Komm lasst uns fröhlich sein

Als Überschrift für seine Entstehungszeit taugt der Titel von Arne Lygres jüngstem Theatertext Tid for glede (Zeit für Freude) kaum. Das Jahr 2021, in dem der norwegische Dramatiker sein 17. und bisher letztes Theaterstück verfasst, ist auch in Norwegen gerade für die Live-Kunstart Theater alles andere als eine „Zeit für Freude.“ Wie in vielen anderen Ländern haben die Bühnen dort während der Corona-Pandemie mit massiven Einschränkungen und leeren Sälen zu kämpfen. Strenge Auflagen machen Theateraufführungen (wenn überhaupt) nur in bescheidenem Maß möglich. Die ganze Dimension der Tragödie lässt ein kurzer vergleichender Blick auf die Ticketverkaufszahlen an drei großen norwegischen Theatern erahnen: Laut der Norsk Shakespearetidsskrift setzte das Nationaltheater in Oslo noch im Jahr 2018 246.809 Tickets ab, Den Nationale Scene in Bergen 91.654 und das ebenfalls in Oslo beheimatete Dialekt- und Nynorsktheater Det Norske Teatret 281.726. Im Jahr 2021 ließen die politischen Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung dann die Kartenverkäufe an allen drei Häusern auf 86.087, 29.625 und 73.385 einbrechen. Eine Zeit für Freude? Eher eine Zeit der Sorge und Angst, der abgesagten Veranstaltungen und Feste ohne Gäste, der ausgestorbenen Büros und leeren Läden, der Einsamkeit und Isolation.

            Von all dem liest man in Lygres Stück: nichts. So außergewöhnlich das Jahr 2021 auch war, weder der Pandemie noch den damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen noch anderen geopolitischen Krisen wird in Tid for glede eine Bühne geboten. Hier dreht sich vielmehr alles um das kleine, alltägliche Miteinander einer in ihrer Mittelmäßigkeit gefangenen Mittelschicht und eben gerade nicht um die große Politik (ein paar nebulöse, seltsam deplatziert wirkende kapitalismuskritische Sätze einmal ausgenommen). Anhand von 16 Schicksalen stellt der 1968 in Bergen geborene, national wie international viel gespielte Autor einen bunten Strauß an verirrten Leidenschaften und persönlichen Schicksalsschlägen für sein Publikum zusammen: Familien- und Generationenkonflikte, in die Brüche gegangene Liebesziehungen, unfreiwillige Kinderlosigkeit, Flucht in die Fremde, Angst vor der Einsamkeit, Tod eines Familienmitglieds. Trotz dieser über jeden konkreten Zusammenhang hinausweisenden, wahrscheinlich allgemeinmenschlichen Krisen ist Lygres Text alles andere als zeitlos, sondern im Gegenteil stark von den Umständen geprägt, unter denen er entstanden ist. Das verrät die Lösung, die der Text für alle Probleme der Figuren anbietet. Die Härten des Lebens, so könnte man nämlich eine Grundbotschaft des Stücks verstehen, lassen sich im Miteinander und im Gespräch abfedern. Freude und Glück findet man immer (und hauptsächlich) in anderen Menschen. Obgleich die Wörter Corona oder Pandemie nicht einmal fallen, muss man Tid for glede mit dieser schlichten, sentimentalen Botschaft damit als typisches Covid-Stück begreifen. Es scheint, als wolle es uns mit jeder Zeile Dialog zeigen, welches Glück es ist, sowohl fremden wie auch vertrauten Menschen begegnen zu können, ohne sich überlegen zu müssen, ob das erlaubt oder potenziell gefährlich ist. Tid for glede ist in Zeiten der erzwungenen Vereinzelung eine Huldigung an den Menschen als soziales Wesen, für den Moment konzipiert, wenn alle wieder ohne schlechtes Gewissen zusammenkommen und ins Theater gehen dürfen, kurz: für eine Zeit der Freude.

            Die freudige Zeit für Lygre persönlich begann spätestens am 29. Januar 2022, als Tid for glede in der Regie von Johannes Holmen Dahl im großen Saal des Norske Teatret uraufgeführt wurde und sich innerhalb kurzer Zeit zu einem wahren Kassenschlager entwickelte. Zwischen der Uraufführung am 29. Januar 2022 (bereits wieder vor vollem Haus) und dem Herbst desselben Jahres sehen dort 25.000 Leute die unterhaltsame Inszenierung. Viele Kritiken überschlagen sich mit Lob: Die Zeitung Aftenposten bezeichnet die Aufführung am 30.01.2022 als „en stor begivenhet i norsk teater“ (ein großes Ereignis im norwegischen Theater), Dagavisen einen Tag später als „et teaterløft av de sjeldne“ (eine theatrale Kraftanstrengung der seltenen Art), und Karen Frøsland Nystøyl legt am 03.02. für NRK noch nach und gibt zu Protokoll: „Bravo! Eg trur eg har sett årets beste framsyning. Allereie.“ (Bravo! Ich glaube, ich habe die beste Inszenierung des Jahres gesehen. Jetzt schon.) Fast folgerichtig erhält die Produktion 2022 dann auch sieben Nominierungen für den wichtigsten norwegischen Theaterpreis Hedda-Prisen, und damit so viele wie noch keine andere vor ihr, darunter u.a. für den besten Text. Ausgezeichnet wird Tid for glede allerdings in zwei anderen Kategorien. Bei der Preisverleihung nehmen lediglich Preben Hodneland als bester Hauptdarsteller und Johannes Holmen Dahl für die beste Regie eine Hedda entgegen. Arne Lygre, der bereits einige Jahre zuvor mit einer Hedda für sein Stück La deg være (Lass dich sein) ausgezeichnet worden war, ging diesmal leer aus.

            Tid for glede, das gleichzeitig mit der Uraufführung bei Aschehoug als Lesestück erschien, besitzt einen klaren Aufbau. Ein erster, aus fünf Szenen bestehender Teil spielt tagsüber auf einem Friedhof an einem Fluss, ein zweiter zeigt über sechs Szenen hinweg eine abendliche Geburtstagsparty in einer kleinen Wohnung. Der Text verlangt, seinem Ruf nach sozialem Miteinander treu bleibend, eine nach heutigen Maßstäben erstaunlich große Anzahl an Darstellenden. 16 Figuren treten auf, immer wieder auch in größeren Gruppen, Doppelbesetzungen sind also nur zum Teil möglich. (Der Cast der Uraufführung bestand aus 9 Darstellenden.) Sie tragen durchweg Namen, die ihre Funktionen innerhalb von Familien beschreiben, z.B. „Ei syster“ (Eine Schwester), „Ei anna syster“ (Eine andere Schwester), „Ei enke“ (eine Witwe), „Ei farlaus“ (eine Vaterlose) etc. Nur zwei dieser Figuren haben noch einen zusätzlichen Namen: „Eit eg“ (Ein Ich) heißt Aksle und „Eit anna eg“ (Ein anderes Ich) David.

Wer andere Texte von Lygre kennt, wird in Tid for glede neben der leitmotivischen Suche nach Freude schnell auf ein Motiv stoßen, mit dem er sich in früheren Stücken bereits mehrmals und unter verschiedenen Blickwinkeln auseinandergesetzt hat: dem Verschwinden. Unter diesem Stichwort beschäftigt sich der Autor regelmäßig mit großen existenziellen Themen wie der Flüchtigkeit der Zeit, der Vergänglichkeit des Lebens und des Glücks, aber auch mit dem kleinen Verschwinden im Alltag, z.B. anhand von Figuren, die aufbrechen und gewohnten Zusammenhängen entfliehen (wollen). Manchmal werden sie wie in dem Migrationsstück mit dem sprechenden Titel Jeg forsvinner (Ich verschwinde) durch äußere Umstände dazu gezwungen, manchmal handeln sie aber auch, wie in dem Beziehungsdrama Meg nær (Mir nahe), freiwillig.

Auch in Tid for glede dreht sich viel um eine Figur, die ihr gegenwärtiges Leben hinter sich lassen möchte. Bereits in einer kurzen Vorbemerkung erfahren wir, dass ein Ich (Aksle) ein anderes Ich (David) verlassen und verschwinden will. Bemerkenswerterweise schlägt das Stück dann aber zunächst einen anderen, in der Dramengeschichte allerdings altbekannten Weg ein. Es beginnt nämlich mit einer Wartesituation. Zwei Figuren, hier Eine Schwester und Eine Mutter, warten auf eine dritte: auf Aksle, ihren Bruder bzw. Sohn, der, wir wissen es bereits, allerdings lieber verschwinden als kommen möchte. Wie Becketts En attendant Godot (Warten auf Godot) oder Fosses Nokon kjem til å komme (Da kommt noch wer) kreist auch Tid for glede damit zunächst um eine Leerstelle, um eine abwesende Person, von der niemand weiß, ob sie tatsächlich noch auftauchen wird. Langweilig aber wird es Mutter und Tochter während des Wartens nie, denn die Bühne füllt sich nach und nach mit zahlreichen anderen Personen, es wird immer voller und voller. Wie Glassteine in einem Kaleidoskop, die zu immer neuen Mustern zusammenfallen, treffen die Figuren bald auf dem Friedhof aufeinander.

            Schließlich, zum Ende des ersten Teils, taucht Aksle auf – allerdings nur, um kurz darauf endgültig aus dem Stück zu verschwinden. Warum er unbedingt fort will, seinen Freund David und seine Familie zurücklässt, bleibt bis zuletzt in der Schwebe. Seine Mutter und seine Schwester befürchten das Schlimmste, Selbstmord, David dagegen imaginiert im zweiten Teil eine Szene, in der Aksle mit einem fremden Mann ein neues Leben anfängt. Aksle selbst gibt in der fünften Szene des ersten Teils nur eine etwas kryptische Erklärung:

EIT EG Eg må finna meg ein stad der eg ikkje er heilt meg sjølv.

Eller der eg er meg utan alt mitt. Utan namnet mitt. Der eg berre er.

Eg veit ikkje. Eg må berre vekk.

.

EIN ICH Ich muss einen Ort finden, an dem ich nicht ganz ich selbst bin.

Oder, wo ich ich bin ohne alles, was mein ist. Ohne meinen Namen. Wo ich einfach bin.

Ich weiß nicht. Ich muss einfach weg.

Aksles Verschwinden ist die dramaturgische Antriebsfeder des Textes. Weniger, weil sein Grund bis zum Schluss im Dunkeln bleibt, sondern weil seine Entscheidung, zu verschwinden, die anderen Figuren zueinander und miteinander ins Gespräch treibt. Diese Gespräche haben, vergleicht man sie mit Alltagsbegegnungen, allesamt einen besonderen Charakter. All die verletzten Gefühle, persönlichen Wunden und Selbstzweifel werden dort nämlich erstaunlich offen und direkt formuliert. So unsicher und vieldeutig Aksles Innenleben für ihn wie für andere bleibt, so klar sind die Aussagen der Zurückgebliebenen. Mutter und Schwester sprechen, während sie auf Aksle warten, über sich und ihr Verhältnis, teilen Sorgen, über die sie noch nie geredet haben (z.B. dass der Mann der Schwester die Mutter hasst oder die Schwester keine Kinder bekommen kann), eine fremde Nachbarin, die zufällig dazustößt, vertraut ihnen freimütig und hochemotional ihre Beziehungsprobleme an, eine Witwe und ihr Stiefsohn reden über den verstorbenen Mann und Vater, über dessen konservatives Menschen- und Beziehungsbild und das versteckte Beziehungsleben des schwulen Sohnes, usw. Auch im zweiten Teil, nach Aksles Verschwinden, verlaufen die Gespräche nach einem ähnlichen Muster. Eine Mutter und Ein anderes Ich (David) reflektieren zum Beispiel über ihre Beziehung und gleichen ihr Bild von Aksle ab, Ein anderer Nachbar und Ein Witwer gestehen einander zum ersten Mal ihre Liebe, Eine Mutterlose und Eine andere Mutterlose sprechen über ihren Verlust, und das alles zumeist im Beisein von anderen, unbekannten, sich immer wieder in die Gespräche einmischenden Personen.

            Als Rezipierendem wird einem in diesen oft in kurzen Hauptsätzen vorgetragenen Dialogen ein klarer Blick ins tiefste Innere der einzelnen Figuren gewährt. Keine Figur spielt hier „falsch“, niemand will hier, selbst wenn das Verhältnis untereinander noch so zerrüttet oder zerstört ist, jemanden täuschen oder ausnutzen. Zu dieser Offenheit untereinander gesellt sich auch eine Offenheit gegenüber den Zuschauenden. Zu Beginn jeder Szene präsentieren die Figuren sich nämlich selbst und kommentieren ihre eigene Rolle. Klar und deutlich wird uns so in regelmäßigen Abständen vor Augen geführt, dass das, was wir auf der Bühne sehen, nur Theater, nur Spiel ist. So beginnt z.B. die erste Szene folgendermaßen:

EI MOR Ei mor seier: Det er fint her nede ved elva.

Ei mor seier: Eg synest det er så fint her.

Ei mor seier: Det er ei eiga ro, på eit vis.

Ei mor seier: Eg er glad eg fann denne plassen.

Ei mor seier: Eg vert glad av å koma hit.

EI SYSTER Ei syster tenkjer: Er det dette mamma ville visa meg?

Ei syster tenkjer: Berre dette?

.

EINE MUTTER Eine Mutter sagt: Hier unten am Fluss ist es schön.

Eine Mutter sagt: Ich finde, es ist so schön hier.

Eine Mutter sagt: Es ist gewissermaßen eine besondere Ruhe.

Eine Mutter sagt: Ich bin froh, dass ich diesen Platz gefunden habe.

Eine Mutter sagt: Es macht mich glücklich hierherzukommen.

EINE SCHWESTER Eine Schwester denkt: Wollte Mama mir das hier zeigen?

Eine Schwester denkt: Nur das?

Wenn wie hier selbst die Gedanken hörbar sind, verwundert es kaum, dass dem Text klassische große Spannungsbögen oder überraschende Entwicklungen abgehen, vielleicht mit der Ausnahme von Aksles Auftauchen und Verschwinden. Seine Kraft zieht das Stück vielmehr aus seiner Dynamik und sich stetig verändernden Figuren- und Gesprächskonstellationen. Im Laufe des Textes lösen sich alle Figuren immer mal wieder aus ihren angestammten Paarbeziehungen und gehen andere ein. Aus den zwei interagierenden Figuren Mutter und Schwester zu Beginn werden erst drei, dann vier und schließlich acht sich unterhaltende Figuren, bevor sie eine nach der anderen wieder verschwinden, bis am Ende wieder nur zwei Figuren auf der Bühne stehen. Als permanentes Hintergrundrauschen ist in allen Gesprächen stets die im Titel angekündigte Freude (glede) zu vernehmen. Regelmäßig genießen alle, an einem Ort zu sein, an dem sie mit und zu anderen offen und ehrlich sprechen können. „Me er like“ (Wir sind gleich) stellen sie dann manchmal fest und freuen sich. In der siebten Szene des zweiten Teils, der letzten des Stücks, philosophieren Ein anderes Ich und Eine andere Mutter über die Grundvoraussetzung für jede Freude, und kommen zu der Einsicht: Glücklich wird man nur, wenn man mit anderen zusammen sein, wenn man in ein Resonanzverhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt treten kann.

EI ANNA MOR Me er glade.

EIT ANNA EG Kva er eit menneske utan glede?

EI ANNA MOR Ingenting.

EIT ANNA EG Nei. Ingenting. Gleda er alt.

EI ANNA MOR Me er glade, trass alt.

EIT ANNA EG Me er ikkje heilt glade no, men me skal finna gleda. Me skal finna att gleda i oss sjølve og i kvarandre og i menneska og i verda.

EI ANNA MOR Eg elskar menneske.

EIT ANNA EG Eg òg. Eg elskar menneske.

EI ANNA MOR Me er like, du og eg.

EIT ANNA EG Det er me.

EI ANNA MOR Det er eg glad for.

.

EINE ANDERE MUTTER Wir sind froh.

EIN ANDERES ICH Was ist ein Mensch ohne Freude?

EINE ANDERE MUTTER Nichts.

EIN ANDERES ICH Nein. Nichts. Die Freude ist alles.

EINE ANDERE MUTTER Wir sind froh trotz allem.

EIN ANDERES ICH Wir sind noch nicht ganz froh, aber wir werden die Freude finden. Wir werden die Freude in uns selbst und ineinander und in den Menschen und in der Welt finden.

EINE ANDERE MUTTER Ich liebe Menschen.

EIN ANDERES ICH Ich auch. Ich liebe Menschen.

EINE ANDERE MUTTER Wir sind gleich, du und ich.

EIN ANDERES ICH Das sind wir.

EINE ANDERE MUTTER Darüber freue ich mich.

Tid for glede ist eine Ode an die Freude und stellt das Beisammensein ins Zentrum. Der Text beschwört und feiert nach einer langen Zeit der Pandemie, in der größere und kleinere Zusammenkünfte, wenn überhaupt, nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich gewesen sind, das menschliche Miteinander als heilende Kraft und Freudenspender. Allein mit dem Textbuch in der Hand bleibt dieses Miteinander allerdings zwangsläufig immer nur eine Idee. Weder die durchaus virtuos geschriebenen Gruppengespräche noch in den Text integrierte Pausen für Popsongs noch die emotionalen Krisen ziehen den Lesenden in ihren Bann, da sie stets von der Banalität der Schicksale, der Eindimensionalität der Figuren und der manchmal arg moralisierend-esoterisch klingenden Huldigungen der Freude übertüncht werden. Erst auf der Bühne können die dynamischen und auch unterhaltsamen Qualitäten des Textes wirklich zur Geltung kommen. Denn dort zählt eben nicht nur das, was die Figuren sagen, sondern auch das Wie. Dort zählt die Energie, die zwischen ihnen entsteht, zählt die Wirkung, die Körper, Stimme, Licht oder Musik auf uns Zuschauende haben, dort zählen eben das gemeinsame Erleben und das Miteinander. Und wenn das so viel Freude macht wie in der ersten Inszenierung des Theatertextes, dann vergessen wir gerne unsere einsame Lektüreerfahrung, klatschen in die Hände und keiner ist allein.

Arne Lygre: Tid for glede. Epub ed., Aschehoug, 2022.

(Patrick Ledderose, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Mehr als true crime: Gewalt und Sprache

Det hvorom man ikke kan tie, om det må man tale, om det har man pligt til at tale, om det har man talepligt. (Niels Frank: Livet I troperne, S. 36; Das Leben in den Tropen)

Worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man reden, darüber ist man verpflichtet zu reden, darüber hat man Redepflicht.

Auf den ersten Blick wirkt Fanden tage dig (Der Teufel soll dich holen) wie eine der true crime-stories, die gerade eine mediale Konjunktur erleben. Der Text berichtet in romanähnlicher Form von dem Mord eines 62-jährigen Mannes an seiner ein Jahr jüngeren Ehefrau, knapp drei Monate nachdem sie ihn nach 30-jähriger Ehe verlassen hatte. Die Tat geschah vor den Augen der beiden Söhne des Paares und weiterer Familienmitglieder, die sich eingefunden hatten, um Möbel und Gegenstände aus dem gemeinsamen Haushalt zu holen, eine mit dem Ehemann verabredete Haushaltsteilung nach der Trennung. Der Mann verweigerte den Einlass und trat plötzlich mit einem abgesägten Jagdgewehr aus der Haustür, drohte den Anwesenden und schoss die in Panik flüchtende Frau gezielt in den Rücken. Sie verstarb unmittelbar darauf, und der Mann wurde noch am Tatort verhaftet und ein Jahr später in einem Gerichtsverfahren zu der Höchststrafe von 14 Jahren Haft verurteilt.

In Dänemark sind diese Tatsachen bekannt, lange bevor das Buch erscheint. Die Presse hat ausführlich davon berichtet, nicht nur, weil ein brutales Gewaltverbrechen beliebter Stoff v.a. der Boulevardmedien ist, sondern auch, weil es sich bei der Ermordeten um die Schwester Elin des bekannten Schriftstellers Niels Frank handelt, der jetzt sein Buch über die erschütternden Ereignisse vorlegt. Nun ist Frank nicht als Krimiautor, sondern als formbewusster Lyriker, Essayist und ehemaliger Leiter der Autorenschule in Kopenhagen bekannt, der durch eine ganze Reihe von renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist. Er debütierte 1985 mit der symbolistischen Gedichtsammlung Øjeblikket (Der Augenblick), entwickelte aber im Folgenden aus einer entleerten Symbolik eine avantgardistische Ästhetik. Seine Dichtung ist sprachreflexiv und experimentell, seine poetologischen Essays (z.B. in Yucatán, 1993) enthalten Reflexionen über Bildkunst, Musik und Literatur. Auch mit Gattungsfragen hat sich der Autor wiederholt auseinandergesetzt und z.B. in Livet i troperne (1998; Das Leben in den Tropen) die Grenzen des Aphorismus ausgelotet. Es stellt sich also die Frage, wie dieser sprach- und formbewusste Autor mit der Gewaltthematik, aber auch mit der persönlichen Betroffenheit umgeht. Seine ausdrückliche Absicht formuliert er im Text selbst: Er will die Wahrheit erzählen, keinen Krimiplot entwerfen, so ehrlich, klar und nüchtern wie möglich schreiben und vor allem will er „ikke lave kunst på Elins død“ (242; keine Kunst aus Elins Tod machen).

Da derartige formale Überlegungen der Schreibarbeit zugrunde lagen, ist es legitim, den Bericht – wie es im Untertitel heißt – trotz der Trauer und der Befangenheit des Urhebers als literarischen Text zu beurteilen. Laut Selbstaussage des Autors ist er auf der Grundlage von Hunderten von Notizzetteln entstanden, die er in der Zeit nach dem Mord und während der Gerichtsverhandlung niedergeschrieben hat, um den Fall zu dokumentieren. Der daraus entstandene Text ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil schildert ein Weihnachtsfest bei der Schwester und dem Schwager in Jütland, wo sich die psychische Gewalt des Ehemannes deutlich zeigt, und die Ehefrau beschließt, ihn, nach mehreren vergeblichen Versuchen, endlich zu verlassen. Nach der Flucht aus dem gemeinsamen Haus versteckt sie sich an wechselnden Adressen, u.a. in einem Frauenhaus (»krisecenter«), bis sie ihr eigenes kleines Haus beziehen kann, doch immer noch in Angst davor, verfolgt und bedroht zu werden. Sie reicht die Scheidung ein und fordert eine Haushaltsteilung, bei der es dann zum Mord kommt. Die Tat selbst wird in der Chronologie zunächst ausgespart, weil der Autor, aus dessen Perspektive erzählt wird, nicht zugegen war.

Im zweiten Teil des Textes wird dann darüber ausführlich im Rückblick von verschiedenen beteiligten Personen berichtet. Dieser Teil ist der Dokumentation der Tat selbst, der Ermittlungsarbeit und den Reaktionen auf die Tat gewidmet, der persönlichen des Autors und Ich-Erzählers, aber auch der psychischen Reaktionen der Familienangehörigen und Augenzeugen. Der dritte Teil dann erzählt von der Gerichtsverhandlung, der Anklage, der Beweisaufnahme, den Zeugenaussagen, dem Plädoyer des Verteidigers und schließlich der Verurteilung. Der Blickwinkel des Berichts liegt immer bei dem Ich-Erzähler, aber es gibt viele Zitate von wörtlichen Repliken anderer Personen, die kursiv gekennzeichnet und damit als dokumentarisch markiert sind.

Trotz dieser dokumentarischen Elemente und des erklärten Bemühens um Wahrhaftigkeit ist der Bericht durch Einseitigkeit und Subjektivität geprägt. Schon der Titel lässt erkennen, dass es mit der Nüchternheit nicht weit her ist. Die Verwünschung und die Anrufung des Teufels lassen starke Gefühle und eine einseitige Haltung erkennen. Der Text ist höchst subjektiv und sensibel, man könnte ihn aber auch kritisch als selbstbezogen und vielleicht sogar larmoyant bezeichnen. Der Autor räumt denn auch freimütig ein: »Men jeg ser det i mordets lys, jeg ved det. Jeg ser alting i det lys« (159; Aber ich sehe es im Licht des Mordes. Ich sehe alles in dem Licht). Gerechtfertigt ist diese Befangenheit durch die Tatsache, dass die Argumentation nicht dem Nachweis der Schuld dient, an der es keinen Zweifel gibt, sondern der Darstellung der mannigfaltigen Implikationen der Gewalttat: wie sie sich angekündigt hatte und möglicherweise hätte vermieden werden können, welche psychischen Auswirkungen sie hat, wie die Ermittlungsarbeit und die juristische Aufarbeitung zu beurteilen ist und welche ungelösten Probleme sie hinterlässt. Aus diesem Bestreben heraus ist ein Text entstanden, der mindestens drei bemerkenswerte Aspekte hat.

Zum ersten ist es ein sehr persönlicher Text, dessen Fundament die Erinnerung an die getötete Schwester Elin darstellt. Sie tritt als eine an ihrem Arbeitsplatz und bei Familie und Freunden geschätzte, äußerst liebenswerte und selbstlose Persönlichkeit hervor, die in diesem Erinnerungsbuch mit dem Feingefühl und der Zuneigung charakterisiert wird, die ihr in ihrer Ehe versagt blieben. Posthum erhält sie dadurch die Aufmerksamkeit, die ihr als Mensch zukommt und auf die sie im Leben verzichten musste. Das sensible und doch unaufgeregte Porträt Elins, ihres ausgeprägten Familiensinns, ihrer Sorge für andere und ihrer Güte, macht eine der Stärken des Textes aus.

Zum zweiten ist der Bericht eine Auslotung der psychischen Folgen des Verbrechens für die Familie, zu der auch der Autor gehört. Als Schriftsteller ist es naheliegend für ihn, dass er das Schreiben benutzt, um die verstörende Tat zu bewältigen. Nachdem er zunächst ungeordnete Aufzeichnungen gemacht hatte, stützt er sich nun auf die Schrift, um die Tatsachen und seine Gedanken zu ordnen, um die Wahrheit zu ermitteln und – insofern das überhaupt möglich ist – Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen: »bogen [begyndte] at antage karakter af beskyttelsesrum. På en sær måde skærmede skriften mig mod hændelserne« (241; Das Buch begann den Charakter eines Schutzraumes anzunehmen. Auf eine merkwürdige Weise schirmte die Schrift mich vor den Ereignissen ab). Insofern handelt es sich um ein Therapiebuch.

Generell spielt die Frage der therapeutischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten eine große Rolle im Text. Der (etwas zu lange) Mittelteil der Studie beschreibt in vielen Wiederholungsschleifen die Reaktionen auf die Tat und die psychischen Probleme der verschiedenen Familienmitglieder als Folge davon. Die beiden Söhne, die in gewissem Sinne Mutter und Vater gleichzeitig verlieren, und andere Augenzeugen des Mordes haben diverse Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und müssen sich in therapeutische Behandlung begeben. Sie leiden dauerhaft unter den Erlebnissen, so dass die Gewalt neben den direkten Auswirkungen auch ernsthafte indirekte Folgen hat. In diesem Zusammenhang spricht Frank von einem Versagen der Sprache, von körperlichen Reaktionen und von einer Übermacht der Gefühle, die einer Machtlosigkeit gleichkommen: »I virkeligheden kan jeg nok slet ikke tale om, hvordan det føles. At det er umuligt at tale om det må være en del af magtesløsheden« (268; In Wirklichkeit kann ich wohl gar nicht darüber sprechen, wie es sich anfühlt. Dass es unmöglich ist, darüber zu sprechen, ist Teil der Machtlosigkeit).

Und doch ist es die Sprache, die Frank einen wichtigen Einfallswinkel, ein Instrument bei der Aufarbeitung des Mordes bietet.  Denn seine Aufmerksamkeit für die Sprache erlaubt es ihm, wichtige Elemente des Gewaltverbrechens selbst, aber auch seiner polizeilichen und juristischen Verfolgung herauszuarbeiten. In diesem Sinne bietet die Buchveröffentlichung – zum dritten – Anlass zu kritischen Überlegungen bezüglich der Arbeit der Behörden, der Polizei und der Justiz. Es beginnt mit dem mangelnden Eingreifen der Polizei, als die Situation bei der geplanten Haushaltsteilung zu eskalieren beginnt. In einem Telefonat, das im Übrigen das gesamte Ereignis einschließlich des Mordes in einer offenen Notrufleitung dokumentiert, bezeichnen die zu Hilfe gerufenen Polizisten die Lage zunächst als »husspektakel« (Familienstreitigkeit, wörtlich: häusliches Schauspiel!), zu dem sie nicht jedes Mal ausrücken könnten. Es setzt sich fort mit einer »mentalerklæring« (einem psychiatrischen Gutachten), das von einer Befragung der Angehörigen absieht und sich lediglich auf vier 45-minütige Interviews mit Standardfragen von professionellen Gutachtern bezieht, die zu dem Ergebnis kommen, der Täter sei nicht »sindssyg« (geisteskrank), und die keine Aussagen dazu machen, welch große Gefahr der Familie zufolge weiterhin von ihm ausgeht. Die Angst der Familie steht in keinem Verhältnis zu den Kategorien der Rechtspsychiatrie, die die Fragen nach der Bedeutung und den Konsequenzen der Bezeichnungen ›Psychopath‹, ›gefährlich‹ oder ›gestört‹ ausklammern.

Am wichtigsten sind solche allgemeinen Überlegungen zur Thematik des Frauenmordes oder Femizids. Frank zieht Studien und Forschungsergebnisse heran, gründet seine Wertungen aber wiederum auf eigene Beobachtungen der Sprache- und des Sprachgebrauchs. Eine genaue Repräsentation der Sprache des Täters offenbart seine narzisstischen Züge und entlarvt eine tief gestörte Persönlichkeit. Seine wiederholten direkten und indirekten Drohungen hätten als Warnung der späteren Gewalttat verstanden werden müssen. Die oft unsichtbar bleibende psychische Gewalt, die Formen wie Beschimpfen, Herabsetzen, Verspotten, Bloßstellen und Drohen annehmen kann, stellt nicht selten eine Vorstufe späterer physischer Gewalt dar und muss deswegen ernst genommen und als justiziabel eingestuft werden.

Auch die Sprache des Verteidigers wird unter die Lupe genommen. Zwar erfüllt er bei seinem Plädoyer die Aufgabe des Rechtsbeistandes für den Angeklagten, doch für die Familie ist seine Darstellung schmerzhaft, wenn er durch seine Wortwahl die Gewaltsituation verzerrt darstellt und das Verhältnis zwischen Täter und Opfer verdreht. Selbst unsere Alltagssprache bedarf der sorgfältigen Prüfung. Die häufig benutzte Formulierung einer ›Familientragödie‹ ist unangemessen und verfälschend, denn anstatt die Gewalttat mit der klaren Wortwahl als Tötungsdelikt oder Mord zu bezeichnen, wird durch die Umschreibung die Schuldfrage uneindeutig, auf mehrere Parteien verteilt und als unvermeidlich, da schicksalshaft, bewertet.

Vor allem durch sein sprachsensibles Vorgehen kann Niels Frank nicht nur über eine sehr verstörende persönliche Geschichte berichten, sondern auch auf einige generelle Aspekte dieses Femizids aufmerksam machen, die in der Zukunft sprachliche, praktische und evt. sogar juristische Konsequenzen haben könnten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Femizide statistisch gesehen meist in der Zeitspanne bis zu drei Monaten nach der Trennung geschehen; ein Wissen davon hätte womöglich diesen Mord verhindern können. Der Text ist daher weniger als spannende true crime-story denn als »brugsbog« (Debattenbeitrag) zum Thema oft unterschätzter psychische Gewalt zu lesen.  

Niels Frank: Fanden tage dig. Beretning om et kvindedrab, Gyldendal, 2022.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Prekär am Ende der Welt

Stark bestrahlte Räumlichkeiten leuchten uns entgegen. Raum im Raum im Raum… Das Licht ist so grell, dass nicht mehr erkennbar ist, was sich im Zentrum all dieser Räume befindet. Die einzigen klar definierten Elemente stehen in der Mitte des Covers: „Viggo Bjerring“ und „Verdenshjertet“. Nach der Novellensammlung Balancekatten („Die Balancekatze“) und dem Kurzroman QWERTY (beide 2016) erschien bei Ekbátana Viggo Bjerrings Debütroman Verdenshjertet (2021; „Das Weltenherz“), in dem wir das Leben des in prekären Arbeitsverhältnissen gefangenen 32-jährigen Mads im Kopenhagen einer nahen Zukunft verfolgen.

Eines Tages findet Mads auf der Online-Plattform EasyJobs einen gut bezahlten Auftrag, der darin besteht, einen Kriminalroman zu redigieren. Dieser wird zum Bestseller und die Auftraggeberin Ane Svendsen bietet Mads an, eine Fortsetzung zu verfassen. Ane Svendsen, eine Literaturagentin, wie sich herausstellt, benötigt für den zweiten Band lediglich 80 Seiten, die dem Text eine menschliche Prägung verleihen. Der Rest des Romans wird von einem Algorithmus verfasst. Mads reist um der Inspiration willen nach Berlin, wo er die ersten unerklärlichen Erfahrungen macht. Per Post erhält er ein mysteriöses Foto, das in der ehemaligen NSA-Abhörstation vor Jahrzehnten aufgenommen wurde. Entschlossen, den auf dem Foto abgebildeten Ort aufzusuchen, begibt er sich in den Grunewald. In den Ruinen der ehemaligen Station bemerkt er einen regelmäßigen Schlag, der an ein Herz erinnert. In der Dunkelheit kann sich Mads nicht mehr auf sein Sehvermögen und das Foto in seiner Tasche verlassen. Die einzige Orientierungshilfe bieten ihm die mechanischen und verführerischen Rhythmen des schlagenden Herzens. So wie Marlow in Joseph Conrads Heart of Darkness (1899), vom Trommelschlag berauscht, einem Zustand der abgestumpften Sinneswahrnehmung und Schläfrigkeit verfällt, tappt Mads im Dunkeln und geht den ohrenbetäubenden Geräuschen nach. Während Marlow, vom mythologischen Bild des Mr. Kurtz angetrieben, sich diesem immer weiter nähert und ihn schließlich machtlos im Gras liegend vorfindet, fällt Mads in Ohnmacht und wacht erst zwei Wochen später in seiner Berliner Wohnung auf. Was in dieser Zeit geschah, bleibt sowohl ihm als auch den Lesenden verborgen.

Als Mads seinen Laptop aufklappt, bemerkt er, dass er in diesen zwei Wochen bei seinem Romanprojekt vorangekommen sein muss. Die neuen Passagen („fremmedteksten“ S. 149 – „der fremde Text“) erscheinen ihm jedoch merkwürdig. Er erinnert sich nicht daran, sie geschrieben zu haben, obwohl darin, wenn auch deutlich dramatisiert, seine innersten Kindheitserinnerungen und Traumata geschildert werden. In diesen Passagen erfahren wir unter anderem, dass Mads höchstwahrscheinlich im jungen Alter seine Mutter verlor. Durch die höchst persönlichen Schilderungen aus Mads’ Leben, der hier trotz der berechtigten Zweifel als Urheber der Passagen gelten soll, wird eine starke Identifizierung der Leser:innen mit ihm hervorgerufen. Die Sprache wird poetischer, plötzlich wird im Präsens erzählt, und wir beobachten den jungen Ich-Erzähler aus unmittelbarer Nähe. Nach diesem stilistischen Wechsel befinden sich die Lesenden in derselben Position wie Mads: im Unklaren darüber, wer was wann schrieb. Wer, wenn nicht Mads selbst, könnte imstande sein, seine persönlichsten Erinnerungen wiederzugeben? Die verlorene Kontrolle über das eigene Gedächtnis wird dadurch verstärkt, dass sich Mads an ein Lied seiner Kindheit nicht mehr erinnern kann, das seine Mutter in einem Urlaub sang.

Abgesehen von der Traumabewältigung und der Frage der Autor:innenschaft stehen Geräusche und Musik im Zentrum des Buches. In Hinblick auf das Auditive wird eine deutliche Entwicklung im „fremden Text“ vollzogen. Am Anfang ist vom monotonen Klingeln des Festnetztelefons zu lesen, das der Ich-Erzähler durch laute Musik übertönen will. Diese Monotonie ist von den rhythmischen Herzschlägen aus dem Teufelsberg nicht weit entfernt: „Telefonen svarer igen: Ringetonen forandrer sig. Lyden bliver højere og mere aggressiv, hurtigere. Den har ringet mindst 20 gange nu.” (S. 147 – „Das Telefon klingelt wieder. Der Klingelton verändert sich. Das Geräusch wird lauter und aggressiver, schneller. Es hat jetzt mindestens schon 20 Mal geklingelt.“) Wie schon das Herz übt auch das ununterbrochene und immer stärker werdende Klingeln des Telefons eine starke Anziehungskraft auf den Ich-Erzähler aus. Er hebt ab und gibt den Hörer an seinen Vater. Mads’ Vater wird per Telefon mitgeteilt, dass seine Frau bei einem Autounfall starb.

In den darauffolgenden Passagen offenbart sich die Musik als Mittel zur Erkenntnis. Im letzten Abschnitt des „fremden Textes“ lesen wir vom Besuch des Ich-Erzählers, jetzt im Teenageralter, in einer Kirche. Der Organist spielt Buxtehudes Toccata in d-Moll und es wird anschaulich, welch berührende Kraft diese Musik für den Ich-Erzähler hat:

Jeg lukker øjnene, og nu kan jeg se de lange tonerækker for mig. Som en guirlande der roterer og skifter farve. Nu spilles der for fuldt udtræk. Tonerne bevæger sig gennem alle registre. Orgelets brus, det kan vælte én omkuld ligesom Vesterhavets bølger. (S. 169)

Ich schließe die Augen und kann jetzt die langen Tonabfolgen vor mir sehen. Wie eine rotierende Girlande, die ihre Farbe wechselt. Jetzt wird mit voller Kraft gespielt. Die Töne bewegen sich durch alle Register. Das Orgelbrausen, das kann einen umstürzen wie die Wellen der Nordsee.

Geräusche werden zu Musik. Die Monotonie und die zweckgerichtete Instrumentalisierung des klingelnden Telefons werden durch Farben und eine ziellose Bewegung „durch alle Register“ ersetzt. Zwar ist die Bedrohung der Nordseewellen präsent, die Einsicht jedoch, zu der der Ich-Erzähler gelangt, ist nicht mehr zu übersehen:

Musikken er himmel og helvede. Musikken er virkelig, det kan være svært at forstå. Musikken strømmer gennem mig, musikken trækker vejret gennem mig. Og nu, i et trolddomssekund, blæser musikken også en tanke ind i mig: at et menneske er et forsvindingspunkt. Et sted hvor universet forenes på én bestemt måde, der kun finder sted den ene gang. (S. 167-168)

Die Musik ist Himmel und Hölle. Die Musik ist wirklich, das kann schwer sein, zu verstehen. Die Musik strömt durch mich hindurch, die Musik atmet durch mich. Und jetzt, im Moment der Verzauberung, bläst die Musik einen Gedanken in mich hinein: dass der Mensch ein Fluchtpunkt ist. Ein Ort, an dem sich das Universum auf eine bestimmte Art und Weise vereint, so wie es nur dieses eine Mal stattfindet.

Die Erkenntnis, der Mensch sei ein Fluchtpunkt, macht die Tragik des Verlustes mit dem Begriff aus der Perspektivenlehre anschaulich. Die Einsicht des jungen Ich-Erzählers, dass kein Mensch wiederholt werden kann, widerspricht dem Coping-Mechanismus seines Vaters maßgeblich. Dieser ist nach dem Tod seiner Frau davon besessen, einen perfekten Kreis zu zeichnen, und glaubt, dass sie bald wiederkommen wird. Zum Misserfolg und dem Sich-In-Kreisen-Drehen verurteilt, flüchtet sich der Vater in eine eigene Welt, aus der er nicht mehr hinausfindet. Nach dem penibel aufgebauten dramaturgischen Höhepunkt der Kirchenszene wird die genremäßige Vermischung vervollständigt. Der Ich-Erzähler besteigt 46 von den 47 Stufen zur Orgel und greift nach einer Waffe in seiner Tasche. Der Organist spielt mittlerweile nicht mehr, die beiden schauen sich an. Der Ausgang dieser Szene bleibt uns verborgen.

Nach dem Lesen der neuen Seiten bleiben Mads bedeutendere Selbstreflexionen verwehrt, und auf die spannungsgeladenen, höchst persönlichen Passagen des „fremden Textes“ folgen Schilderungen aus Berlin. Die allgemeineren gesellschaftskritischen Beobachtungen lassen jedoch die Originalität und Schärfe der vorherigen Seiten vermissen:

De få, der havde taget klimaproblemet alvorligt i begyndelsen af årtusindet, havde troet, at det også betød, at kapitalismens tid var forbi. Men fremtiden var en rodebutik, havde det vist sig, og kun få havde forudset økokapitalismen, som de fleste partier i dag bekendte sig til. (S. 203)

Die Wenigen, die das Klimaproblem zu Beginn des Jahrtausends ernst nahmen, hatten geglaubt, dass das auch bedeuten würde, die Zeit des Kapitalismus wäre vorbei. Die Zukunft jedoch war ein Chaos, wie sich herausstellte, und nur die Wenigsten hatten den Ökokapitalismus vorausgesehen, zu dem sich heute die meisten Parteien bekannten.

Nach den mysteriösen Berlin-Erfahrungen trifft Mads die Literaturagentin Ane Svendsen und den Wissenschaftler und Kardiologen Magnus Svendsen in Dänemark. Magnus erläutert seine Hypothese, dass die Erde, wie sie gegenwärtig erlebt wird, eine von unseren Nachkommen gestartete Simulation ist. Ein endgültiger Beweis dafür sei ein Herz, das sich im Keller unter Svendsens Villa befindet. Dass es um die Simulation schlecht bestellt ist, merke man an den immer häufiger auftretenden ‚Glitches‘ und an der schlechter werdenden Verfassung des Weltenherzens. Die einzige Lösung sei, das Wissen um die Simulation wieder „aus dem Bewusstsein zu verbannen“ und somit die simulierte Welt zu retten. Die Menschen, die von der Simulation wissen – Ane und Magnus Svendsen sowie Mads – müssen, so Magnus’ Aufforderung, den Freitod wählen. Ane begeht daraufhin Selbstmord, Magnus stirbt unter tragischen Umständen, Mads weigert sich jedoch, diese Aufopferung zu vollziehen. Das Ende des Buches ist erneut von Bildern geprägt, die das Gefühl einer Katastrophe zu vermitteln vermögen:

Jeg drejede op ad Nørrebrogade. Overalt blev jeg mødt af det samme syn. Mennesker ubevægelige som mannequindukker. Børn, teenagere, voksne og gamle. Fodgængere, cyklister, bilister. Kvinder og mænd, brune og hvide. Alt og alle var stivnet i en vilkårlig positur. (…) Jeg bevægede mig gennem dette voksmuseum uden at røre ved noget. (S. 257)

Ich bog auf die Nørrebrogade ab. Überall bot sich derselbe Anblick. Menschen unbeweglich wie Schaufensterpuppen. Kinder, Teenager, Erwachsene und Alte. Fußgänger, Fahrradfahrer, Autofahrer. Frauen und Männer, Braune und Weiße. Alles und alle waren erstarrt in einer willkürlichen Pose. (…) Ich bewegte mich durch dieses Wachsmuseum, ohne etwas anzufassen.

Aufgrund der völligen Unbeweglichkeit von Mads’ Umgebung fällt den Lesenden sogar eine einfache Fortbewegung zu Fuß stark auf. Trotz des Ernstes der Situation in sich ruhend und mit der erstarrten Welt rund um ihn konfrontiert, fällt Mads endlich der gesamte Liedtext, den seine Mutter sang, ein. Mitten in dieser an ein Foto erinnernden Szene nähern wir uns ein letztes Mal Mads. Er scheint von den Urheber:innen der Simulation vergessen worden zu sein.

Durch die Idee, die Existenz sei eine pure Simulation, wird die Frage der Autor:innenschaft auf die Spitze getrieben. Das Buchcover scheint die Verschachtelung von Verdenshjertet wiederzugeben. Text im Text im Text. Diese Verschachtelung führt uns vor Augen, dass Mads sich im Unklaren darüber ist, welchen Text er selbst verfasst hat und welcher möglicherweise von einem Algorithmus stammt. Zwar leidet die Dramaturgie von Verdenshjertet unter dem Sprung vom „fremden Text“ zurück in Mads’ Realität. Doch verdeutlicht Viggo Bjerring auf überzeugende Art und Weise, dass es im digitalen Zeitalter längst nicht mehr selbstverständlich ist, den Ursprung eines Textes auf eine oder mehrere klar definierte Verfasser:ininstanzen zurückzuführen. Das Buch kann im letzten Drittel mithilfe der Schilderungen eines nahenden Endes der Simulation eine Untergangsstimmung vermitteln. Das erstarrte Kopenhagen ähnelt einer auf einem Foto festgehaltenen Szene: „Nu var der intet, der bevægede sig mere. Kun mit hjerte der slog helt normalt. En god rytme, et fast taktslag.“ (S. 258 – „Jetzt bewegte sich nichts mehr. Nur mein Herz, das ganz normal schlug. Ein guter Rhythmus, ein stetiger Takt.“)

Viggo Bjerring: Verdenshjertet, Valby: Ekbátana, 2021.

(Anton Matejicka, Universität Wien)

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