Hilde vom Meer oder Ein lückenhaftes Couchgeständnis

Cover des Romans "Hilde" von Klas Östergren

Mit dem Roman Hilde (2019), der auf mindestens zwei Ibsen-Dramen basiert, zeigt der schwedische Autor Klas Östergren, der in den 1970er Jahren debütierte, neue Facetten. Sein Projekt erklärt sich vor allem durch seine Vertrautheit mit Ibsens Dramen, die er während der letzten Jahrzehnte vom Norwegischen ins Schwedische übersetzt hat. Hilde geht in das interskandinavische Literaturprojekt IBSEN NOR 2019 ein, bei dem drei Verlage kooperiert haben (Natur & Kultur in Schweden, Rosinante in Dänemark und Oktober in Norwegen). Da Hildes Lebenslauf bis ins Alter verfolgt wird, lässt sich Hilde als Sequel bezeichnen, während sich der Roman Nora der dänischen Kollegin Merete Pryds Helle als Prequel von Ibsens Et Dukkehjem über Noras Kindheit und Jugend qualifiziert. Der norwegische Beitrag Henrik Falk stammt von Vigdis Hjorth und verarbeitet mehrere Werke Ibsens in einer Handlung, die in der Gegenwart angesiedelt ist, wobei seine männliche Titelfigur eine Variante von Hedda Gabler verkörpert.

Östergrens beständige intensive Textarbeit ermöglicht es ihm, die beiden für seinen Roman maßgeblichen Dramen Die Frau vom Meer (Fruen fra havet 1888) und Baumeister Solness (Bygmester Solness 1893) zusammenzuflechten und auszubauen. Weitere Motive und Handlungselemente aus anderen Ibsen-Dramen werden mit leichter Hand in die Sozialgalerie und die Szenographien eingespeist. Die Handlung von Hilde setzt in den 1920er Jahren ein, Schauplatz ist Berlin, wo Hilde Wangel in Herrn Dabers Agentur für Skandinavien-Reisen arbeitet, als typische Angestellte und ‚neue Frau‘, zugleich auch als Reiseleiterin für deutsche wanderlustige Nordlandtouristen. Im Lokal „Schleusenkrug“ im Tiergarten ereilt sie beim Sonntagstee eine Panikattacke, deren mehrmaliges Auftreten sie bald dazu veranlasst, sich in therapeutische Behandlung zu begeben. Hildes Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Lysanger, aber auch an ihren Besuch beim Stararchitekten Solness, der erst wenige Jahre zurückliegt, vertraut sie während der Redekur ihrem Analytiker Dr. Liebig an. Während dieser Handlungseinheit dominiert Hildes Perspektive, zum einen in ihren Monologen auf der Couch, die dem Text ein szenisches Gepräge geben, zum anderen vermittelt über einen männlichen Erzähler (in erlebter Rede). Das psychologische Fundament für diese interne Fokalisierung stellen Die Frau vom Meer und Baumeister Solness bereit, die paraphrasiert bzw. ausgelegt werden.

Im zweiten Teil des Romans erfahren die Lesenden vom Erzähler, der nun auf pseudo-dokumentarische Weise unterschiedliche Quellen über die Protagonistin miteinander in Beziehung bringt, wie sich Hildes Werdegang nach ihrer Rückkehr zur Familie in Norwegen gestaltet. Eine psychoanalytische Publikation von Dr. Liebig wird ausgewertet, Hildes Briefe an ihre Schwester Bolette resümiert, die sie während des Berlin-Aufenthalts geschrieben hatte, und Schilderungen aus dem skurrilen Büchlein Tante Hilde (verfasst von einem Neffen) eingearbeitet. Hildes Neffe verteidigt seine originelle Tante, die nicht nur wegen ihres freizügigen Lebenswandels, sondern auch durch ihre Kontakte zu Nationalsozialisten – in Norwegen und Berlin – ihren Ruf ruiniert hatte.

Das Substrat

Die umfangreiche Figurengalerie macht es beinahe erforderlich, die beiden Ibsen-Stücke zu kennen. Das Drama Die Frau vom Meer, dessen Titel auf Hildes Mutter Ellida Wangel referiert, stimmt auf die sinnliche Idealisierung des Meeres in Hilde ein und gestaltet den suggestiven Kontrast von provinzieller Vernunftehe und dem dramatischen Liebesschwur, der Ellida mit einem mysteriösen Fremden verbindet, dessen blaue Augen hypnotische Wirkung haben. Hildes vertrauliche Beziehung zu ihrer Schwester Bolette wird nur durch die Kenntnis des Dramas nachvollziehbar. Ihre präzise Beobachtungsgabe schon als Kind, ihre vorlauten, treffenden Kommentare und ihre Verachtung für langweilige, antriebsarme Männer, die Schwäche zeigen, sind zum Erscheinungszeitpunkt des Dramas provokant und heute noch erstaunlich. Dass eine Figur wie Hilde von einem Drama ins andere wandert, ist eine Ausnahme in Ibsens Werk.

Mit der einsetzenden Handlung von Ibsens Baumeister Solness ist ein Jahrzehnt verstrichen. Hilde sucht das Ehepaar Solness auf, nachdem sie von einer Hüttenwanderung zurückgekehrt ist. Gleich nach ihrer Ankunft weist Hilde auf die schmutzige Wäsche in ihrem Rucksack hin, die dringend gewaschen werden müsste. Sie erinnert Solness an ihre gemeinsame Begegnung nach einem Richtfest in Lysanger. In einem intimen Gespräch habe er ihr damals ein Königreich versprochen und versichert, dass sie diese Belohnung als Erwachsene von ihm erhalten würde. Die schmutzige Wäsche deutet an, dass die zurückliegende Begegnung keineswegs unschuldig war. Hilde muss Solness’ Erinnerung dann durch ihre Darstellung der Begegnung auf die Sprünge helfen, wodurch Ibsens Drama im Vagen belässt, ob es zu einem Übergriff gekommen war oder ob eine pädophile Szene im Nachhinein gemeinsam imaginiert wird. Die Feststellung von Solness und Hilde, dass sie ähnliche Wunschphantasien hegten und ähnliche Alpträume (vom Fallen) erlebten, stellt im Drama die Seelenverwandtschaft heraus. Östergrens Roman hebt dagegen auf eine gemeinschaftliche Handlung ab, so als sei es nun Zeit, das ‚um(ge)schriebene‘ Skandalon freizulegen oder neu zu perspektivieren. Möglicherweise interpretiert er dabei Ibsens Drama unter den Vorzeichen der Me too-Debatte sowie unter dem Eindruck der Skandale an der Schwedischen Akademie, die Östergren 2018 im Protest verließ.

In Östergrens Roman hat Hilde seit den Kindertagen nicht aufgehört, den Baumeister zu bewundern, sie spricht sogar von Verliebtheit und lobt seine „malmklingande stämma[…]“ (wie Erz tönende Stimme, S. 89). Hilde sucht den alternden Solness nicht etwa auf, um sich zu rächen oder um mit dem verstörenden Erlebnis abzuschließen, sie verführt ihn zu einer exzessiven Geste und schließlich zum Tod durch den Absturz vom selbst entworfenen Turm. Im dramatischen Ausgangstext wird der erste Turmaufstieg Solness’ lediglich aus Hildes Erinnerung geschildert. Im Roman Hilde findet die Turmszene zwei Mal statt, einmal in den Kindheitsjahren in Lysanger am Meer, kurz bevor es in der Bibliothek von Doktor Wangel zum mutmaßlichen Übergriff kommt, ein weiteres Mal, als Hilde als 20-jährige Reiseleiterin einen Abstecher zu Halvard und Aline Solness macht. Sie wird als vitale und charismatische Frau charakterisiert, mit einer Erscheinung, die an das bekannte farbintensive Gemälde des dänischen Malers Jens Ferdinand Villumsen von einer Bergwanderin erinnert. (Die raumgreifende und lichtumflutete Gestalt inkorporiert die vitalistische Überwindung von Fin de siècle und Dekadenz.) Als in Östergrens Roman Hilde den alten Solness animiert, trotz seiner Höhenangst auf den Turm seiner neu errichteten Villa hinaufzugehen, erlebt sie seinen Aufstieg und ihre manipulative Intervention als lustvoll und erhaben. Abermals bejubelt Hilde ihr Idol, abermals meint sie, himmlische Harfenklänge zu vernehmen, als Solness die Turmspitze erreicht hat. Mit seinem Fall aus großer Höhe wird zugleich das unmögliche Liebesverhältnis von Hilde und Solness beendet. Nach dem Begräbnis kümmert sich Hilde um die Witwe und stellt einen kompetenten Nachfolger ein, dies ist die erste markierte Abweichung vom Ibsen-Drama.

Hilde ist bei Östergren nicht etwa Opfer, sondern sie behauptet sich, indem sie die Weichen für die Lebenswege anderer Menschen stellt, konstruktiv oder aber als eine Anleitung zum Scheitern. In Hilde wird leitmotivisch eine eigene Formulierung für ihr manipulatives Vorgehen verwendet: „fingra på andra öden“ (am Schicksal anderer herumfingern). Ihr eigener Werdegang ist davon ausgenommen; Hilde verhält sich bei Östergren eher wie eine Drifterin, die sich denjenigen Unentschiedenen anschließt, die auf ihre Intervention nur zu warten scheinen. Scheitern die Manipulierten infolge ihrer Einflussnahme, schaut Hilde niemals zurück. Sie hat, wie bereits bei Ibsen betont wird, ein „robustes Gewissen“ – bei Östergren ist dies ein Euphemismus für Hildes Skrupellosigkeit. Wenn eine Sache „spannend“ ist, will Hilde an ihr teilhaben, so nahe am Geschehen sein wie nur möglich, obgleich grenzüberschreitende Erfahrungen allein den Männern in ihrem Kreis vorbehalten sind und die großen Gefühle bloß stellvertretend und nicht von Hilde selbst erlebt sind.

Suggestive Zeichendeutungen

In den Kapiteln über Hildes psychoanalytische Sitzungen werden die Lesenden dazu angeregt, Zeichen zu deuten und detektivisch herzuleiten, welches Trauma auf welche Weise umschrieben sein mag. So könnten sie nach der Romanlektüre etwa vermuten, dass Hilde bei ihrem Berliner Sonntagsausflug mit der Farbe Blau konfrontiert wurde und sich deshalb bedrohliche Erinnerungen freisetzten. Vielleicht lag es aber auch am Teefleck, der auf Hildes meeresblauer Bluse zurückbleibt, der einem dunklen Mal ähnelt, das ein Junge aus Lysanger auf der Stirn trug, der in tragische Ereignisse verwickelt war. Hilde hatte ihn dazu angestiftet, über eine Schlucht zu springen, wobei der Junge verunglückt war und lebenslange Schäden davontrug. Eine ambivalente Ästhetisierung bzw. Erotisierung von Gewalt zeichnet sich ab, als Hilde auf Solness’ Grundstück erlebt, wie ein muskulöser Bauarbeiter einen Granitbrocken spaltet. Beim ersten Schlag, nämlich dem Setzen eines der Spaltpunkte, hat das Kind Hilde sogar selbst mitgeholfen. Kurz nach der Spaltung steigt aus der Kluft ein Geruch von Meer und Tang auf, „ännu ett av tillvarons mysterier“ (ein weiteres Mysterium des Daseins, S. 97).

Alles was im Roman berichtet wird, speist sich aus heterogenen Texten und Quellen, auch über die Ibsendramen hinausgehend. Das Angewiesensein auf Texte bleibt den Lesenden von Östergrens Roman ständig bewusst. Dies wird ein weiteres Mal betont, als die intime Annäherung im Rahmen des Couchgesprächs erinnert wird: die Begegnung von Solness und Hilde findet nämlich in der Bibliothek von Hildes Vater statt. Gegen das Regal gedrückt, in dem die medizinische Fachliteratur des Arztes Dr. Wangel verwahrt ist, wird das Mädchen von Solness bedrängt. Das verstörende Erlebnis selbst jedoch bleibt ‚um-schrieben‘ oder in bildhafte Vergleiche eingesponnen. Während Hildes Erinnerungsarbeit wird der Vorfall allmählich auf Abstand gebracht, umgewichtet und verzerrt: „När jag kom in där en dag såg jag att böckerna på hyllan där Solness tryckt sig mot mig fortfarande stod inskjutna så att det bildades en liten rund inbuktning efter mitt huvud.” (Als ich eines Tages die Bibliothek betrat, sah ich, dass die Bücher, vor denen sich Solness an mich gedrückt hatte, im Regal immer noch zurückgesetzt standen, mein Kopf hatte eine rund geformte Einbuchtung hinterlassen, S. 102) Hilde korrigiert die Position der Bücher im Regal, weil sie doch weiß, dass ihr Vater es schätzt, wenn die Schriften präzis auf Kante gereiht sind. Mit diesem Schritt ordnet sie sich der patriarchalischen Gewalt unter und versucht fortan, in einer Allianz mit den handlungsmächtigen und übergriffigen Männern eine kompensatorische Handlungsmacht zu gewinnen. In welchem Maße Hildes Couchbekenntnisse unzuverlässig und lückenhaft sind, zeigt sich daran, dass sie den damaligen Vorfall durch die klar erinnerten Abbildungen in den Medizinzeitschriften ‚verschandelt‘ wähnt, da diese Krankheitssymptome und Missbildungen darstellten: „Allt blev liksom besudlat av störande kunskap.“ (Alles wurde gleichsam von störendem Wissen besudelt, S. 146).

Dass Hilde während ihres gesamten Lebens sehr an Solness’ Anerkennung gelegen blieb, zeigt die Episode über den künstlerischen Austausch der beiden, bei dem sich schon das Mädchen Hilde auf Augenhöhe wähnte. Sie zeigte ihm einst die eigenen Kinderzeichnungen von Gebäuden mit hohen Türmen, die den Baumeister womöglich sogar architektonisch inspiriert hatten: „Halvard Solness satte sig frimodigt på trappan till verandan, och jag fick sitta bredvid honom och berätta hur jag tänkt mig det hela. Han nickade, liksom godkännande, som om han inte alls talade med ett barn, en okunnig unge. Jag fick känna mig liksom vuxen.” (Halvard Solness setzte sich ganz unbefangen auf die Verandatreppe, und ich durfte neben ihm sitzen und erzählen, wie ich mir das alles gedacht hatte. Er nickte, anerkennend, gar nicht als ob er mit einem Kind sprechen würde oder mit einem unbedarften Wesen. Ich fühlte mich irgendwie erwachsen, S. 90).

Satirische Hakenschläge

Der Roman kombiniert unterschiedliche Perspektiven und Textsorten, und durch Hildes derbe Ausdrucksweise und ihre schwankende Orthographie in ihren zitierten Briefen wird die ‚Bejahung der Tat‘ auf die Ebene des Alltäglichen heruntergebrochen. In der Darstellung von Hildes Beziehung zum Geologen Jørgen Friel setzt sich das satirische Element vollends durch. Als Hilde ihren Verlobten für die Teilnahme an einer Amundsen-Expedition trainiert und dabei sogar ihre berüchtigten Kochkünste zum Einsatz bringt, um haltbaren Proviant herzustellen, kommt es zu einem Fiasko: „Han åt, grät och förtvivlade.“ (Er aß, weinte und verzweifelte, S. 273) Abgesehen von Hildes mangelndem kulinarischen Talent erweist sich Jørgen ohnehin als Expeditions-untauglich. Hildes lässiger Auftritt am Grunewalder FKK-Strand sorgt ebenfalls für eine heitere Episode. Historische Persönlichkeiten oder Figuren, die nach eben solchen modelliert zu sein scheinen, wie etwa Hildes Freundin, die an die Malerin und Repräsentantin der ‚Neuen Frau‘ Lotte Laserstein erinnert, tummeln sich einvernehmlich in den drei letzten Kapiteln und ersetzen phasenweise die Ibsen-Figurengalerie. Durch die Familie ihres Verlobten gerät Hilde in die politische Nähe von Nasjonal Samling, der nationalsozialistischen norwegischen Partei. An der Seite des ich-schwachen Geologen Jørgen, der im völkischen Denken den Halt und die Männlichkeitskonzepte wiedergefunden hat, die ihm nach seinen gescheiterten Expeditionsplänen abhandengekommen waren, verhält sich Hilde einmal mehr ohne jegliche Bedenken. Der Entdecker und Skifahrer Fridtjof Nansen und der Bildhauer Gustav Vigeland sind Hildes Idole. Ein Künstler des Modernen Durchbruchs wie Bjørnstjerne Bjørnson – und damit auch ein Autor wie Ibsen – ist Hilde zufolge nur noch etwas für ältliche Langweiler wie den Lehrer Arnholm, der mit ihrer Schwester, der vernünftigen Bolette verheiratet ist.

Das satirische Paradestück des Romans besteht in einer Art Ibsen-Quiz. Dr. Liebig befragt Hilde nach ihrer Einschätzung zu Konfliktsituationen, die der Psychoanalytiker anhand von Ibsen-Dramen illustriert, ohne dies anzugeben. Im Gespräch teilt Hilde mit, dass sie sich mit der wechselfälschenden Ehefrau (Nora) solidarisiert, dass sie für ein Festhalten an Lebenslügen sei (Die Wildente), dass sie das ärztliche Ethos des Arztes begrüßt, der einen Giftskandal aufdeckt (Der Volksfeind), bevor sie, befragt zu einem Konflikt à la Hedda Gabler, ausbricht: „Hon som sköt sig? Den har jag hört!“ (Die sich erschossen hat? Die Geschichte kenne ich! S. 223-224). Ein Selbstmord sei laut Hilde dem tatenlosen Dahinwelken klar vorzuziehen. Das Hedda-Thema erhält von ihr das Prädikat „Verkligen spännande“ (wirklich spannend, S. 225).

Ein weiteres besonderes Lesevergnügen bietet das erstaunliche Fallbeispiel von Hilde als „Porzellanfrau“, denn Dr. Liebig vollführt den Trick, die Darstellung einer Miniatur-Landschaft mit mehreren Hirtenszenen auf einem blau bemalten Teller zu ergründen. Mit Hilfe dieser Mikrostudie kann er seine Fallstudie vollenden und dank Hilde einen wichtigen Karriereschritt setzen. Seine Patientin hatte ihm anvertraut, dass dieses Sonntagsservice daheim in Lysanger bei ihr stets Ekel und Nahrungsverweigerung ausgelöst hatte. Die arkadische Szenographie wird mit absurder Präzision untersucht (S. 228-232), wobei Liebig schließlich entdeckt, dass sich eine männliche Gestalt heimtückisch an eine junge Frau heranschleicht, die am Meeressaum kniet. Dieses Geheimnis, das Erkennen einer lauernden Gefahr, sei Liebig zufolge lebenslang unter Hildes ‚Glasur‘ verborgen geblieben, bis diese Versiegelung bei den Panikanfällen durchlässig geworden sei. Der Erzähler bringt später in Erfahrung, dass Hilde den entscheidenden Teller bei einem Wutanfall über den mangelnden Sportsgeist ihres Verlobten Jørgen zerschlägt. Die potentielle symbolische Aufladung des Geschirrs wird dadurch allerdings nicht in Frage gestellt, sondern eher der Umstand betont, dass weder Liebig noch Hilde selbst einen verlässlichen Schlüssel zum Trauma finden können. Als Liebig seine Patientin noch einmal sehr konkret zum Vorfall in der Bibliothek befragt, wird Hilde von der Farbe Blau schier überflutet, bricht die Behandlung ab und reist fluchtartig nach Norwegen zurück.

Der Roman liefert ein aufschlussreiches, mentalitätsgeschichtliches Epochenprofil. Hildes Vitalismus und derjenige der (männlichen) Pioniere, Entdecker, Forscher und sich selbst überhöhenden Künstler – steht in einem Spannungsverhältnis zum psychoanalytischen Plot von Hilde. Der vitalistische Ich-Kult und die Entmachtung des Subjekts in Freuds Erklärungsmodell sind sowohl paradox erscheinende als auch einander bedingende Phänomene. Hilde selbst geling es kaum, Zugang zu ihrem Innersten zu finden oder ‚Herrin im Haus‘ zu werden. Dagegen sind Therapeuten, Zeitzeugen, Biographen oder Literaten vermeintlich eher in der Lage, einen Blick auf das Verdrängte zu erhaschen. Eine weibliche Berichterstattung oder Überlieferung zu Hildes ‚Künstlerinnenbiographie‘ gibt es nicht. Es scheint, dass diese bestehende Lücke Hilde dazu veranlasst, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, da sie Dr. Liebig den Titel „Der Fall H“ für seine Studie vorschlägt (vgl. S. 297).

Mit einer Anleihe bei E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, als nämlich „der hohe Ratsturm […] seinen Riesenschatten über den Markt“ warf, kurz bevor Nathanael dem Wahnsinn verfällt, gelingt es dem Erzähler, in den letzten Sätzen ein intertextuelles Monument für Hilde zu errichten. Zugleich wird eine Aussage über das Verhältnis von Literatur und Psychoanalyse getroffen.

På vintern, när solen står som lägst, blir alla skuggor mycket långa, så som de alltid blir, vintertid, uppe i norr. Kyrktornets skugga är minst ett hundra meter lång, varvid spetsen på Solness skapelse kan fälla en mörk strimma över namnen på föräldrarnas gravsten. Men den når aldrig fram till ’Hilde Wangel’, hugget i en opolerad vård av granit, full av hav. (S. 299)

Im Winter, wenn die Sonne am tiefsten steht, werden die Schatten sehr lang, wie immer zur Winterzeit im Norden. Der Schatten des Kirchturms ist mindestens hundert Meter lang, wobei die Spitze von Solness‘ Bauwerk einen dunklen Streifen über den Namen der Eltern auf dem Grabstein werfen kann. Doch die Inschrift ‚Hilde Wangel‘, in einen rohen Granitblock gemeißelt, der das Meer enthält, wird er nie berühren.

So wie „Der Sandmann“ zu einem Schlüsseltext Freuds für das „Unheimliche“ wurde, können die beiden Ibsen-Dramen als ein Fundament der übermütig fabulierenden, literarischen Psychoanalyse Östergrens gelten. Zugleich bestätigen sich die literarischen Erkenntnismöglichkeiten der Ibsen-Dramen selbst, unabhängig von den vielfältigen und widerstreitenden Deutungen der Nachwelt. Die tatendurstige Hilde behält im Roman zumindest symbolisch das letzte Wort.

Klas Östergren: Hilde. Roman, Stockholm: Natur och Kultur, 2019.

(Antje Wischmann)

In Schweden veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Landnahme ohne Pathos

Seit ungefähr dreißig Jahren ist Ida Jessen eine in Dänemark etablierte und viel gelesene sowie mit renommierten Preisen ausgezeichnete Autorin. Ihr facettenreiches Werk, dessen bekannteste Texte in der dänischen Provinz spielen und sich durch psychologisch einfühlsame Figurenporträts auszeichnen, ist in mehrere Sprachen übersetzt worden (vgl. Neues Lesen, Dezember 2012 und März 2017). Mit ihrem neuen voluminösen Roman betritt die Autorin jedoch ein neues Terrain – was eine passende Metapher für einen Roman darstellt, der von Landnahme und Besiedlung handelt. Im dänischen Feuilleton wurde Kaptajnen og Ann Barbara als »sagtmodig Western« (Information, 23.10.2020) bezeichnet, der anstelle von Indianern und der Prärie die jütische Heide und deren Besiedlung fokussiert. Insofern kann man den in der Mitte des 18. Jahrhunderts spielenden historischen Roman als Landnahmeroman bezeichnen. Damit greift die Autorin eine im 19. Jahrhundert populäre Gattung auf, die meist mit dem englischen Begriff als »settler novel« bezeichnet wird, weil sie vor allem von der Besiedlung Nordamerikas berichtet und auf meist heroische Schilderungen von Landnahmen konzentriert ist. Auch in der skandinavischen Literatur gibt es solche Romane über Auswanderer, Pioniere und ›Nybyggere‹. In den heute fast vergessenen Erzähltexten ging es um die Eroberung einer angeblichen leeren, herrenlosen Landschaft, um den harten Kampf gegen die Natur und um den entbehrungsreichen, aber mutigen Neubeginn auf einer tabula rasa, auf der eine neue Gesellschaft etabliert wird. Nicht immer betrafen diese Gründungserzählungen die sogenannte neue Welt, auch im Inneren der skandinavischen Länder gab es Kolonialisierungsprojekte, so wurde in Dänemark die Urbarmachung der jütischen Heide, wo die klimatischen Voraussetzungen und die Beschaffenheit des Bodens dem ›Nybygger‹ das Äußerste abverlangten, als landesinterne Landgewinnungsmaßnahme betrieben. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschrieben Autoren wie Johan Skjoldborg (En Stridsmand, 1896) und Harri Søiberg (»Den vestjyske Udbygger«, 1906), wie »herreløst Land« (herrenloses Land) und »urgammelt, udyrket Land« (uraltes, unbebautes Land) von dem Pflug des Siedlers bezwungen wurde.1 Die Texte stellen ein Projekt der Unterwerfung und (männlichen) Eroberung dar, das Insistieren auf dem Neubeginn beschwört Selbstbestimmung, Fortschrittsglauben und Ermächtigung, die Skjoldborg durch einen biblischen Vergleich hervorhebt: »Som Solen skred frem paa sin Bane, og Vandet løb ned til Stranden, gjorde dette Menneskepar sig Jorden underdanig« (S. 103; Während die Sonne auf ihrer Bahn voranschritt und das Wasser zum Strand hinablief, machte sich dieses Menschenpaar die Erde untertan).  

Wenn nun Ida Jessen diese Gattungstradition neu belebt, setzt sie völlig andere Akzente, ja, sie schreibt das Genre um und gibt ihm durch diese Revision eine neue Berechtigung. Ihr Roman spielt in den 1750er und 60er Jahren in der damals nahezu unbesiedelten Heidelandschaft südwestlich von Viborg und schildert den vergeblichen Kampf des aus Deutschland stammenden Kapitäns Ludwig von Kahlen gegen die unwirtliche Landschaft, den Sand und den Wind, gegen die hemmende Administration der Krone, vertreten durch die Kopenhagener »Rentenkammer«, und gegen die Anfeindungen des brutalen Gutsherren Schinkel von Hald. Der einzige Vertraute des Kapitäns ist der mittellose Theologe Søren Thestrup, der sich auch für die Vermessung und Besiedlung der Heide interessiert, aber ihn kaum unterstützen kann. Zunächst lebt und arbeitet von Kahlen ganz allein, dann gesellt sich eine Frau, Ann Barbara, zu ihm und Anmai Mus, ein »taterpige« (Sintomädchen), wird von einem umherziehenden Glaser bei ihm zurückgelassen. Von Kahlen hat den Auftrag, die unbesiedelte Heidelandschaft zu kartieren, und setzt sich zum Ziel, sie urbar zu machen und Siedlungen anzulegen. Er versucht, Bauern aus Mecklenburg zur Ansiedlung zu gewinnen, doch er scheitert mit diesem Projekt genauso wie an seinem persönlichen Kampf: Der sandige Boden bringt kaum Erträge, Wölfe sind eine ständige Gefahr, das Geld ist knapp und geht zur Neige, sein stolzes Pferd wird von einem Bienenschwarm getötet, schließlich vernichtet ein Sandsturm die gesamte Ernte und im Winter herrschen Kälte und Hunger. Der Kapitän wird zur Aufgabe seines übermächtigen Vorhabens gezwungen. Ida Jessen revidiert damit die optimistischen Landnahmefantasmen, die das Narrativ bis dahin dominiert hatten – bis hin zu seinem bekanntesten Vertreter, Knut Hamsuns Roman Markens Grøde (1917; Der Segen der Erde), zu dem sich Jessens Text wie ein Gegenentwurf liest.

Doch es sind nicht die literarischen Intertexte, die den Roman maßgeblich prägen, sondern umfangreiche historische Quellen. Für die männlichen Hauptpersonen gibt es historische Vorbilder, die Autorin hat sich auf Archivmaterial und historische Studien gestützt, hat Dokumente, Briefe und Tagebücher studiert und in lokalhistorischen Archiven und der Bibliothek von Sorø geforscht. Sie beruft sich auf Valdemar Andersens Standardwerk über Den jyske hedekolonisation (1970) und zieht auch die Studien H.P. Hansens aus dem 19. Jahrhundert heran, der sich dem sog. fahrenden »Natmandsfolk«, das meist der Volksgruppe der Sinti angehörte, gewidmet hatte. Und doch ist auf der Basis von Daten und Fakten ein fantasievoller und lebendiger Roman entstanden, der vor allem durch die Hinzufügung der nicht-historischen Frauenfiguren an Komplexität und Farbigkeit gewinnt. Erstaunlicherweise sind es gerade die fiktionalen Aspekte, die den Realismus des Siedlerromans erhöhen: Indem sie den weiblichen Beitrag betonen, revidieren sie den traditionellen männlichen Heroismus des Genres. Respektvoll werden die Figuren aus einer Außenperspektive in erster Linie durch ihre Handlungen geschildert, nur gelegentlich gibt es kurze Einschübe mit personaler Fokalisierung, die uns die Charaktere näherbringen. Durch den Verzicht auf eine psychologisierende Haltung der Erzählinstanz wird aber immer eine gewisse Distanz zu den historischen Personen aufrechterhalten; wir lernen sie kennen, doch sie bleiben uns fremd, so wie die Zeit und das Milieu zwar anschaulich, aber als fern geschildert werden.

Die beiden Frauen treten als tatkräftig und mündig hervor, aber ihre Herkunft und ihre Gefühle bleiben weitgehend verborgen, sie bewahren ein Moment des Geheimnisvollen. Anmai Mus wird zunächst durch ihre Unerschrockenheit und kindliche Wildheit charakterisiert, sowie durch eine fremde, unverständliche Sprache. Doch sie ist auch klug, der Kapitän lehrt sie lesen und schreiben, sie interessiert sich für die Messungen und Instrumente des Kapitäns und wird zu seiner Assistentin, so dass dem Stereotyp der »taterpige« ein liebenswerter, unabhängiger Charakter entgegengesetzt wird. Ann Barbara ist eine handlungsstarke und mutige Frau, die den Kapitän bei seinem Kampf um das Heideland zupackend unterstützt. Sie übt schließlich Selbstjustiz gegenüber dem tyrannischen Gutsherrn und wird dafür zur Lagerhaft verurteilt. Und doch gibt es eine Art von Happy End, in das sich auch die zurückhaltend erzählte Liebesgeschichte zwischen Ann Barbara und dem Kapitän einfügt.

Es ist ein handlungsreicher, ja spannender Roman, der sich nicht zuletzt durch seine klare Sprache auszeichnet, die weniger historisierend als vielmehr schlicht und zeitlos ist: manchmal eher lakonisch die Widrigkeiten konstatierend, manchmal durch eingefügte Briefe die Zeit und die Charaktere plastisch ausmalend, oft dialogreich und lebendig die Szenen vor Augen führend, meist aber ernst und ruhig in knappen Sätzen berichtend. Eine Hauptrolle spielt die jütische Natur, deren Charakteristik in eindringlichen und doch sehr schlichten Schilderungen hervorgehoben wird:  

Vinden farer over himlen, og skyer og regn. Varmen og kulden bæres frem af vinden. Vinden tuder, ingen ved, hvorfra den kommer, den synger og hyler, vinden er der altid. Natten og dagen er der også. Ulve er der, hugorme ruller sig sammen, sommergule sommerfugle patruljerer, lærker stiger op. Rovfugle er der. Boliger er der ikke. Mennesker er der ikke. Lyset og mørket er der, og gråt er der. Natten og dagen er der, og årstiderne er der. Vinden, Vinden er der. (S. 7)  

Der Wind fährt über den Himmel, und Wolken und Regen. Die Wärme und die Kälte werden vom Wind vorwärts getragen. Der Wind weint, keiner weiß, woher er kommt, er singt und heult, der Wind ist immer da. Die Nacht und der Tag sind auch da. Wölfe sind da, Schlangen rollen sich zusammen, sommergelbe Schmetterlinge patrouillieren, Lerchen steigen auf. Raubvögel sind da. Wohnstätten sind nicht da. Menschen sind nicht da. Das Licht und das Dunkel sind da, und Grau ist da. Die Nacht und der Tag sind da, und die Jahreszeiten sind da. Der Wind, der Wind ist da.

So wird die jütische Heide auf der ersten Seite des Romans unpathetisch und doch poetisch mit deutlichem Anklang an Inger Christensens Gedichtsammlung Alfabet (1981) beschrieben und damit gleich zu Beginn eine Widerrufung von Anfangs- und Allmachtsfantasmen anzitiert, da Christensens Text ein Schöpfungsszenario entfaltet, das die Zerstörung bereits in sich trägt. In ähnlichem Sinne entfaltet auch der Roman eine Ehrfurcht vor der Schönheit, aber auch der Macht der Natur. Er setzt den Menschen, die sich um die Besiedlung der kargen Landschaft bemüht haben, ein respektvolles Denkmal, ohne sie zu heroisieren. Der historische Roman, der die Vorgeschichte der schließlich erfolgreichen Urbarmachung der jütischen Heide spannungsreich erzählt, erreicht eine Balance von lebendiger Nähe und anerkennender Distanz durch seine Sprachkunst und fantasievolle Figurendarstellung. Eine Übersetzung ist Deutsche (oder gar eine Verfilmung) ist trotz des Lokalkolorits durchaus wünschenswert.

Ida Jessen: Kaptajnen og Ann Barbara. Roman, Kopenhagen: Gyldendal, 2020.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

1 Vgl. Skjoldborg: En Stridsmand, Kopenhagen, 1896, S. 1; Søiberg: „Den vestjyske Udbygger“, in: Øde Egne. Vestjyske Kysthistorier, Kopenhagen, 1906, S. 5-6.

In Dänemark veröffentlicht | Getaggt , , , | Kommentare geschlossen

Sachbuch und Familienalbum: zu den Zwangsumsiedlungen der Sámi

Cover des Buchs "Herrarna satte oss hit" von Elin Anna Labba

Das kleine Kind schreit verängstigt, obwohl es seinen eigenen Vater sieht: Elle erkennt sein Gesicht nicht; die Sprache, die er spricht, ist ihr fremd. Aus Angst, dass sie als Säugling den Winter in der zeltähnlichen Kote nicht überleben könnte, wurde Elle als Baby bei einer anderen Familie untergebracht. Eigentlich möchten ihre Eltern sie so schnell wie möglich wiederhaben, doch als sie zwangsumgesiedelt werden, wird die Familie auseinandergerissen. Erst mit drei Jahren kann Elle von ihrem Vater abgeholt werden. 

Ihre Familie ist nur eine von vielen, deren Geschichte die samisch-schwedische Journalistin Elin Anna Labba in Herrarna satte oss hit beschreibt. Das Anfang 2020 erschienene Buch wurde im selben Jahr mit dem prestigeträchtigen Augustpreis in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet. Die Monografie enthält eine starke persönliche Note, die für ein dokumentarisches Format wohl etwas ungewöhnlich ist. Diese rührt jedoch daher, dass Herrarna satte oss hit Labbas Bedürfnis entsprang, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen,  da ihre Familienbande durch die Zwangsumsiedlungen durchtrennt wurden. Das Buch beschränkt sich aber keineswegs auf eine reine Aufarbeitung der Familiengeschichte, sondern möchte auf ein vernachlässigtes Kapitel der skandinavischen Geschichte aufmerksam machen. Zugleich setzt Labba die Zwangsumsiedlungen in einen globalen Kontext, indem sie darauf hinweist, dass diese Art der Vertreibung ein gängiges Muster in der Unterdrückung indigener Völker ist und dennoch zu selten thematisiert wird:

„Sverige följer i det här ett mönster som gäller för urfolk världen över. I Australien tvångsomhändertas aboriginers barn, på Kallallit Nunaat har man tvångsinternerat inuiter. I USA kallas stigarna som Cherokee och andra nationer har tvingats vandra för The Trail of Tears. Urfolks ärvda sår finns nästan aldrig i historieböckerna. Även i Sverige är den samiska historien samisk, den räknas inte som svensk. På norsk sida av Sápmi handlar det här om ’svensksamerna’. Där räknas det inte heller till något som rör dem.” (S. 181) 

„Schweden folgt hier einem Muster, das indigene Völker auf der ganzen Welt betrifft. In Australien wurden die Kinder der Aborigines in Gewahrsam genommen, auf Kallallit Nunaat [Grönland] wurden Inuit zwangsinterniert. In den USA werden die Pfade, die man Cherokee und andere Nationen zu gehen zwang, The Trail of Tears genannt. Die vererbten Wunden indigener Völker finden in Geschichtsbüchern fast nie Erwähnung. Auch in Schweden gilt die samische Geschichte als samisch und nicht als schwedisch. Auf der norwegischen Seite von Sápmi wird von ‚Schwedensam*innen‘ gesprochen. Dort wird es auch nicht als etwas wahrgenommen, was Norwegen betrifft.“ (alle Übersetzungen von HN)

Die Zwangsumsiedlungen begannen 1919 in Schweden; die Gründe dafür liegen jedoch um einiges weiter zurück. Ausschlaggebend waren die entstehenden Grenzen zwischen den skandinavischen Ländern und Finnland: Während sie in den vergangenen Jahrhunderten auf der Landkarte nur grob skizziert waren, wurden sie im Laufe des 18. Jahrhunderts immer präziser festgelegt. Auch der Zeitgeist der Nationalromantik verschlechterte die Situation für Minderheiten, denn in Norwegens „imagined community“ (Benedict Anderson) war kein Platz mehr für die Sámi. Der norwegische Staat beschloss, das Land im Norden, das viele nomadische Sámi seit langer Zeit als Rentierweide gebrauchten, nun nur für die ‚eigenen‘ Leute landwirtschaftlich verfügbar zu machen. Schweden und Norwegen einigen sich 1919 in der Renbeteskonvention (dt.: Rentierweidenübereinkommen), die Anzahl der Rentiere an vielen Orten zu beschränken, deren saisonale Routen zu unterbinden und Rentierhaltung an den Küsten sowie auf Inseln und Halbinseln überhaupt zu untersagen. Viele Sámi, die zuvor dort gelebt hatten, sollten an südlichere Orte umgesiedelt werden. Die zuständige staatliche Behörde in Schweden war das Lappväsendet, der die Lappvogte unterstanden, die die Umsiedlungen organisierten. Als Kontrollorgan fungierte dabei auch die Kirche, da die Pfarrer die Namen der Umzusiedelnden an ihre Kollegen im Süden weiterleiteten und so kontrollieren konnten, wer umgesiedelt worden war. Eine Alternative zu den Umsiedlungen gab es im Übrigen kaum – wer sich weigerte, hatte mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. musste einen großen Teil der eigenen Rentiere schlachten – beides hätte den finanziellen Ruin für die meisten bedeutet. 

Das Rentierweidenübereinkommen blieb für viele Betroffene undurchsichtig – es wurde ins Schwedische, Norwegische und Finnische übersetzt, jedoch nie in die samischen Sprachen. Hinzu kam, dass wenige Sámi lesen oder schreiben konnten. Dies gereichte den Behörden mitunter zum Vorteil: Während der ersten Jahre brauchte es noch eine zustimmende Unterschrift der Umzusiedelnden, doch da viele Analphabet*innen waren, verstanden viele nicht, was sie unterschrieben. Die Behörden hatten schließlich auch kein Interesse daran, transparent zu kommunizieren – so erfuhren viele Umgesiedelte erst bei der Ankunft an ihrem zugewiesenen Wohnort, dass die Umsiedlungen permanent waren. Nicht nur das Verschweigen von Informationen, sogar das Vorgaukeln falscher Tatsachen war dabei nicht ungewöhnlich: Vielen Sámi wurde weites, ungenutztes Weideland für ihre Rentiere versprochen, dabei wurde das Land im Süden bereits von anderen Sámi und deren Rentieren genutzt; durch die Zwangsumgesiedelten wurde der Platz also knapp, was wiederum zu Spannungen zwischen den Sámi führte. Labba stieß in ihrer Recherche sogar auf gefälschte Dokumente. So soll sich jemand für finanzielle Unterstützung zur Umsiedlung bei den Behörden bedankt haben, bloß erklärt die erwähnte Person Labba im Interview, dass er nie einen Geldbetrag erhalten und dementsprechend auch nie ein Dankesschreiben eingereicht hätte. 

Verteidigt wurden die Umsiedlungen mit der Begründung, dass die Betroffenen ja Nomad*innen seien und somit ohnehin über keinen festen Wohnsitz verfügten. Dass die nomadischen Sámi nicht an willkürlichen Stellen Halt machten, sondern zwischen den altbekannten jahreszeitabhängigen Weideplätzen der Rentiere wanderten, kümmerte die Behörden nicht. 

Die Zwangsumsiedlungen waren nur ein Teil der vielen diskriminierenden Maßnahmen gegen die Sámi: Treibende Kraft hinter diesen waren im 19. und 20. Jahrhundert vor allem die rassistischen Ideen des Sozialdarwinismus, laut denen die Sámi weniger „entwickelt“ wären als die übrigen Menschen in Skandinavien – die letzten Reste einer primitiven Kultur, die bald vom Fortschritt hinweggerafft werden würde. An vielen der (zwangsumgesiedelten) Sámi wurden Untersuchungen nach damals akzeptierten wissenschaftlichen Maßstäben durchgeführt, um diese Hierarchisierung zu legitimieren: Schädel- und Körpervermessungen, Fotografien, für die sich die Sámi nackt ausziehen mussten – Methoden, die aus heutiger Sicht nur als Pseudowissenschaft bezeichnet werden können. Die Kataloge des Staatlichen Instituts für Rassenbiologie in Schweden sind nur einige der vielen Quellen, die Labba in ihrer Recherche für Herrarna herangezogen hat. Das Institut war lange unter der Führung von Herman Lundborg, dessen Leben und rassistische Einstellungen Maja Hagerman in Käraste Herman dokumentiert hat, welches 2015 für den Augustpreis nominiert war. 

Labbas Buch erzählt keine fortlaufende Geschichte, Berichte der historischen Begebenheiten wechseln sich mit Labbas Reflexionen über die eigene Familienvergangenheit ab. Fotografien wurden ebenso einbezogen wie Interviewausschnitte, Faksimiles von Gesetzestexten der schwedischen und norwegischen Behörden, Zeitungsartikel, Briefe, Landschaftsfotografien und -zeichnungen sowie Texte des Joik, des traditionellen samischen Gesangs. Die Präsentation der multimedialen Quellen macht das Buch auch zu einem überzeugenden ästhetischen Objekt. Der fragmentierte Aufbau des Buches mag gleichzeitig auch versuchen, der durch die Zwangsumsiedlungen ausgelöste Zersplitterung Ausdruck zu verleihen. 

Den größten Teil des Buches nehmen Abschnitte ein, die auf jeweils eine Person und deren Familie fokussieren und die Erlebnisse der bággojohtin, wie die Umsiedlungen auf Nordsamisch auch genannt werden, mit einer erzählerischen Dynamik wiedergeben. Durch die durchgehende Fokalisierung einer Figur schildert Labba die Zwangsumsiedlungen und gibt Einblick in die Gedanken der Betroffenen. Zwar kann das Gefühlsleben der Betroffenen nur rekonstruiert werden, aber die Innensicht wird nicht fiktiven Figuren überantwortet, sondern verweist auf dokumentarisch verbürgte Biographien: Im Zuge ihrer Recherchen, auf denen diese Schilderungen beruhen, hat die Autorin Interviews mit nahezu hundert 100 Zeitzeug*innen und deren Nachkommen geführt. Anstatt die Diversität der Schicksale einer vereinfachten und homogenisierenden Darstellung durch eine Reduktion auf Eckdaten zu opfern, wird die Vielfältigkeit der Erfahrungen durch diesen ‚Zoom‘ auf Individuen und deren unmittelbare Bezugspersonen verdeutlicht. 

”Vad finns kvar för dem om de stannar? Om de stannar, tvingas de nog ändå iväg senare. Första gången herrarna ville ha iväg dem var Jouná inte ens född. Han känner ingen som har klarat sig bra de sista åren. De har själva förlorat en tredjedel av renarna på bara några år. Sedan gränserna stängdes har det blivit mer och mer outhärdligt.” (S. 39)

„Was bleibt ihnen, wenn sie bleiben? Wenn sie hierbleiben, werden sie ja doch später gezwungen werden umzusiedeln. Beim ersten Mal, als die Herren sie loswerden wollten, war Jouná noch nicht einmal geboren. Er kennt niemanden, der oder die in den letzten Jahren gut zurechtgekommen ist. Sie selbst [Jouná und seine Familie] haben ein Drittel ihrer Rentiere in nur wenigen Jahren verloren. Seitdem die Grenzen geschlossen wurden, ist alles immer unerträglicher geworden.“ 

Auch die Fotografien (die jeweils mit den Namen der Abgebildeten versehen wurden) verstärken die persönliche Ebene. Insgesamt wird so eine Intimität zwischen Lesenden und Beschriebenem geschaffen. Dadurch kann bei der Lektüre der Monografie der Eindruck entstehen, es werde durch ein Familienalbum geblättert. Dies mag mitunter sogar ein intertextueller (bzw. intermedialer) Verweis auf einen der berühmtesten samischen Autor*innen sein: Nils-Aslak Valkeapää (Áillohaš) inkludierte in seinem Gedichtband Beaiviáhčážan (dt. Die Sonne, mein Vater) ebenso verschiedene Fotografien, um eine große, samische Familie und deren Verbundenheit darzustellen (Vuokko Hirvonen: „Saamische Literatur“. In: Jürg Glauser (Hg.) Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler, 20162, S. 499).

Darüber hinaus trägt Herrarna, dazu bei, den kargen Forschungsstand zu den Zwangsumsiedlungen zu erweitern: Obwohl das Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten gegenüber den Sámi langsam wächst, gibt es bisher nur wenige Publikationen, die sich dezidiert mit den bággojohtin auseinandersetzen. (Darunter ist eine dreiteilige Doku-Reihe von SVT mit dem Titel Bággojohtin, in der Elin Anna Labba selbst auftritt und über ihre Forschungsarbeit erzählt). Darüber hinaus versucht das Buch auch, das Schweigen in der samischen Community zu brechen und einen Austausch zu ermöglichen, den das Trauma der Zwangsumsiedlungen lange unmöglich gemacht hat. In einem Interview erzählt die Enkelin einer Zwangsumgesiedelten über ihre Großmutter: 

„Hon ville tillbaka till Norge”.
”Berättade hon något om tvångsförflyttningarna?”
”Nej, det kom aldrig på tal. Hon nämnde det aldrig. Det var som att det var förträngt.” (S. 28)

„Sie wollte zurück nach Norwegen.“
„Hat sie von den Zwangsumsiedlungen erzählt?“
„Nein, das kam nie zur Sprache. Das hat sie nie erwähnt. Es war, als hätte sie es verdrängt.“ 

Elin Anna Labba: Herrarna satte oss hit. Om tvångsförflyttningarna i Sverige. Stockholm: Norstedts, 2020. 

(Hannah Nüchtern)

In Sápmi, Schweden veröffentlicht | Getaggt , , , | Kommentare geschlossen