt sie den Kritikerpris, 2011 Sveriges Radios Romanpris und den Doblougpris; darüber hinaus wurde der Roman 2010 für den Bragepris nominiert und 2011 für Nordisk Råds Litteraturpris und zwar sowohl von schwedischer wie von norwegischer Seite.
Es ist deshalb wenig plausibel, dass gerade die Ereignisse um den Roman herum in einer autobiographischen Skizze ausgespart werden, die eine grübelnde Autorin am Ende desselben Jahres zeigt, in dem sie ihren Erfolg feiert. Hier liegt entweder der Fall einer klassischen Verdrängung vor oder aber der einer ausgelegten Spur: Gerade weil der Roman verschwiegen wird, ist man gewillt, eine besonders enge Beziehung zwischen En dåre fri und Gud Jul anzunehmen.
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God Jul muss man schon deshalb als Supplement zu En Dåre fri lesen, weil im Weihnachtsbuch etliche der Themen und Motive kryptische Andeutungen blieben, wenn man sie nicht durch den Resonanzboden des Romans verstärken könnte. So scheinen etwa die Unsicherheit der geschlechtlichen Identität oder das Bettnässen oder der problematische doch gleichzeitig verehrte Vater des Romans schemenhaft auch in God Jul wieder auf. Als Supplement betrachtet ist God Jul jedoch nicht einfach repetitiv oder ergänzend, vielmehr bewirkt es eine Perspektivverschiebung und entwickelt so einen eigenen Wertungsrahmen. So kehrt etwa auch die Episode mit den vergrabenen Geschenken wider. In seiner ersten Version in En dåre fri liest sie sich so:
„Og så, endelig. Jeg får åpne gavene i pysjamas. Jeg får en plate med hvitt stoff av noen slektninger hvor jeg skal brodere en E med en blomst rundt. Jeg kan ikke brodere og vil ikke lære meg det. […] De fine gavene kan ikke overskygge det uhjelpelige sinnet jeg føler over dem som er feil. Det føles så meningsløst å få noe jeg ikke vil ha, når jeg vil ha så mye. Jeg får et skrin som pappa har snekret og rosemalt. Det liker jeg. I det skal jeg gjemme det jeg ikke liker, og grave det ned i hagen til sommeren. Jeg har et spesielt sted for sånt som jeg ikke vil skal fins.“ (En dåre fri, Taschenbuchausgabe 2012, S. 52. – „Und dann, endlich. Im Schlafanzug darf ich die Geschenke auspacken. Von irgendwelchen Verwandten bekomme ich eine Platte mit weißem Stoff, auf das ich ein E umrankt von Blumen sticken soll. Ich kann nicht sticken und will es auch nicht lernen. […] Die schönen Geschenke können die hilflose Wut über die falschen nicht überschatten. Es fühlt sich so sinnlos an, etwas zu bekommen, was ich nicht haben will, wenn ich so vieles haben möchte. Ich bekomme ein Kästchen, das Papa gezimmert und mit Rosen bemalt hat. Das mag ich. In diesem Kästchen werde ich das verstecken, was ich nicht mag, und im Sommer werde ich es im Garten vergraben. Ich habe eine spezielle Stelle für all das, von dem ich nicht will, dass es existert.“)
Die beiden Passagen erzählen dieselbe Episode, doch ihre Pointen gehen innerhalb ihres Kontextes in ganz unterschiedliche Richtungen. In der älteren Version muss man die Episode mit den Geschenken vor dem Hintergrund der Schizophrenie lesen: En dåre fri handelt davon, dass das Ich nicht allein ist, sondern von einer Vielzahl von Personen besessen. Ein Überleben ist nur möglich, wenn Espen, Erik, Emil und Eugen in Schach gehalten werden; ein Ich zu sein bedeutet in ständiger Abwehr anderer Stimmen zu leben. Man kann die Handlung deshalb als einen Versuch interpretieren, Identität immer wieder durch Reduktion zu erreichen. Die ungewünschten Weihnachtsgeschenke gleichen damit den Stimmen, die im Innern von Eli leben. Die Stimmen, die ihr immer widersprechen, sind abgekapselte und ins Innere abgelegte Forderungen – so wie die Geschenke Forderungen von außen sind, die im Garten vergraben werden.
Auf dieser Basis lässt sich rekonstruieren, warum der an sich interessante Roman eine deutliche Schwäche hat. Unfreiwillig (?) legt er das verschlissene Klischee vom genialen Künstler neu auf: Von klein auf weiß Eli, dass sie Autorin werden will. Doch aufgrund einer verschleppten Sehschwäche kann sie nicht lesen und nur sehr schlecht schreiben. Entsprechend kann sie in ihren schriftstellerischen Versuchen auch nicht von anderen beeinflusst werden; alles, was sie schreibt, erschafft sie ganz und gar aus sich selbst; besucht sie die Forfatterskole, dann wird nur geschildert, dass sie eine Außenseiterin ist. En dåre fri wärmt somit die verbrauchte Geschichte vom Ausnahmemenschen auf, der zum Dichter geboren ist und entgegen aller Widerstände seine Dichtergabe ausleben muss. Wie gesagt: Auf der Basis der Schizophrenie ist eine solche Selbstdarstellung nachvollziehbar; Leben heißt Stimmen abwehren, Schreiben wird offensichtlich ebenso gefasst.
God Jul nun setzt genau hier ein: Das Büchlein beginnt wie oben zitiert damit, die Geste der Abwehr noch einmal zu wiederholen: Geschenke haben nur dann einen Wert, wenn sie zur Identität der Person passen, sie unterstreichen und herausheben. Sie haben sozusagen tautologischen Charakter „Man kan bli sett og tydelig gjennom en presang, men man kan også bli usynlig og sint“ (S. 10 – „Man kann sichtbar und deutlich durch ein Geschenk werden, aber man kann auch unsichtbar und wütend werden“).
Doch dann wird die Semantik der Gabe in God Jul Stück für Stück umcodiert. Die Erzählerin entdeckt, dass Sie selbst für die große Schwester ein Geschenk war und sie ergänzt bange die Frage, die auf der Folie des einleitenden Zitats naheliegt: „Men var det den jeg ble, som hun lengtet etter?“ (S. 14 – „Aber war es die, die ich wurde, nach der sie sich sehnte?“) Ist sie vielleicht selbst ein Geschenk der Kategorie, die man gerne nach einer Weile im Garten vergraben hätte? Später lässt sie die Schwester jedoch folgende Gedanken denken: „Jeg [Torunn] skal vise deg [Beate] verden og du skal få si hva du ser. Du kan vise deg for meg. Hvordan det føles. Hvorfor du gråter. Hvorfor du tisser på deg. Hvorfor du skjærer tenner. Hvorfor du ler og hva du drømmer om. Hvorfor du lager grimaser med munnen. Hva som skremmer deg. Jeg har vært så ensom i vår store familie før du kom.“ (S. 22 – „Ich [Torunn] werde dir [Beate] die Welt zeigen und du wirst mir sagen dürfen, was du siehst. Du kannst dich mir zeigen. Wie es sich anfühlt. Warum du weinst. Warum du in die Hose machst. Warum du mit den Zähnen knirschst. Warum du lachst und wovon du träumst. Warum du Grimassen mit dem Mund machst. Was dir Angst macht. Ich war so einsam in unserer großen Familie, bevor du kamst.“) Mit dem Aspekt der Einsamkeit verliert das Geschenk seinen tautologischen Charakter. Es soll gerade nicht der Identität des Beschenkten entsprechen, sondern Gemeinschaft stiften. Und so lauten die letzten Zeilen von God Jul etwas pathetisch, aber ganz im Sinne des neuen Gabenkonzeptes: „Jeg tenker at selv Gud ønsket seg en storesøster. En å være liten sammen med. En å vokse inn i og ut av. Inn i og ut. En å bli gammel sammen med“ (S. 76 – „Ich denke mir, dass sich selbst Gott eine große Schwester gewünscht hat. Eine, mit der er zusammen klein sein kann. Eine, in die man hinein- und aus der man herauswachsen kann. Hinein und raus. Eine, mit der man zusammen alt werden kann“).
Dieser Satz klingt wie eine Gegenthese zu den ersten Worten in En dåre fri, das so beginnt: „Det er jeg som er Eli. Det betyr min Gud på hebraisk“ (En dåre fri, S. 7 – „Eli, das bin ich. Es bedeutet mein Gott auf Hebräisch“). Diese zwei Sätze kann man zu einem zusammenziehen: Det er jeg som er min Gud (Mein Gott, das bin ich). Und der Verweis auf den hebräischen Ursprung des Namens macht klar, dass es sich hier um einen Gott handelt, der keine anderen Götter neben sich duldet.
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God Jul ist sicher kein literarischer Höhepunkt in Grimsruds Karriere; doch es enthält mehr Wahrheit als das vielgelobte En dåre fri. Oder sollte man womöglich die beiden Texte als Schwesternpaar auffassen, die je für sich ihr eigenes Autorschaftsmodell entwickeln? Möglicherweise werden die vergrabenen Weihnachtsgeschenke ja in einem späteren Roman noch mal ausgegraben. Und vielleicht bekommen wir dann eine Antwort auf diese Frage.
Beate Grimsrud: God Jul. Hvor er du? Oslo: Cappelen Damm, 2012.
(Joachim Schiedermair, Greifswald 2013)