Turbulente Ausfahrten

I.

Der Debütroman der norwegischen Autorin Marie Aubert (geb. 1979) Voksne mennesker (Erwachsene Menschen) erschien 2019 bei Forlaget Oktober. Dieses Werk mit Fokus auf einer 40-jährigen Hauptperson, die mit dem Erwachsenwerden hadert, bekam interessanterweise im selben Jahr Ungdommens kritikerpris, der von norwegischen Schüler*innen vergeben wird. Rezensent*innen beschrieben das Buch einerseits als schnell vergessene Lektüre (Anne Cathrine Straume), andererseits wurde das Buch als „rig på stille dramatik“ („reich an stiller Dramatik“) (Kristin Vego) positiv hervorgehoben. Die deutsche Übersetzung von Ursel Allenstein erschien 2021 im Rowohlt Verlag. Der skandinavische psychologische Realismus scheint sich großer Beliebtheit zu erfreuen, denn die deutsche Version des Debütbands Marie Auberts Kan jeg bli med deg hjem (Kann ich mit zu dir?) von 2016 ist für 2022 geplant.

II.

Voksne mennesker lässt sich als Familiendrama beschreiben, dem Auberts frühere Erfahrungen mit kürzeren Texten anzumerken sind. Die schnell voranschreitende Handlung erstreckt sich über ein paar Tage und ist in einem Ferienhaus auf einer kleinen Insel im südlichen Norwegen situiert. Hier begegnen wir der Ich-Erzählerin Ida, ihrer Schwester Marthe, Marthes Mann Kristoffer und Kristoffers Tochter aus seiner ersten Beziehung, Olea. Später kommen Idas und Marthes Mutter, die im Verlauf der Erzählung ihren 65. Geburtstag feiern wird, und ihr Freund nach.

Wir erfahren, dass die Hauptfigur Ida, bereits 40 und Single, kürzlich einen Arzt in Göteborg aufgesucht hat, um ihre Eizellen zwecks einer zukünftigen Schwangerschaft einfrieren zu lassen. Als ihre Schwester Marthe ihr kurz nach der Ankunft auf der Insel mitteilt, dass sie schwanger ist, kann Ida damit nicht umgehen: Sie ist der Meinung, dass Marthe ein eigenes Kind und einen netten Freund wie Kristoffer nicht verdient. Marthe habe sich in ihrem Leben nie anstrengen müssen und könne dennoch das Glück einer eigenen Familie genießen.

Diese angespannte Ausgangsituation zwischen den Schwestern verkompliziert sich durch eine Annäherung von Ida und Kristoffer in betrunkenem Zustand. An diesem Abend vertraut Kristoffer Ida an, dass er eigentlich kein weiteres Kind möchte. Ida behält dieses Geständnis nicht für sich, sondern erzählt es Marthe. Zudem wird die Stimmung durch den Vorschlag Marthes und Kristoffers getrübt, das Haus ganz für sich zu nutzen und Ida ihren Anteil des Sommerhauses abzukaufen. Fast keine Beziehung innerhalb der Familie bleibt unbelastet.

Ida versucht, in unterschiedliche Rollen in der Familienkonstellation zu schlüpfen. Heimlich schleicht sie in Marthes und Kristoffers Zimmer, legt sich in deren Bett, kann aber doch nicht liegen bleiben. Sie probiert Kristoffers Schuhe an, in denen ihre Füße wie Kinderfüße aussehen. Mit 40 kann sie nicht mehr zu einem Kind werden. Am Badestrand überkommt sie eine Kindheitserinnerung: „Føttene mine blir til barneføtter, korte bein som må ta sats på det høye trinnet ned fra en liten fjellhylle […]“ (Kap. 5; „Meine Füße werden zu Kinderfüßen, kurze Beine, die sich mutig von einem hohen Felsvorsprung abstoßen müssen […]“).Die Erinnerungssequenz endet abrupt mit der kleinen Schwester Marthe, die von hinten angelaufen kommt und sagt: „så rar du ser ut“ (Kap. 5; „wie komisch du aussiehst“). Ida wird ins Hier und Jetzt zurückgeworfen. Durch ihr Verharren in Kindheitsmustern steht sie sich selbst im Wege.

III.

Die Handlung wird von der Schilderung von drei Bootsausflügen durchzogen, die die Autorin nutzt, um die psychologische Handlungsebene durch einige Metaphern, in denen das Wasser und die Meereslandschaften eine Rolle spielen, zu untermauern. Den ersten Bootsausflug im Fjord unternimmt Ida allein. Sie versucht, der Enge der Insel und des Ferienhauses zu entkommen: „Jeg kunne kjørt og kjørt til jeg ikke så land, til jeg ble mindre og mindre, helt til jeg løste meg opp […]” (Kap. 9; „Ich könnte […] hinausfahren. Jetzt könnte ich es machen. Immer weiter, bis ich kein Land mehr sehe, bis ich kleiner und kleiner werde, mich auflöse […]”). Solange die Möglichkeit besteht, aufs offene Meer hinauszufahren, erhofft sich Ida, nicht zu verschwinden: „Jeg er her, tenker jeg, jeg er her, jeg er her. Jeg er her, jeg skal ikke dø, jeg skal ikke forsvinne, jeg er her“ (Kap. 9; „Ich bin hier, denke ich, ich bin hier, ich bin hier. Ich bin hier, ich werde nicht sterben, ich werde nicht verschwinden, ich bin hier”). Diese Vorstellung vom offenen Meer lässt sich mit der Hoffnung auf eine Schwangerschaft und der gleichzeitigen Furcht vor ihr in Zusammenhang bringen. Ida versucht, in der Selbstbestimmung ihrem Leben Bedeutung zu verleihen.

Die zweite Bootsfahrt hängt mit der ersten zusammen. Alle Familienmitglieder sind anwesend und Marthe ist am Steuer. Sie will zeigen, wie gut sie das Steuern des Boots gelernt hat. Mitten im Fjord bleibt das Boot allerdings wegen des leeren Tanks stehen. Ida weiß, dass eigentlich sie die Panne verursacht hat, denn sie ist in der Früh allein hinausgefahren, ohne nach der Fahrt den Tank nachzufüllen. Sie gibt das aber nicht zu und erlebt ein befriedigendes Überlegenheitsgefühl, nachdem die Fahrt unter Marthes Leitung misslingt. Marthe scheint das Meer nicht auf die gleiche Weise zur Verfügung zu stehen wie Ida.

Während die ersten zwei Bootsausflüge Idas Selbstbestätigung dienen, stellt der dritte eine Katastrophe für sie dar. Kurz bevor sie und Olea ausfahren, erhält Ida die Nachricht, dass ihre Eizellen höchstwahrscheinlich nicht eingefroren werden können, wodurch auf der psychologischen Ebene der dramatische Höhepunkt erreicht wird. Auf der Handlungsebene manifestiert sich dieser wenig später in Form eines Unfalls, bei dem die sechsjährige Olea, die unter Idas Aufsicht steht, ins Wasser fällt. Plötzlich nimmt das Wasser für Ida eine bedrohliche Form an. Die Beziehung zwischen ihr und dem einzigen Kind im Ferienhaus, Olea, ist beeinträchtigt und Idas Fahrkompetenzen werden von allen anderen angezweifelt.

Nach der letzten Bootsfahrt stellt sich die Frage: Wie würde Ida mit dem Leben als Mutter zurechtkommen, wenn sie nicht einmal imstande ist, für kurze Zeit auf Olea aufzupassen? Von ihrem Umfeld mit der Vorstellung eines erwachsenen Lebens mit Mann und Kind konfrontiert, zweifelt Ida nun selbst, ob sie die Verantwortung für ein Kind übernehmen könnte. Die Hoffnung auf eine Schwangerschaft und der offene Horizont des Meeres scheinen zugleich zu verblassen. Am Ende, bevor Ida als Letzte das Ferienhaus verlässt, erhalten wir Einblick in ihren Gedankengang, wobei an die oben zitierten Sätze angeknüpft wird. Sie blättert im Gästebuch des Sommerhauses und stellt fest, dass ihre eigenen knappen Einträge stark mit den vielen ausführlicheren Anmerkungen von Schwester und Mutter kontrastieren und resümiert: „Jeg skulle vært her mye mer, eller jeg skulle vært her på en annen måte, ingen vil vite at jeg har vært her“ (Kap. 23; „Ich hätte viel öfter hier sein sollen, ich hätte auf eine andere Weise hier sein sollen, niemand wird wissen, dass ich hier war“). Ida bittet am Ende des Romans ihre Mutter und deren Freund, das Sommerhaus vorzeitig zu verlassen. Dieser aktive Versuch, das Erwachsenwerden voranzutreiben, korrespondiert mit ihrer Entscheidung, ihren Anteil des Sommerhauses an Marthe und Kristoffer zu verkaufen. Sie will sich nicht länger mit ihrem kleinen Zimmer zufriedengeben, nicht länger die Rollen der anderen einnehmen, um Anerkennung zu gewinnen, oder sich von ihren Kindheitserinnerungen im Sommerhaus limitiert fühlen.

Zwei Interpretationen dieses Schlusses bieten sich an. Ida glaubt, gescheitert zu sein, weil sie ihr Leben nicht selbstbestimmt führt. Gleichzeitig könnte aber die Einsicht, dass ihr Leben in Zukunft unterschiedliche Formen annehmen kann, befreiend sein und ihr dabei helfen, sich mit der schwindenden Hoffnung auf ein eigenes Kind zu arrangieren.

IV.

Der Interpretationsoffenheit, wie wir sie am Ende des Buches finden, bedient sich Aubert nicht konsequent. Die größte Schwäche des Romans manifestiert sich in der Darstellung der Beziehung zwischen Ida und Marthe. Statt ab und zu die Handlungen sprechen zu lassen, werden die Lesenden ausschließlich mit Idas Sichtweise konfrontiert, die die Beziehung zwischen den Schwestern stark überzeichnet erscheinen lässt. Während Aubert in ihren Novellen von 2016 mehr unausgesprochen ließ, werden die Leser*innen von Voksne mennesker öfter als notwendig an die Hand genommen.

Obwohl die Darstellung der Beziehung der Schwestern nur bedingt geglückt ist, ruft Voksne mennesker erfolgreich sowohl Sympathiegefühle für die Hauptfigur Ida als auch Ablehnung ihr gegenüber hervor, wodurch keine einfachen Schlüsse am ambivalenten Ende des Romans zu ziehen sind. Die scheinbare Familienidylle im südlichen Norwegen ist entlarvt und die Insel als Zufluchtsort geschickt entmystifiziert.

Marie Aubert: Voksne mennesker. Oslo: Forlaget Oktober 2019.

(Anton Matejicka, Universität Wien)

In Allgemein veröffentlicht | Getaggt , , , | Kommentare geschlossen

Grönländische Einsamkeit und andere Verfehlungen

Buchcover von "Blomsterdalen" von Niviaq Korneliussen

Nach 60 Jahren war es kürzlich soweit: Der Literaturpreis des Nordischen Rates ging zum ersten Mal in seiner Geschichte an Grönland – genauer gesagt an die 31-jährige Niviaq Korneliussen mit ihrem Roman Naasuliardarpi oder Blomsterdalen (Das Blumental, 2020). Die in Nuuk geborene und in Südgrönland aufgewachsene Schriftstellerin ist in der Literaturszene aber nicht erst seit dem mit diesem prestigeträchtigen Preis ausgezeichneten Werk ein Begriff. Bereits ihr erster Roman HOMO Sapienne brachte ihr internationale Anerkennung ein. Er erschien 2014 zunächst auf Grönländisch, dann in Korneliussens eigener dänischer Übersetzung und wurde ebenfalls für den genannten Literaturpreis nominiert. Der Debütroman wurde in mehrere Sprachen übersetzt – darunter unter dem etwas sperrigen Titel Nuuk #ohne Filter (2016) ins Deutsche. Blomsterdalen dagegen entstand zunächst in dänischer Sprache, bevor Korneliussen den Roman für die grönländische Ausgabe umschrieb.

Die thematische Ausrichtung von Blomsterdalen ist von Anfang an klar ersichtlich. Die Erzählung kreist um die seit Jahrzehnten horrend hohe Zahl an Suiziden in Grönland, von der vor allem Jugendliche und junge Erwachsene wie von einer Epidemie betroffen sind. Wäre Grönland ein eigener Staat, so heißt es im Buch, dann würde es das Ranking der Länder mit den höchsten Suizidraten der Welt anführen. „45. Kvinde. 38 år. Hænging.“ (S. 11; 45. Frau. 38 Jahre. Erhängen.) ist auf einer der ersten Seiten zu lesen. Damit beginnt ein Countdown, der das gesamte Buch durchzieht: Immer mehr Todesfälle werden verzeichnet, bei allen handelt es sich um Suizidopfer. Die Zahl 45 ist dabei nicht zufällig gewählt, waren es doch auf der Atlantikinsel 2019 ebenso viele Menschen, die den Freitod wählten. Die Form dieser die Erzählung strukturierenden Nachrichten verändert sich über die drei Teile des Romans – De, Du und Jeg (Sie, Du und Ich) – hinweg: Sie werden persönlicher, ihre Intensität, der Detailreichtum und auch das Grauen steigern sich. Beinahe unerträglich werden sie zum Ende hin, wo etwa folgender Satz zu lesen ist: „Sorte hænder, de sorte hænder rører ved min krop, og jeg har lyst til at sige til mig selv, du er smuk, men jeg kan ikke bevæge mig.“ (S. 310; Schwarze Hände, die schwarzen Hände berühren meinen Körper, und ich will mir selbst sagen: du bist schön, aber ich kann mich nicht bewegen.) Durch die dekontextualisierte Präsentation dieser kurzen Ausschnitte bleibt es der Fantasie der Lesenden überlassen, die möglichen Umstände zu rekonstruieren – eine unschöne Aufgabe: Von Gewalt, Verwahrlosung und sexuellen Übergriffen ist hier zu lesen und von der verzweifelten Suche nach einem Platz in dieser Welt. Dabei kommen Angehörige ebenso zu Wort wie die hoffnungslosen Opfer selbst, und die Wucht dieser in ihrer Kürze umso eindringlicheren Darstellungen hinterlässt ihre Spuren bei den Lesenden.

Die Protagonistin in Blomsterdalen, deren Namen wir nicht erfahren, stammt nicht aus derart schwierigen Verhältnissen. Dennoch wird schnell deutlich, dass sie von ihrer in Nuuk lebenden Familie entfremdet ist und unweigerlich aneckt. Abhilfe soll der langersehnte Neubeginn in Aarhus, Dänemark schaffen, wo sie ein Studium der Anthropologie aufnimmt. Eine starke Verbindung nach Grönland bleibt dabei aufgrund ihrer noch frischen Beziehung zu Maliina, die ihr eine Stütze zu sein versucht, bestehen. Doch Dänemark kann der Protagonistin nicht die erhoffte Transformation bieten, im Gegenteil: Ihre Mitstudierenden begegnen ihr mit fragwürdigen Äußerungen und rassistischen Haltungen, sie erscheint als ein exotischer Fremdkörper im weißen Aarhus, und auch mit den Anforderungen des Studiums kann sie nicht mithalten. Ein tragischer Umstand bietet sich schließlich als Ausweg für sie an, als sie erfährt, dass Maliinas Cousine Guuju, wie so viele vor ihr, Suizid begangen hat. Beide reisen nach Tasiilaq zu Maliinas Familie und begeben sich auf die Suche nach Antworten. Welche Gründe kann es geben, dass Guuju – noch ein Teenager – Selbstmord als letzten Ausweg sah? Schnell stoßen die beiden auf das hilflose Erstarren der Angehörigen angesichts der Tragödie – und auf das große Schweigen der Gesellschaft: Mehr als einen obligatorischen wehklagenden Facebook-Post nach jedem Suizid scheint es nicht zu geben, bevor das Tabu wiederhergestellt wird.

Noch schwerwiegender scheint jedoch das Versagen der selvstyre zu sein, der grönländischen Selbstverwaltung, die noch immer finanziell von Dänemark abhängig ist. Der Mangel an Hilfsangeboten für Suizidgefährdete, die Überlastung des Systems angesichts der überwältigenden und gleichzeitig als Normalität etablierten Suizidkrise und das mangelnde Verständnis für die Dringlichkeit des Problems: Das sind die Eckpunkte des politischen und sozialen Versagens, das Blomsterdalen in aller Deutlichkeit hervorhebt.

Die Stärke des Romans ist es, auf die unterschiedlichen Ebenen der strukturellen Schwächen mit einer beißenden Schärfe hinzuweisen und gleichzeitig die Herausforderungen einer postkolonialen Gesellschaft aufzuzeigen. Das von der dänischen Herrschaft in mancherlei Hinsicht zerrüttet zurückgelassene Gesellschaftsgefüge befindet sich in einem fortdauernden Heilungs- und Re-Konstruktionsprozess, während weiterhin eine ökonomische Abhängigkeit besteht. In Blomsterdalen sind es aber gerade die Darstellungen individueller Schicksale, die die Problematik greifbar machen und nüchterne Zahlen affektiv aufladen.

Diese empathische Haltung kommt auch in Niviaq Korneliussens emotionaler Dankesrede bei der Preisverleihung zum Ausdruck (siehe https://youtu.be/ehvBe3Xa0jA). Anstatt sich an die verantwortlichen Politiker*innen Grönlands zu wenden, was ebenso effektiv wie das Gespräch mit einer Mauer sei, spricht sie die Jugendlichen direkt an, die sie im Zuge ihrer aktivistischen Arbeit kennenlernen durfte. Sie spendet ihnen bestärkende und klare Worte und setzt ein starkes Zeichen, indem sie sich stellvertretend für die Verfehlungen der Erwachsenen entschuldigt, deren Konsequenzen nun auf den Schultern der Jugend lasten.

Der immer größer werdende Druck und die steigende Verzweiflung treten im Roman deutlich hervor. Im Laufe der Erzählung entfremdet sich die Protagonistin immer stärker von ihrer Umgebung und auch von sich selbst. In Tasiilaq, wo sie das titelgebende blomsterdal erkundet, stößt sie auf einen Friedhof, der nicht nur wegen der in rauen Mengen auf den Gräbern niedergelegten Plastikblumen – eine grönländische Gewohnheit – befremdlich erscheint, sondern vor allem deswegen, weil die Gräber keine Namen oder Lebensdaten verzeichnen, sondern nüchtern nummeriert sind. Dabei erkennt sie ihre eigene Namenlosigkeit: „Hvad hedder jeg? Jeg har ikke et navn. Jeg er bare et tal.“ (S. 220; Wie heiße ich? Ich habe keinen Namen. Ich bin nur eine Zahl.)

Tatsächlich wird die rastlose Protagonistin am Ende selbst zu einer Zahl werden, nämlich eine weitere in der Selbstmordstatistik und womöglich die letzte des Countdowns. Nach dem Aufenthalt in Tasiilaq dreht sich ihre Abwärtsspirale unaufhaltsam weiter. Die Protagonistin wirft das Studium hin, trennt sich von Maliina, flüchtet sich in die Obdachlosigkeit. Die Trennung und damit den Verlust einer der letzten Verbündeten bereut sie schnell, und als ihr der endgültige Ausweg, die Flucht nach Kanada, verwehrt bleibt, lässt ihr tragisches Ende nicht mehr lange auf sich warten.

Auch wenn die Suizidthematik in Blomsterdalen in unterschiedlichen Ausprägungen im Vordergrund steht, steckt noch viel mehr in diesem oft auch humorvollen Roman: „Naasuliardarpi handler om kærlighed, om venskab og om at være en del af et postkolonialt samfund.“ (Naasuliardarpi handelt von Liebe, von Freundschaft und davon, Teil einer postkolonialen Gesellschaft zu sein; https://www.norden.org/da/news/niviaq-korneliussen-fik-nordisk-raads-litteraturpris-2021), heißt es in der Begründung des Nordischen Rats für die Preisverleihung. Was häufig unerwähnt bleibt ist, dass Blomsterdalen – wie bereits sein Vorgänger HOMO sapienne – auch ein dezidiert queerer Roman ist. Einige der vielen queeren Figuren finden Akzeptanz oder wenigstens Toleranz in ihrer nahen Umgebung, andere wiederum werden von Homofeindlichkeit und Mobbing in den Tod getrieben. Die Kritik an heteronormativen Verhältnissen ist dabei mal subtiler, mal expliziter. Häufig steht aber die Verbindung zwischen zwei Menschen im Vordergrund, ohne dass die Queerness der Beziehung problematisiert wird. Dabei nimmt Korneliussen in der Darstellung erotischer und sexueller Szenen kein Blatt vor den Mund – dieser sexual realism kommt indessen weder gekünstelt noch übertrieben daher.

Blomsterdalen ist ein Roman, der nicht nur ein politisches, sondern mit seinem feinfühligen und gleichzeitig direkten Stil auch ein literarisches Statement darstellt, mit dem sich Korneliussen mit ihrer kraftvollen Stimme schon jetzt als Autorin etabliert hat.

Niviaq Korneliussen: Blomsterdalen. Kopenhagen: Gyldendal 2020.

(Jay Geier, Universität Wien)

In Allgemein veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen

Im Mittelpunkt des Lebenszirkels

Es ist ein schmaler Band mit reichem Inhalt, ein Buch über einen Ort, über Kopenhagen, über Depression, das Alter und den Tod, über die Eltern, vergangene Lieben und gegenwärtiges Leben und Dichten. So reich an Reflexionen und Einsichten, Bildern und Eindrücken ist das neue Buch des Lyrikers Søren Ulrik Thomsen, dass es auch vom dänischen Feuilleton einhellig gefeiert, gepriesen und reichlich mit den in der dänischen Literaturkritik üblichen Sternen ausgezeichnet wird. Der Autor bezeichnet sein Buch im Untertitel als Essay und ruft damit eine Form auf, die ihm die Freiheit gibt, Persönliches mit gesellschaftlich Relevantem zu verbinden und Stimmungen mit Reflexionen zu verweben. Aber der in 28 kurze Kapitel unterteilte Text ist ein höchst poetischer Essay, der durchgehend den Lyriker verrät. Thomsens verdichtete Sprache, das rhythmische Schwingen seiner langen Sätze, die präzise Beobachtung seiner Umwelt, die sich in überraschenden Bildern niederschlägt, macht aus dem Leseakt einen fortdauernden Prozess des Erkennens. Es ist weniger die Narration, die den Zusammenhang des Textes herstellt und den Wunsch nach dem Weiterlesen generiert, sondern die gleichermaßen präzise wie poetische Sprache, die Anschaulichkeit und Intensität der Diktion, das Mäandern der Sätze. Ähnlich der Ausdrucksform in seinen Gedichten findet Thomsen auch in seiner Prosa Formulierungen wie „stammernes sorte skeletter [som] står tilbage som ufortolkelige tegn“ (39, die schwarzen Skelette der Stämme, [die] als unerklärliche Zeichen zurückbleiben), „baggårdenes skumrende æskesystem” (40, das dämmrige Schachtelsystem der Hinterhöfe) oder „et sommerfuglekys med øjenvipperne“ (45-46; ein Schmetterlingskuss mit den Augenwimpern) – immer wird die konkrete Wahrnehmung der Umgebung auf ein Bild oder eine Stimmung hin transzendiert. Amüsant ist, als der Erzähler sich einmal selbst zur Ordnung ruft, weil er in der Beschreibung eines Szenarios der sechziger Jahre beinahe geschrieben hätte „mens de lyttede til cool jazz“ (14, während sie cool jazz hörten), weil er damit die (meist graue) Wirklichkeit verlassen und einem Klischee nachgegeben hätte. In Thomsens erinnerter Realität ist das Grau des Alltags immer anwesend, er verbindet häufig Gegensätzliches, konkrete Wahrnehmung mit Empfindungen, vibrierende Lichtsäulen mit schummrigem Novemberdunkel. Seine bevorzugte Jahreszeit ist der Herbst, »hvor jeg altid har det godt, selv om meget måske kunne være bedre« (39, wenn es mir immer gut geht, obwohl vieles vielleicht besser sein könnte). Eine ganze Reihe von Fotografien wird erwähnt, die Menschen und Szenen aus der Vergangenheit bildlich darstellen, doch der Erzähler verzichtet explizit darauf sie abzudrucken, wohl weil er auf seine sprachliche Evokation vertrauen kann.

Es ist ein sehr persönliches, ja intimes und daher auch mutiges Buch, das nichts beschönigt und dennoch Schönheit kreiert. Titelgebend ist ein Ort, eine Kopenhagener Adresse, an der der aus der Provinz zugezogene sechzehnjährige Junge nur ein Jahr seines Lebens verbrachte, bevor er das Elternhaus mit siebzehn wieder verließ. Und doch ist dieser Ort, wie er es selbst bezeichnet, für ihn und sein gesamtes Leben ein Zentrum, das wie der Mittelpunkt des Zirkels (»punktet, hvor passerens spids kan placeres«, S. 9, 26, 79 (der Punkt, an dem die Spitze des Zirkels platziert werden kann)) ausstrahlt bis in die äußerste Peripherie der späteren Jahre und Erfahrungen. Zum einen eröffnet sich dem Jungen mit dem Umzug nach Kopenhagen die Großstadt als der Raum, der ihn fasziniert und der seine Dichtung, vor allem der frühen Jahre, bestimmt und hervorgebracht hat. Als er 1981 mit City Slang debütierte, wurde er bekannt als die Stimme einer neuen Generation und einer sinnlichen Großstadtpoesie, die die Lichter, das Tempo, den Lärm, den Verkehr, ja den Sound von Kopenhagen und die Einwirkung der Stadt auf den Körper und das Ich einfing und Faszination mit Fremdheitsgefühlen, den Rausch mit dem Verlorensein untrennbar verband. Die Auseinandersetzung mit dem Puls der Stadt führt er im Rückblick auf einen abendlichen Gang entlang des Gl. Køge Landevej zurück:

På venstre hånd pulserer lysene fra forstædernes endeløse karrébyggerier i septemberaftenen, mod horisonten rejser Brøndby Strands og Frihedens Stationscenters nye højhuse sig, og selv har jeg aldrig, hverken før eller siden, følt mig mere lille og mere fremmed, gennemsigtig og urolig, et tilfældigt stykke knitrende cellofan, som nylonvinden hvert øjeblik kunne rive itu og hvirvle væk«. (27)

(Linker Hand pulsieren die Lichter der endlosen Wohnblocks der Vorstädte im Septemberabend, gegen den Horizont erheben sich die neuen Hochhäuser von Brøndby Strand und dem Bahnhofscenter Friheden, und ich selbst habe mich nie, weder vorher noch nachher, kleiner und fremder gefühlt, durchsichtig und unruhig, ein zufälliges Stück Zellophan, das der Nylonwind jeden Augenblich zerreißen und wegwirbeln könnte).

Dieses sinnliche Stadterleben hat eine zweite Wirkung für den Lyriker Thomsen, er findet hier nicht nur sein Thema, sondern auch seine Form, die Konzentration auf das Erleben des Hier und Jetzt, das den präsentischen Charakter seiner Gedichte ausmacht. Den Ausgangspunkt jeweils im Konkreten und Alltäglichen zu nehmen, zieht sich durch sein lyrisches Werk bis hin zu jüngeren Gedichten, z.B. in Rystet spejl (2011; Zitterspiegel, 2016, übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke). Insofern enthält dieses Erinnerungsbuch auch Ansätze einer Poetik, die sich aber nicht in einer Rekapitulation von Vergangenem erschöpft, sondern eine erneute reflektierende Konfrontation mit der sich wandelnden Umgebung sucht. So schreibt er über einen Besuch des seit langem geschlossenen Hotel Phønix »[at den] fyldte mig med den uhygge, der opstår, når man genbesøger virkeligheden og får bekræftet, at den er en drøm« (29) ([dass es] mich mit dem Unheimlichen anfüllte, das entsteht, wenn man die Wirklichkeit wieder aufsucht und bestätigt bekommt, dass sie ein Traum ist).

Den Ausgangspunkt in der sinnlichen Wahrnehmung des Gegenwärtigen zu suchen, vom eigenen Körper auszugehen, schlägt sich in dem Erinnerungsbuch nun in Reflexionen über das Alter, über Vergänglichkeit und den Tod nieder. Besonders im ersten Drittel des Buches schreibt Thomsen von Krankheitssymptomen und Ängsten, von der befürchteten Schwächung des Körpers durch das Alter, von Unwiederbringlichem, von der Endlichkeit des Lebens. Er erinnert sich an Verluste, an verstorbene Freunde und tragische Todesfälle. Der Erzähler nähert sich dem „brændpunkt“ (9, Brennpunkt) der Erzählung und des Lebens nicht auf direktem Weg, sondern über Anekdoten und Porträts, die an Menschen erinnern, wie die ehemalige Klassenlehrerin Bodil Ulrich oder den früh verstorbenen Lyriker Ole Sarvig. Diese Erinnerungen und Reflexionen sind melancholisch, aber nicht wehleidig oder sentimental, denn sie schließen in ihrer präsentischen Konkretheit immer ein Moment der Zukunftsträchtigkeit ein:

Ikke bare visheden om, at der efter i dag vil komme en ny, men desuden forventningen til, at denne anden dag også vil være ny i betydningen bedre end den foregående, ja, måske oven i købet vidunderlig, tror jeg simpelthen er det, som holder os live. (17)

(Nicht nur die Gewissheit davon, dass nach heute ein neuer Tag kommen wird, sondern auch die Erwartung, dass dieser andere Tag auch neu sein wird, im Sinne von besser als der vorhergehende, ja vielleicht sogar wunderbar, das denke ich ganz einfach ist es, was uns am Leben hält).

Die Gegenwart lässt sich nicht ohne ihre Voraussetzungen denken, aber sie ist »drømmeagtigt vendt imod fremtiden, som et blad imod solen« (16, traumartig in die Zukunft gewandt, wie ein Blatt gegen die Sonne). Der Verweis auf die biblische Geschichte von Jesus und der Hochzeit von Kanaan, mit der Thomsen diese Passage schließt, enthält einen Verweis auf den christlichen Glauben des Dichters, der ihm vielleicht – trotz aller Wehmut – diese Zuversicht erlaubt.

Doch Store Kongensgade 23 ist nicht nur der Ort des dichterischen Erwachens, sondern vor allem verbunden mit der Mutter und ihrer langjährigen Krankheit. An dem Ort, den der Dichter als das Zentrum seiner Erfahrungen bezeichnet, zeigte die Mutter die ersten Symptome einer schweren Depression, die sieben Jahre lang andauern und sie von einer psychiatrischen Klinik in die nächste führen sollte. Die Mutter steht denn auch im Zentrum dieses Erinnerungsbuchs, es erzählt ein Jahr nach ihrem Tod die Geschichte ihres Lebens und mündet in einer Anklage gegen das Psychiatriesystem. Nachdem die Mutter viele Jahre mit allen erdenklichen Psychopharmaka und insgesamt 35 Elektroschocks vergeblich behandelt worden war, trifft sie schließlich auf einen Psychiater, der sich ihr zuwendet, mit ihr spricht und sie gesund aus der Klinik entlassen kann. Der Charakter dieses Gespräches, das eventuell das der psychischen Erkrankung zugrundeliegende Trauma erkundete und sie daher heilen konnte, ist unbekannt. So bewahrt nicht nur die Mutter lebenslang ein Geheimnis, sondern auch der Text respektiert das Rätsel ihres Lebens, ebenso wie er den Kosenamen der Mutter für den Sohn verschweigt. Sicher aber ist, dass sie nach dieser langen Krankheitsphase 42 Jahre lebte, ohne je wieder depressiv zu werden, aber auch ohne über diese Jahre, die Krankheit oder die Heilung sprechen zu wollen. Thomsen kontrastiert die medikamentenbasierte klinische Psychiatrie mit der Psychoanalyse, die er auch aus eigener Erfahrung kennt und der er größere Heilungskraft zutraut als der Medikamentenmedizin. Die Kapitel 18 bis 20, die dieser kritischen Auseinandersetzung gewidmet sind, unterscheiden sich insofern vom übrigen Buch, als sie kämpferisch und sachbezogen sind und eher den üblichen Charakteristika des essayistischen Genres entsprechen als die bildreichen Reflexionen, die das Buch zu großen Teilen dominieren. Die hier geäußerten Meinungen und Thesen dürften nicht unwidersprochen bleiben, ganz ohne Erfolge ist die klassisch-klinische Psychiatrie sicher nicht, aber der persönliche Zugang zum Thema rechtfertigt die aus der Erfahrung gewonnene Meinung.

Der letzte Teil des Buches kehrt zu der ursprünglichen Diktion zurück, er ist liebevollen Erinnerungen an die Eltern gewidmet und bringt Dankbarkeit und Anerkennung zum Ausdruck. Die vor kurzem, nach schwerer Krankheit, verstorbene Mutter und der noch lebende Vater werden in ihrer Komplementarität und Zuneigung zueinander porträtiert, die Mutter als Winterbadende, Sprachliebhaberin und Dichterin vorgestellt. Mit ihr stand der Sohn in einem Austausch über Dichtung, sie hat selbst ihr Leben lang geschrieben und konnte kurz vor ihrem Tod eine Ausgabe ihrer Gedichte in den Händen halten. Ganz zum Schluss kehrt der Text noch einmal zurück zum Haus in der Store Kongensgade und berichtet von dem Traum, sich wieder darin niederzulassen. Doch die Zeit, von der dieses Buch in seinem Kern vor allem handelt, erlaubt keine Wiederholung, sie strebt immer in eine Richtung: »drømmeagtigt vendt imod fremtiden« (16, traumartig in die Zukunft gewandt).

Søren Ulrik Thomsen: Store Kongensgade 23, Gyldendal, 2021.

(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)

In Allgemein veröffentlicht | Getaggt , , | Kommentare geschlossen