Sich im 18. November einrichten: Raumerkundung der Einsamkeit

Solvej Balle gilt als eine der dänischen Vorzeigeautorinnen des Minimalismus bzw. der experimentierenden Literatur der frühen Neunziger Jahre, in denen sie sich mit ihrer verdichteten (Kurz-)Prosa – nach ihrem Debut Lyrefugl (1986, Der Leiervogel) vor allem mit dem Erzählband Ifølge loven. Fire beretninger om mennesket (1993, Nach dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen) – einen Namen gemacht hatte. Neben schmalen Bändchen mit lakonischen Titeln wie & (1990), Eller (1998, Oder), Hvis und (beide 2013, Wenn und Dann), die eher zwischen Kurzprosa und Lyrik einzuordnen sind, und nach zwei essayistischen Bänden hat Balle nach längerem Schweigen mit dem großen (Ent-)Wurf eines siebenbändigen Romans neue Aufmerksamkeit erlangt. Seit 2020 erscheinen nun jährlich ein-zwei Bände der Septologie, die den widerspenstigen Titel Om udregning af rumfang (Über die Berechnung des Rauminhalts) trägt und an der sie laut eigener Aussage seit 1987, also seit über dreißig Jahren, gearbeitet hat.1 Diese Arbeitsweise ist bezeichnend für Balles sozusagen destillierte Prosa, die auf durchdachter Komposition, umfassenden Recherchen und sprachlicher Präzision beruht und bei der jedes Wort sitzt. Als sprachlich so schlicht wie elegant und sinnlich-präzise, als „tindrende smuk” (funkelnd schön), und „sansebåren […] kombineret med en æstetisk kræsenhed” (sinngetragen […] kombiniert mit einer ästhetischen Ausgesuchtheit) wurde ihre Schreibweise denn auch in der dänischen Kritik gepriesen: „At læse hende føles som at lade åens vand eller strandens sand glide mellem fingrene, det er som at blive kærtegnet af sproget selv” (Sie zu lesen fühlt sich an, wie wenn man das Wasser des Flusses oder am Strand den Sand durch die Finger gleiten lässt, es ist, als würde man von der Sprache selbst liebkost. –Information, 31. Januar 2020).

Zeit-Loop als existentieller Erkundungsraum

Ein Jahrzehnte währendes Schreibprojekt birgt die Gefahr, dass die einst originelle Grundidee unterdessen anderweitig bearbeitet worden ist. Balles Erzählung von Tara Selter, die im Ewigkeits-Loop eines einzigen sich stetig wiederholenden Tages – dem 18. November – gefangen ist, wurde deshalb in der Kritik wiederholt zu Harold Ramis’ Filmkomödie Groundhog Day (1993, Und täglich grüßt das Murmeltier) in Beziehung gesetzt, obwohl es bis auf die Ausgangssituation eines in einer Zeitschleife gefangenen Individuums kaum Gemeinsamkeiten gibt. Vor allem die Grundstimmung, die in Balles Roman eher melancholisch und von existentieller Einsamkeit geprägt ist, dürfte einen Hauptunterschied zum komödiantischen Klamauk des amerikanischen Kinoerfolgs ausmachen. Aber auch die Kombination von aufmerksamer sinnlicher Wahrnehmung und gedanklichem Tiefgang, mit der Balles auf sich selbst zurückgeworfene Protagonistin Tara ihre Welt und ihre Möglichkeiten auslotet, lässt den Plot im Unterschied zum Film zu einem grundlegenden Erkundungsraum menschlicher Bedingungen werden.

Tara Selter, die mit ihrem Lebensgefährten Thomas das Antiquariatsunternehmen T&T Selter unterhält und sich dabei auf illustrierte Prachtbände aus dem 18. Jahrhundert spezialisiert hat, befindet sich gerade auf einer Auktionsreise in Bordeaux, als sie ‚aus der Zeit fällt‘ und den 18. November ständig erneut erleben muss, als eine Wiederholung bis ins kleinste Detail. Doch die Gefangenschaft im sich wiederholenden Tag bedeutet weder Gefangenschaft in einem einzigen Handlungsmuster noch ewigen Stillstand – im Gegenteil, auf rätselhafte Weise gehen Wachstums-, Alterungs- und Wundheilungsprozesse für Tara ganz normal weiter, und auch einige erworbene Gegenstände lassen sich in den nächsten 18. November ‚hinüberretten‘. Der gesamte erste Band stellt Taras Bemühen dar, sich mit und in der stehengebliebenen Zeit, diesem sich ewig wiederholenden 18. November, zu arrangieren und Lösungen zu finden, um der Temporalenklave zu entkommen. In Tagebuchaufzeichnungen, aus denen das Buch besteht und die die unterschiedlichen Phasen ihrer Krisenbewältigung zum Ausdruck bringen, zählt Tara nicht nur die vielen 18. November-Tage, sondern dokumentiert auch dieses Sich-Arrangieren in der ungewohnten Zeitstruktur und immer wieder neue Versuche der Adjustierung durch achtsames Tasten und Ausloten, Wiederholen und Abwandeln:

Jeg har ikke fundet en vej ud af den attende november, men jeg har fundet veje og stier gennem dagen, små passager og tunneller, jeg kan færdes i. Jeg kan ikke slippe ud, men jeg kan finde ind. (I, S. 91)

Ich habe keinen Weg aus dem achtzehnten November hinausgefunden, aber ich habe Wege und Pfade durch den Tag gefunden, kleine Passagen und Tunnel, durch die ich mich bewegen kann. Ich kann nicht herauskommen, aber ich kann hineinfinden.

Zunehmende Entfernung

Dass Tanjas temporales Missgeschick eingreifende Folgen für ihre Beziehung zu Thomas hat, wird bereits auf den ersten Seiten deutlich, die mit # 121, d.h. dem 121. achtzehnten November und damit bereits in einem Gewöhnungszustand beginnen – „Jeg har vænnet mig til tanken“ (I, S. 7; Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt) –, der allerdings auch ihre Isolation verdeutlicht. Ihr aus der Zeit gefallener und dadurch seltsam parasitärer Zustand, der ihr eine unbemerkte und unsichtbare Existenz im eigenen Haus abfordert, minutiös abgestimmt auf das voraussagbare Tagesablaufsmuster des ahnungslosen Ehemannes, ist das resignierte Resultat vorausgehender Versuche, den Partner in ihr Zeitdilemma mit einzubeziehen. Gemeinsam hatten sie eine Zeitlang diesen einzigen Tag, den 18. November, genutzt, um wieder in eine gemeinsame Zeit zu finden und Gründe, Muster und Mechanismen des ‚Zeitdefekts‘ zu erforschen – durch ein geradezu musikalisches Projekt, das als Thema mit Variationen beschrieben wird, als eine dynamische Choreographie voller Rhythmus und Tanz – und damit als eine Art ‚Raumerkundung‘ der Zeit:

Vi fandt ind i en rytme. […] Vores undersøgelse var i konstant forandring, nærmest som en slags dans, der førte os rundt i rummet, en uskyldig og lidt kejtet videnspolka, en forundringsvals, en munter opdagelsesballet, en forpustet stepdans mellem fakta og observationer, en undersøgelsestango med to dansende, der afsøgte rummet uden at søge en udgang eller et sted at holde hvil. (I, S. 59)

Wir fanden in einen Rhythmus. […] Unsere Untersuchung war in konstanter Veränderung, beinahe wie eine Art Tanz, der uns durch den Raum führte, eine unschuldige und etwas unbeholfene Wissenspolka, ein Verwunderungswalzer, ein munteres Entdeckungsballett, ein atemloser Stepptanz zwischen Fakten und Beobachtungen, ein Untersuchungstango mit zwei Tanzenden, die den Raum absuchten, ohne einen Ausgang oder einen Ruheort zu suchen.

Doch da der 18. November für Thomas jedesmal „en nyåbnet og næsten ubrugt dag“ (I, S. 30; ein neu geöffneter und beinahe unverbrauchter Tag) ist, mit dem auch die Erinnerung an Taras vorausgehende 18. Novembertage ausgelöscht ist, und sie ihm jedes Mal von Neuem ihre Situation und die bisherigen (Miss-)Erfolge schildern muss, sieht sie allmählich ein, dass sich der Abstand zwischen ihren Erlebnis-/Erlebenshorizonten, zwischen seinem einzigen und ihren zahlreichen 18. November-Tagen, stetig vergrößert, bis sie die Ausweglosigkeit des „undersøgelsestango“ (Untersuchungstangos) und die Einsicht in ihre selbsttrügerische „optræning i uskarphed“ (I, S. 57; Einübung in Unschärfe) zum Alleingang zwingt.

Versuche der Wieder-Holung

Die tägliche Wiederholung – von Wetterverhältnissen, Geräuschen, alltäglichen Abläufen, Zeitpunkten und Begebenheiten – mündet in Taras systematischen Versuch der Wieder-Holung des stehengebliebenen Zeitpunkts: Taras Ziel ist es, am 365. Tag wieder ‚einzusteigen‘ in einen normalen Zeitablauf, der den 18. November in die gewohnte Kette einmalig ablaufender Tage einreihen soll. Dazu zählt sie zum einen die Tage, um zum besagten Zeitpunkt ihre Bordeaux-Reise zu wiederholen, und versucht zum anderen, gewissermaßen ‚unter‘ ihrem ständigen 18. November das ablaufende Jahr zu erspüren und sich der Illusion hinzugeben, ihre wiederholte Zeit sei nur eine Folie, durch deren ‚Ritzen‘ und Lücken es möglich sein könnte, die verlorene ‚gewöhnliche‘ Zeit zu erahnen:

Jeg mærker det mest om morgenen. Somme tider føles det, som om jeg vågner til en helt anden dag. Jeg tænker september. Det er lyset fra vinduet eller et vindpust, når jeg åbner min dør. En lun vind, der er forsvundet igen få sekunder efter. Korte glimt, der dukker op og forsvinder, som om der er sprækker i min dag, som om der løber en anden tid under mine dage, et almindeligt år, der siver op nedefra. Jeg leder efter sprækkerne, jeg går ud i byen og finder september, jeg vejrer som en hund. Det varer et øjeblik, så er det borte igen. (I, S. 130-131)

Ich merke es am meisten morgens. Manchmal fühlt es sich an, als erwachte ich zu einem ganz anderen Tag. Ich denke September. Es ist das Licht vom Fenster oder ein Windhauch, wenn ich meine Tür öffne. Ein lauer Wind, der nur wenige Sekunden später wieder verschwunden ist. Kurze Blitze, die auftauchen und verschwinden, als gebe es Ritzen in meinem Tag, als liefe eine andere Zeit unter meinen Tagen, ein gewöhnliches Jahr, das von unten heraufsickert. Ich suche nach den Ritzen, ich gehe in die Stadt und finde September, ich wittere wie ein Hund. Es dauert einen Augenblick, dann ist es wieder fort.

Ob das Experiment des Wiedereinstiegs in die ‚gewöhnliche‘ lineare Zeit glückt, ließ der erste Band noch mit einem winzigen Hoffnungsschimmer offen; – der zweite Band (der mit Tag # 368 beginnt) stellt aber die Vergeblichkeit des Unternehmens gleich zu Beginn klar und öffnet damit einem neuen Projekt Raum – nach einer Art Re-Adjustierung oder Rekalibrierung, die auch als ‚Umbau‘ beschrieben wird. Nachdem der erste ‚Jahreszirkel‘ voller 18. November-Tage weder einen Wiedereinstieg in die Zeit noch eine Rückkehr in ihr Zusammenleben mit Thomas ermöglicht hatte und sie einsehen muss „at jeg har mistet min retning“ (II, S. 14; dass ich meine Richtung verloren habe), versucht Tara nun, ihre 18. November-Tage mit „årstidens ingredienser“ (II, S. 82; Ingredienzen der Jahreszeiten) zu versehen und sich eigenhändig einen Jahresablauf zu konstruieren, indem sie an verschiedene Orte Europas reist, die ihrem Tag ein leichtes Flair von Herbst, Winter oder Frühjahr vermitteln können. So überredet sie etwa ihre Familie, mit ihr Weihnachten zu feiern, und verbringt Abschnitte in Schweden und Norwegen, um Wintertage zu erleben, sucht an verschiedenen Orten Frankreichs Frühjahrs- und Sommeratmosphäre und landet schließlich in einem milden, wetterneutralen „dag uden årstider“ (II, S.138; Tag ohne Jahreszeiten) in Düsseldorf, wo sie sich wohnhaft niederlässt. Dort wird aber auch ihre Tasche mit allen Aufzeichnungen der Jahreszeitenreise, die sie für künftigen Gebrauch mit Orten und Hoteladressen dokumentiert hatte, gestohlen, wodurch sich das Projekt der konstruierten Jahreszeiten als fragwürdig und hinfällig erweist.

Monströse Daseinsform

Jeg er et fremmedlegeme, en fejl. […] Jeg er faldet ud af dagen […] Jeg er et underligt væsen, der ikke burde færdes blandt mennesker med retning. (II, S. 18)

Ich bin ein Fremdkörper, ein Fehler. […] Ich bin aus dem Tag herausgefallen […] Ich bin ein wunderliches Wesen, das nicht unter Menschen mit Richtung verkehren sollte.

So lässt sich Taras Situation beschreiben nach wirkungslosem Zählen der Tage, vergeblicher Einübung in vorhersagbare Tagesmuster, erfolgloser Dokumentation und Konstruktion von Jahresabläufen. Und doch hat es zuweilen den Anschein, als seien all die anderen, die „mennesker med retning“ (Menschen mit Richtung), in der Zeit und der Erinnerungslosigkeit gefangen, also ohne Erinnerung an den ‚gestrigen‘ 18. November, immer in unnahbarer Stagnation, die Tara das eigene Dasein als umso monströser erscheinen lässt. Die Erkenntnis der eigenen parasitären Existenz drängt sich auf angesichts der zunehmend leerer werdenden Supermarktregale und beim Verzehr des Gartengemüses: Der Lauch, den sie aus dem Garten holt, bleibt auch am nächsten 18. November verschwunden, während sich die Lücken, die andere hinterlassen, schließen, die Spuren anderer nach einem Tag ausgelöscht sind:

Uden mig vender Thomas’ dag tilbage, verden bliver repareret, porren er tilbage i rækken, og jeg er sikker på, at det er det samme med løgene. […] Jeg ved, at hvis jeg henter løg til mig selv i skuret, vil de forsvinde. Jeg ved det, for jeg har set, hvem vi er: Thomas er et spøgelse, og jeg er et monster. Det er sådan, der er. Det er tiden, der har gjort det. Uden mig er Thomas et spøgelse, men jeg er et monster, et uhyre, et skadedyr. […] Thomas sætter ingen spor i verden, jeg æder den op. Han er et mønster i huset, jeg er et monster i værelset. (I, S. 105)

Ohne mich kehrt Thomas’ Tag zurück, die Welt wird repariert, der Lauch ist zurück in der Reihe, und ich bin sicher, dass es sich mit den Zwiebeln genauso verhält. […] Ich weiß, dass, wenn ich für mich Zwiebeln aus dem Schuppen hole, sie verschwinden werden. Ich weiß das, weil ich gesehen habe, wer wir sind: Thomas ist ein Gespenst, und ich bin ein Monster. So ist es. Die Zeit hat das gemacht. Ohne mich ist Thomas ein Gespenst, doch ich bin ein Monster, ein Ungeheuer, ein Schädling. […] Thomas setzt keine Spuren in die Welt, ich esse sie auf. Er ist ein Muster im Haus, ich bin ein Monster im Zimmer.

Im Resonanzkörper des Zeitbehälters

Die Begrenztheit der Ressourcen, der Tara mit sparsamer Genügsamkeit, weitläufiger Verteilung der Nahrungsquellen und der Suche nach überflüssiger Verfallsware zu begegnen versucht, ist nur eine von vielen Beobachtungen dieser eigentümlichen Temporal-Isolation, die Tara als einen Zeitbehälter beschreibt, als ein Gefäß, aus dem sie nicht mehr herauskommt, das sie aber mit Gegenständen teilt. So wird ein römischer Sesterz, der mit ihr aus der linearen Kalenderzeit des ersten 18. Novembers in den ewig-wiederholten 18. November ‚gefallen‘ ist, plötzlich zum Bedeutungsträger, zum Sinnbild für „et standset øjeblik“ (II, S. 157; einen stehengebliebenen Augenblick) und zum Auslöser für ihr nächstes Projekt – ein intensives Studium des Römischen Reiches, das ihr eine Art Strukturmuster für ihre eigene Situation liefert:

[…] romerne var standset. En lang rejse, og så kom de ikke videre. De var nået til grænsen, de bevægede sig lidt frem og så tilbage, og så var de standset og byggede en mur, og riget var holdt op med at vokse. En vaklen på stedet. Stop. Fæstnet. Pling. / Og der sad jeg, i den attende november, og kunne ikke komme videre. Pling. Standset. Samme historie. […] Mønten. Romerriget. Tara. Stop. Fæstnet. Pling. Vi var af samme slags. (II, S. 157)

[…] die Römer waren stehengeblieben. Eine lange Reise, und dann kamen sie nicht weiter. Sie waren bis an die Grenze gelangt, sie bewegten sich etwas vor und dann zurück, und dann waren sie stehengeblieben und bauten eine Mauer, und das Reich hatte zu wachsen aufgehört. Ein Schwanken auf der Stelle. Stopp. Hängengeblieben. Pling. / Und da saß ich, im achtzehnten November, und konnte nicht weiterkommen. Pling. Hängengeblieben. Gleiche Geschichte. […] Die Münze. Das Römische Reich. Tara. Stopp. Hängengeblieben. Pling. Wir waren von derselben Art.

Spätestens an dieser Stelle hat auch der Titel des Buches vollkommen überzeugt. Die Erkundung der Lebensmöglichkeiten in einer Zeitschleife der Wiederholung wird in verschiedenen Varianten zur „Berechnung des Rauminhalts“: „[…] min tid er ikke en cirkel, og den er ikke en linje […]. Den er et rum, et værelse, en pool, et kar, et bassin, en beholder.“ (II, S. 143; meine Zeit ist kein Zirkel, und sie ist keine Linie […]. Sie ist ein Raum, ein Zimmer, ein Pool, eine Wanne, ein Becken, ein Behälter.) Die Volumenberechnung dieses Restbehälters für aus der Geschichte herausgefallene Gegenstände – „Det var ikke tingenes historie, det var alt det, der var faldet ud af historien, der tiltrak mig“ (II, S. 155; Nicht die Geschichte der Dinge zog mich an, sondern all das, was aus der Geschichte herausgefallen war) – gestaltet sich als Raumchoreographie, als „Untersuchungstango“, als Einpassung in Ablaufmuster, als Jahreszeitenreise und als Austarieren des verbleibenden Platzes. Taras Schreibprojekt dient dabei nicht nur der existentiellen Selbstverortung, sondern auch der poetologischen Nachzeichnung von Mustern, einem rhythmischen Nachspüren alltäglicher Abläufe, die aus dem befremdlichen Resonanzkörper des ‚Zeitgefäßes‘ heraus einen ganz neuen Klang bekommen.

Jeg går langs en afgrund, jeg tæller dage og skriver ned. Jeg gør det for at huske. Eller jeg gør det for at holde sammen på dagene. Eller jeg gør det måske, fordi papiret husker, hvad jeg siger. Som om jeg er til. Som om der er nogen, der lytter. (II, S. 19)

Ich gehe an einem Abgrund entlang, ich zähle Tage und schreibe auf. Ich tue das, um mich zu erinnern. Oder ich tue es, um die Tage zusammenzuhalten. Oder ich tue es vielleicht, weil das Papier erinnert, was ich sage. Als ob ich da wäre. Als ob es jemanden gäbe, der zuhört.

Solvej Balle: Om udregning af rumfang, Bd. I und II, Marstal: Pelagraf, 2020.

(Hanna Eglinger, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU))


1 Politiken, 13.8.2016.

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Ein Kindheitssommer auf den Färöern

Die färöische Literatur zählt – zusammen mit der grönländischen und der samischen – zu den kleineren indigenen Literaturen Nordeuropas. Wie die beiden anderen ist auch die färöische Literatur mehrsprachig, weist sie doch Werke auf Färöisch wie Dänisch auf, da die Inselgruppe der Färöer seit dem Mittelalter zum zunächst norwegischen, dann dänischen Reich gehörte und bis auf den heutigen Tag Teil der sog. dänischen Reichsgemeinschaft (rigsfælleskab) ist. Im Zuge einer kulturellen Dekolonisierung ist die originär dänischsprachige Literatur der Färöer, international bekannt geworden durch Autoren wie Jørgen-Frantz Jacobsen (1900–1938) oder William Heinesen (1900–1991), mittlerweile allerdings zu einem rein historischen Phänomen geworden. Auch Katrin Ottarsdóttirs (geb. 1957) Roman Pigen i verden (Das Mädchen in der Welt) ist kein originär dänischsprachiges Werk, sondern erschien zunächst 2020 auf Färöisch unter dem Titel Gentan í verðini, wurde aber von der Autorin selbst ins Dänische übertragen und dabei zugleich überarbeitet. Bei der dänischsprachigen Version haben wir es insofern mit einem zweiten Original zu tun.

Die meisten Leser:innen werden mit dem Namen Katrin Ottarsdóttir weniger eine Autorin als eine, wenn nicht gar die färöische Filmemacherin verbinden. Ausgebildet in der Filmschule in Kopenhagen, die sie 1982 als erste färöische Absolvent:in jemals verließ, hat sie 1989 mit Atlantic Rhapsody den ersten färöischproduzierten Film überhaupt gedreht. 1999 konnte sie einen großen internationalen Erfolg mit dem Film Bye bye Bluebird feiern, der u.a. mit dem Hauptpreis der Nordischen Filmtage in Lübeck ausgezeichnet wurde. In diesem färöischen road movie – eigentlich eine genremäßige Unmöglichkeit angesichts von unter 1000 Kilometern asphaltierten Wegen auf den Färöern – wird ein eindrückliches Panorama der färöischen Gesellschaft gezeichnet, mit einer dysfunktionalen Familie, bigotter protestantischer Orthodoxie, moralischer Engstirnigkeit, tumbem Maskulinismus und latenten postkolonialen Konflikten. Programmatisch geht es Ottarsdóttir nicht darum, die Färöer als atlantisch-prämoderne Idylle zu zelebrieren, sondern sie in die gleiche Moderne wie Dänemark einzuschreiben: 

Jeg har også villet gøre op med det her romantiske billede af Færøerne, som det uspolerede land, hvor udviklingen har stået stille, og hvor alle lever i harmoni med hinanden og naturen. I stedet har jeg villet vise et moderne land, og at færinger er som alle andre – på godt og ondt.1

Ich wollte auch mit diesem romantischen Bild von den Färöern abrechnen, als das unverdorbene Land, wo die Entwicklung stehengeblieben ist und wo alle in Harmonie miteinander und mit der Natur leben. Stattdessen wollte ich ein modernes Land zeigen und dass die Färinger wie alle anderen sind – im Guten wie im Schlechten.

Neben ihrem Schaffen als Filmemacherin hat Katrin Ottarsdóttir seit einigen Jahren auch Belletristik veröffentlicht, und dies mit beträchtlichem Erfolg. Sie debütierte 2012 mit der Gedichtsammlung Eru koparrør í himmiríki (Gibt es Kupferrohre im Himmelreich?), die 2013 mit dem Färöischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde und 2016 in Ottarsdóttirs eigener dänischer sowie 2020 in englischer Übersetzung in den USA erschien. Es folgten zwei Sammlungen mit kürzeren Prosatexten, die ebenfalls auch in der dänischen Übertragung der Autorin vorliegen, und zuletzt Ottarsdóttirs erster Roman Gentan í verðini (2020) bzw. Pigen i verden (2021).

Die Hauptperson des Romans ist eine namenlose Elfjährige aus der färöischen Hauptstadt Tórshavn, die Ende der 1960er Jahre ihre Sommerferien im Haushalt der Großeltern auf einer der kleineren färöischen Inseln verbringt. Der Roman ist programmatisch arm an äußeren Ereignissen: Ein Beinah-Badeunfall ihrer Tante mütterlicherseits, oder ein aufdringlicher Anbeter derselben Tante, der mit seiner Leiter umgestoßen wird und auf einem Widder landet – solcher Art sind die wenig spektakulären äußeren Vorkommnisse während dieses Sommers. Der Fokus der kammerspielartigen Handlung liegt stattdessen ganz auf den Beziehungen im familiären Mikrokosmos: auf Vater und Mutter des Mädchens in Tórshavn und auf dem Haushalt der Großeltern, zu dem noch die jüngere Schwester der Mutter sowie eine ‚Tante‘ unbestimmbaren Verwandtschaftsgrades gehört. Keine dieser Figuren wird signifikanterweise je mit einem Eigennamen genannt, einzig ihre Position in der Familie ist von Relevanz.

Schnell wird den Lesenden klar, dass das stille, schüchterne Mädchen weniger Ferien von der Schule und eher Ferien von „all dem Mühsamen zuhause“ („alt det besværlige derhjemme“, S. 10) machen will. Im Kindheitsrefugium bei ihren Großeltern und den beiden Tanten vermag sie Geborgenheit erfahren. Zuhause hingegen fühlt sie sich, obgleich Kind, beständig für den labilen Hausfrieden verantwortlich, versucht immer wieder die Launen, Zusammenbrüche, Selbstmorddrohungen und Alkoholabstürze ihrer mit dem Dasein zutiefst unzufriedenen und streitsüchtigen Mutter abzufedern, die sie sich in schuldbeladenen Augenblicken tot wünscht. Wer Ottarsdóttirs Debütwerk Eru koparrør í himmiríki gelesen hat, wird unschwer eine thematische Parallele zu dieser Gedichtsammlung erkennen, in der eine Dreiecksbeziehung zwischen Vater, Tochter und einer mental instabilen Mutter im Zentrum steht. 2

Längst hat das Mädchen sein Helfersyndrom so verinnerlicht, dass es auch im Haushalt der Großeltern die Aufrechterhaltung guter Laune als seine ureigene Aufgabe ansieht. Das stellt sich allerdings als vergebliches Bemühen heraus, ist doch auch der Haushalt der Großeltern kein idyllischer Raum zwischenmenschlicher Beziehungen: Der Großvater und die Großmutter hatten einst nur geheiratet, weil die Großmutter schwanger geworden war und der Großvater sein Lehrerstudium als Vater eines ‚Hurenbalgs‘ nicht hätte abschließen dürfen. Während die vereinsamte Großmutter sich Briefe mit englischen Offizieren schreibt, die sie während des Krieges kennengelernt hatte, haben sich der Großvater und die im Haushalt lebende ‚Tante‘ ineinander verliebt. Eine Scheidung ist für den als Dorflehrer und Küster tätigen Großvater jedoch ausgeschlossen, so dass die nicht mehr ganz junge ‚Tante‘ schließlich geht, um einen anderen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Die Tante mütterlicherseits träumt derweil von einem eleganten Leben in Reichtum in Tórshavn, lässt zu unklaren Bedingungen ihren Onkel ihre Shoppingtouren in Tórshavn bezahlen, um die Kleider dann unausgepackt in ihrem Zimmer zu horten, und hat immer mehrere Männer gleichzeitig an der Hand, um sich nicht festlegen zu müssen. Gegen Ende des Sommers wirft der hitzköpfige Großvater sie eines Tages hinaus.

Erzählt werden die Geschehnisse dieses Sommers zwischen Kindheit und Jugend mit der Elfjährigen als durchgehender Fokalisierungsinstanz, immer wieder auch in deren indirekter oder erlebter Rede. Die erzähltechnische Begrenzung auf den Horizont des Mädchens erlaubt es der Autorin, die erfrischende Naivität eines Kindes aufzurufen, so wenn es z.B. über die Färöer heißt, dass diese

[p]å nogle verdenskort ligner øerne bare nogle krummer. Det er måske Gud, der har spist et eller andet uden at holde en tallerken under. Hun håber, at Gud om ikke andet spiste noget rigtig dejligt og sødt. (S. 18)

auf manchen Weltkarten nur einigen Krümeln ähneln. Es ist vielleicht Gott, der irgendwas gegessen hat, ohne einen Teller darunter zu halten. Sie hofft, dass Gott wenigstens etwas richtig Schönes und Süßes gegessen hat.

Doch die Wahl der Perspektive einer schüchternen kindlichen Beobachterin und Zuhörerin hat zudem den Vorteil, dass die Lesenden erst retardierend Einblick in die Dysfunktionalität und Tragik der geschilderten zwischenmenschlichen Beziehungen bekommen und zugleich gezwungen sind, sich die Perspektive des Kindes anzueignen. Ein happy end versagt Ottarsdóttir den Lesenden. Eigene Kinder kann das Mädchen sich in ihrer Zukunft nicht vorstellen, und das Ende des Romans ist die Rückkehr zum anfänglichen Status Quo. Als das Mädchen auf dem Rückweg nach Tórshavn ist, wünscht es sich deshalb,

at havet åbnede sig og slugte færgen og alle de andre øer – alle undtagen tantes ø – for så kunne hun i fred og ro og med god samvittighed skifte imellem at være her i lyset hos morfar og mormor og i mørket oppe nordpå hos tante (S. 289)

dass das Meer sich öffne und die Fähre und alle die anderen Inseln – alle mit Ausnahme von Tantes Insel – verschlinge, denn dann könne sie in Frieden und Ruhe und mit gutem Gewissen abwechselnd hier im Licht bei Großvater und Großmutter oder in der Dunkelheit im Norden bei der Tante zu sein

– nicht ohne sofort darauf „Jesuspápi“ für diesen frevelnden Wunsch um Verzeihung zu bitten.

Eingebettet ist das Familienkammerspiel, wenn auch subtil, in die (post-)kolonialen Beziehungen zwischen Dänemark und den Färöern. Die Glitzerwelt der dänischen Frauenzeitschriften mit ihren Bedürfnisse weckenden Konsumwaren auf der einen Seite wird mit den kargen färöischen Verhältnissen außerhalb der Hauptstadt kontrastiert. Besonders der Großvater, der traditionelles Essen wie Dorsch- oder Widderköpfe liebt, ein tüchtiger Sänger färöischer Balladen ist und dem Geld nicht viel bedeutet, steht für eine traditionelle färöische Lebensweise, in der noch der alttestamentarische Gott und der neutestamentarische „Jesuspápi“ herrschen. Aber genau dieses traditionelle färöische Leben mit seinen starren Regeln ist es, das sein Lebensglück, die Erfüllung seiner Liebe zu der ‚Tante‘, verunmöglicht. Und die wertende Grenzziehung mancher Färinger:innen zu den Dän:innen als faule, laute und allzu redefreudige Leute von übertriebenem Geltungsbewusstsein ist spätestens dann als eine simple, von der (post-)kolonialen Situation weitgehend unabhängige Identität-Alterität-Prozessfigur zu erkennen, wenn die färöische Insel Suðuroy als ‚Klein-Dänemark‘ charakterisiert wird, wo die Leute wie in ‚Groß-Dänemark‘ seien. Die zwischen den Zeilen des Romans durchaus durchschimmernde postkolonialistische Kritik an Dänemark verweigert sich allzu einfachen Binaritäten.

Die kindliche Perspektive, aus der das Geschehen in Ottarsdóttirs Roman erzählt wird, bedingt einen Erzählstil, der sich stark unterscheidet von dem Stil in manch anderer Gegenwartsliteratur, die von in postmoderner Erzähltheorie geschulten Absolvent:innen der Literaturwissenschaft oder Komparatistik geschrieben worden ist. Die Handlung wird linear erzählt mit einem Minimum an Rückblicken. Bilder kommen nur spärlich zum Einsatz, so wenn die schwimmfreudige Tante mütterlicherseits, die mit den Männern spielt, als Meerfrau („havfrue“) bezeichnet wird – und bezeichnenderweise dann doch fast bei einem Badeunfall umkommt – oder wenn immer wieder Fliegen mit ausgerissenen Beinen oder Flügeln auftreten, die trotz ihrer Verstümmelungen weiterlaufen oder weiterfliegen können (und müssen). Auch die intertextuellen Verweise eröffnen in diesem Roman keinen feinziselierten ästhetischen Parallelkosmos, sondern dienen schlicht zur Personencharakterisierung: das Mädchen mit dem Helfersyndrom spielt Robin Hood; der unglücklich verheiratete Großvater singt die Ballade von Ebbe Skammelsøn, in der es um eine Hochzeit eines falschen Paares und deren fatale Konsequenzen geht; die Großmutter, die von ihren britischen Offizieren träumt, trägt ein englisches Schlaflied vor.

Manchmal scheint die Erzählerin allerdings eher die Perspektive einer erwachsenen Filmemacherin mit Kameraauge als die eines Mädchens einzunehmen, so als die Elfjährige am Anfang des Romans im Bus auf dem Weg zu den Großeltern sitzt:

Hun er på vej mod solen, nogle solstråler kæmper sig helt fri af skyerne, kommer søgende efter bussen tværs over engen med den lille, solgyldne å og følger bussen på vej. (S. 6)

Sie ist auf dem Weg zur Sonne hin, einige Sonnenstrahlen kämpfen sich aus den Wolken ganz frei, suchen quer über die Wiese mit dem kleinen, sonnengoldenen Bach nach dem Bus und folgen ihm auf seinem Weg.

Eine ästhetische Grundirritation des Romans ist zudem, dass er zwar die Perspektive eines schüchternen, stillen Mädchens wiederzugeben vorgibt, streckenweise aber in seiner erlebten Rede recht geschwätzig daherkommt. Ein lektorierender Eingriff hätte diesem Erstlingsroman an manchen Stellen nicht geschadet. Empfehlenswert ist er dennoch, zumal wenn man sich für färöische Literatur interessiert.

Katrin Ottarsdóttir: Pigen i verden. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021. Übersetzt und bearbeitet von der Autorin nach der färöischen Originalversion Gentan í verðini. Vestmanna: Sprotin, 2020.

(Stephan Michael Schröder, Universität zu Köln)

1 https://bog.dk/pigen-i-verden-interview-med-katrin-ottarsdottir/ [04.10.2021]

2 Ein Textauszug des färöischen Originals und der englischen Übersetzung ist zu lesen unter https://cagibilit.com/are-there-copper-pipes-in-heaven-book-excerpt/ [03.10.2021]

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»Dorthin sollst du gehen!« Ein Roman über den Tod und das Leben

Cover des Romans "der hvor du ikke vil hen" von Astrid Saalbach

Nachdem in Skandinavien – und vor allem in Dänemark – viele Jahre lang schmale Erzählbändchen und minimalistische Prosa Konjunktur hatten, scheint sich nun ein Trend zu episch breiten Schilderungen abzuzeichnen. Hier denke ich nicht in erster Linie an Karl Ove Knausgaards voluminöses Projekt, in dem es um minutiöse Selbstbeobachtung und die Erzeugung von Gegenwärtigkeit ging, sondern vor allem an historische Familienschilderungen, die die Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen. Dabei handelt es sich um eine populäre und traditionelle Gattung, die aber aktuell zunehmend von etablierten sowie von interessanten jungen Autor*innen aufgegriffen wird, um Zusammenhänge zwischen Aktualität und Historie aufzuzeigen und vergessene oder verdrängte Aspekte der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen. Neue Formen dieses Erzählens epischer und historischer Zusammenhänge werden von international bekannten Autor*innen wie Sharon Dodua Otoo, Yaa Gyasi, Verena Keßler, Saša Stanišić oder Iris Wolff erprobt, und auch in Dänemark wenden sich eine ganze Reihe der etablierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Vergangenheit ihrer Familie, ihrer Region oder ihres Geschlechts zu (Merete Prydz Helle, Katrine Marie Guldager, Carsten Jensen, Jens Smærup Sørensen, Jesper Wung-Sung).

Nun hat die vor allem als Dramatikerin bekannte und mit vielen Preisen ausgezeichnete Astrid Saalbach ebenfalls einen Beitrag zu diesem Genre vorgelegt. Die Kritik bezeichnet der du ikke vil hen (wohin du nicht willst; 2021) als einen »mesterlig slægtsroman« (meisterlichen Familienroman; Jyllandsposten) und lobt durchgehend die anschauliche Erzählweise und die Dramatik des Geschehens. Der Umfang des Textes ist nicht – wie in häufig in traditionellen Familienromanen – detaillierten Schilderungen und ausführlichen Gedankenwiedergaben geschuldet, sondern die Erzählweise ist von Handlungsdichte mit vielen Dialogpassagen und schnellen Szenenwechseln geprägt. Wie die minimalistischen Erzähler*innen arbeitet auch Saalbach mit Leerstellen, die Erzählinstanz hält sich zurück mit Erklärungen und wahrt einen respektvollen Abstand zu den Figuren.

Gerahmt wird der Roman durch einen Pro- und einen Epilog, in denen tief in die Schatzkiste der Erzählkonventionen gegriffen wird, wenn die Enkelin Helene – ein Alter Ego der Autorin – von der sterbenden Großmutter ein Bündel alter Briefe erhält. Und gerade dieses Merkmal traditionellen Erzählens ist nicht erfunden, sondern entspricht der Realität, wie Astrid Saalbach in Interviews dargelegt hat. In einem youtube-Video ihres Verlags Lindhardt og Ringhof erläutert die Autorin, dass der Roman auf Ereignissen ihrer Familiengeschichte beruht, und zeigt einige der Fotos und Dokumente, die dem Text zugrunde liegen. Eine wahre Geschichte also, die so romanhaft und facettenreich ist, dass die Autorin laut eigener Aussage einige Ereignisse weglassen musste, die zu unwahrscheinlich schienen – dem Diktum von Aristoteles gemäß, dass in der Fiktion Glaubwürdigkeit Vorrang vor historischer Korrektheit haben muss. Die Geschehnisse spielen sich in einer Familie ab, spiegeln aber durchaus zeittypische Verhältnisse und werden durch die knappe Nennung der historischen Kulisse zeitlich fixiert. Die geschichtlichen Ereignisse umfassen den Ersten Weltkrieg, Arbeitslosigkeit, Inflation, die Grippeepidemie, die dänische Kolonialherrschaft in Grönland und den aufziehenden Nationalsozialismus. Lebendig gemacht wird dieser Zeithorizont durch verifizierbare Orte und historisch belegte Details wie Knud Rasmussens 2. Thule-Expedition, Zahnarztpraktiken in den 1910er Jahren, die Heilmethoden des TBC-Sanatoriums Nakkebølle auf Fünen oder die (noch vorhandene) Frits Schlegel Villa im Funkis-Stil (Bernstorffsvej 17).

Die Haupthandlung, die in fünf Teile gegliedert ist, spielt sich zwischen 1912 bis 1934 ab, Pro- und Epilog sind auf 1989 datiert und erwähnen einige Ereignisse der 1940er bis 70er Jahre. Die Handlungsorte bewegen sich vom Ausgangspunkt Faaborg nach Kopenhagen, aber auch nach Disko (heute Qeqertarsuaq) in Westgrönland im zweiten Teil und London und Paris im vierten Teil. Im Zentrum stehen zwei Frauen, die abwechselnd die Fokalisierungsinstanz des Erzählens darstellen. Sigrid ist bei Erzählbeginn sieben Jahre alt und bewundert ihre zwölf Jahre ältere Tante Anna. Im ersten bis dritten Teil steht Anna im Mittelpunkt, im vierten Teil wechseln Handlung und Perspektive zwischen beiden, im fünften Teil, nach Annas Tod, folgen wir Sigrid. Die Schicksale der beiden Frauen sind auf mehrfache Weise miteinander verknüpft: Sie sind Angehörige einer Familie, sie ähneln einander äußerlich, sie brechen als Frauen mit den ihrem Geschlecht auferlegten Normen, beide reisen in die Ferne und werden schließlich aufeinander folgende Ehefrauen desselben Mannes, wenn Sigrid nach Annas Tod ihren Onkel August heiratet.

Der Titel der du ikke vil hen scheint sich zunächst auf Annas unfreiwilligen Grönland-Aufenthalt zu beziehen, der ausführlich im zweiten Teil geschildert wird. Weil sie ein Liebesverhältnis zu einem verheirateten Maler unterhält, schickt die Familie sie – nach beendeter Ausbildung zur Zahnärztin, was damals als Frauenberuf galt – zu ihrem älteren Bruder, der als Kolonieinspektor auf Disko tätig ist. Dort erlebt sie den harten Winter, praktiziert als Zahnärztin, unternimmt lange Schlittenreisen mit ihrem Bruder und muss den Tod eines Neffen sowie die von Gewalt geprägte Ehe von Bruder und Schwägerin miterleben. Im weiteren Verlauf des Romans ist man dann geneigt, den Titel auf die Nichte Sigrid zu beziehen, deren großer Freiheitsdrang nach Aufenthalten in London und Paris durch die Familie beschnitten wird, indem man sie in eine Ehe mit ihrem Onkel drängt, der nach dem Tod seiner Ehefrau Anna untröstlich ist. Auch wenn sie vier Kinder bekommt und in einer schicken Funkis-Villa wohnt, ist sie doch ›dort, wohin sie nicht wollte‹. In beiden Fällen geben die jungen Frauen dem Drängen der Familie und der Konvention nach. Die eine muss ihre Liebe zu dem verheirateten Maler aufgeben und fliehen, weil ihre Beziehung als Schande empfunden wird; die andere muss auf ihren Freiheitsdrang und ihre Selbständigkeit verzichten, um dem Onkel die verlorene Frau zu ersetzen.

Am Schluss jedoch wird das Titelzitat in seinem ursprünglichen biblischen Kontext verwendet, als es der Pfarrer bei der Beisetzung von Sigrid benutzt: »Der hvor du ikke vil hen, sagde præsten i sin tale til begravelsen, – der skal du gå« (402; Dort wohin du nicht willst, sagte der Pastor in seiner Ansprache, – dorthin sollst du gehen). Das »dort« in dem Zitat aus dem Johannesevangelium bezeichnet den Tod, und spätestens an dieser Stelle am Ende des Romans wird deutlich, dass er nicht nur von Frauenleben, Liebes- und Verzichtsgeschichten handelt, sondern auch vom Tod und vom Umgang damit im Leben. »Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst.« (Johannes 21,18; Lutherbibel 1912). Den biblischen Kontext des Gottvertrauens lässt das Zitat bei Saalbach jedoch weg. Der Bibelvers wird nicht als religiöser Trostspender zitiert, sondern das »der skal du gå« klingt unbarmherzig nach – und ergibt eine Handlungsaufforderung für das Leben. Im Rückblick wird dann erkenntlich, wie viel in diesem Roman gestorben wird: der plötzliche Kindstod von Ellas Baby, der Tod der Freundin Jenny in Folge der Grippe, der Tod Annas und ihres Kindes bei der Geburt, der Krebstod des Vaters, der von Ärzten verschuldete Tod der Mutter nach einem Beinbruch, die TBC-Tode im Sanatorium von Nakkebølle und die von der sog. Kajakangst und mangelnder ärztlicher Versorgung verursachten Tode der Grönländer, – ganz zu schweigen von den beiden erst im Epilog berichteten gewaltsamen Todesfällen. Die Dominanz des Todes in diesen drei Generationen einer Familie erinnert daran, dass er unausweichlich zum Leben dazugehört und dass man die Geschichte eines Lebens nur dann zu Ende erzählen kann, wenn der Tod am Schluss steht.

Krankheiten, Sterben, Leid und Trauer sind unvermeidlich, sehr unterschiedlich ist hingegen der Umgang mit dem Tod, das Leben mit der Unvermeidlichkeit der Endlichkeit. So verzweifelt Ella am Tod ihres neugeborenen Sohnes und verfällt in Lethargie und Depression. Ganz zentral im Roman steht aber Augusts Umgang mit dem Tod seiner geliebten Frau Anna; er ist unfähig, sie loszulassen, er fetischisiert sie und lässt den Lebenden, vor allem seiner zweiten Frau Sigrid, keine Chance. Im Kern und am Knotenpunkt des Romans, an dem sich Annas und Sigrids Lebenswege treffen, steht Augusts Umgang mit Verlust, Trauer und Tod, der nicht nur Sigrid, sondern auch ihm selbst und seiner Familie ein vorwärts gerichtetes Leben versagt. Durch die traurige Geschichte von Sigrid als Nachfolgerin ihrer verstorbenen Tante wird der Roman zu einem ›momento vivere‹, zu einer impliziten Aufforderung, das Leben zu leben und nicht die Toten zu Abgöttern zu machen.

Teil dieser Fetischisierung ist das Schweigen, das im bewahrten und versteckten Unterrock der verstorbenen Anna seinen materiellen Ausdruck findet. Das Schweigen macht die Erinnerung solipsistisch und unerträglich. Demgegenüber steht als ein anderes materielles Erinnerungszeichen der Briefstapel, den Sigrid im Prolog ihrer Enkelin vermacht. Mit der Übergabe verbindet sich die implizite Aufforderung, die Erinnerung im Erzählen wach zu halten. Indem sich die Autorin auf die Erzählkonvention der gefundenen Briefe stützt, ruft sie die wichtige Funktion der Narration für die Erinnerung auf. Als individuelle Teile eines Zusammenhangs – einer Epoche, einer Familie, eines (biologisch/sozialen) Geschlechts – haben die Geschichten und ihre Protagonistinnen eine Bedeutung. Angenehm unwichtig ist in diesem Text jedoch die identitätsbildende Funktion für die Erzählerin/Autorin, die lediglich die tradierende Rolle übernimmt, während ihre eigene Person bescheiden ausgeblendet bleibt.

Insofern ist der du ikke vil hen weit entfernt von so mancher Selbsterkundung, die Familienromanen oft zugrunde liegt. Es ist auch nicht nur ein Familien-, Frauen‑ oder gar ein Liebesroman, wie in der Kritik zu lesen war, sondern vor allem ein Roman über den Tod. Ohne den göttlichen Trost des Bibelzitats im Titel stellt der Roman eine Aufforderung dar, trotz aller Trauer seine Handlungen am Leben und an den Lebenden auszurichten und nicht an den Toten. Doch es ist die Erinnerung an die Verstorbenen, die Erzählung über das Vergangene, die das Bewusstsein der Endlichkeit schafft, aus der sich die Hinwendung zum Leben ableitet.

Astrid Saalbach: der hvor du ikke vil hen. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2021.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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