Es ist ein schmaler Band mit reichem Inhalt, ein Buch über einen Ort, über Kopenhagen, über Depression, das Alter und den Tod, über die Eltern, vergangene Lieben und gegenwärtiges Leben und Dichten. So reich an Reflexionen und Einsichten, Bildern und Eindrücken ist das neue Buch des Lyrikers Søren Ulrik Thomsen, dass es auch vom dänischen Feuilleton einhellig gefeiert, gepriesen und reichlich mit den in der dänischen Literaturkritik üblichen Sternen ausgezeichnet wird. Der Autor bezeichnet sein Buch im Untertitel als Essay und ruft damit eine Form auf, die ihm die Freiheit gibt, Persönliches mit gesellschaftlich Relevantem zu verbinden und Stimmungen mit Reflexionen zu verweben. Aber der in 28 kurze Kapitel unterteilte Text ist ein höchst poetischer Essay, der durchgehend den Lyriker verrät. Thomsens verdichtete Sprache, das rhythmische Schwingen seiner langen Sätze, die präzise Beobachtung seiner Umwelt, die sich in überraschenden Bildern niederschlägt, macht aus dem Leseakt einen fortdauernden Prozess des Erkennens. Es ist weniger die Narration, die den Zusammenhang des Textes herstellt und den Wunsch nach dem Weiterlesen generiert, sondern die gleichermaßen präzise wie poetische Sprache, die Anschaulichkeit und Intensität der Diktion, das Mäandern der Sätze. Ähnlich der Ausdrucksform in seinen Gedichten findet Thomsen auch in seiner Prosa Formulierungen wie „stammernes sorte skeletter [som] står tilbage som ufortolkelige tegn“ (39, die schwarzen Skelette der Stämme, [die] als unerklärliche Zeichen zurückbleiben), „baggårdenes skumrende æskesystem” (40, das dämmrige Schachtelsystem der Hinterhöfe) oder „et sommerfuglekys med øjenvipperne“ (45-46; ein Schmetterlingskuss mit den Augenwimpern) – immer wird die konkrete Wahrnehmung der Umgebung auf ein Bild oder eine Stimmung hin transzendiert. Amüsant ist, als der Erzähler sich einmal selbst zur Ordnung ruft, weil er in der Beschreibung eines Szenarios der sechziger Jahre beinahe geschrieben hätte „mens de lyttede til cool jazz“ (14, während sie cool jazz hörten), weil er damit die (meist graue) Wirklichkeit verlassen und einem Klischee nachgegeben hätte. In Thomsens erinnerter Realität ist das Grau des Alltags immer anwesend, er verbindet häufig Gegensätzliches, konkrete Wahrnehmung mit Empfindungen, vibrierende Lichtsäulen mit schummrigem Novemberdunkel. Seine bevorzugte Jahreszeit ist der Herbst, »hvor jeg altid har det godt, selv om meget måske kunne være bedre« (39, wenn es mir immer gut geht, obwohl vieles vielleicht besser sein könnte). Eine ganze Reihe von Fotografien wird erwähnt, die Menschen und Szenen aus der Vergangenheit bildlich darstellen, doch der Erzähler verzichtet explizit darauf sie abzudrucken, wohl weil er auf seine sprachliche Evokation vertrauen kann.
Es ist ein sehr persönliches, ja intimes und daher auch mutiges Buch, das nichts beschönigt und dennoch Schönheit kreiert. Titelgebend ist ein Ort, eine Kopenhagener Adresse, an der der aus der Provinz zugezogene sechzehnjährige Junge nur ein Jahr seines Lebens verbrachte, bevor er das Elternhaus mit siebzehn wieder verließ. Und doch ist dieser Ort, wie er es selbst bezeichnet, für ihn und sein gesamtes Leben ein Zentrum, das wie der Mittelpunkt des Zirkels (»punktet, hvor passerens spids kan placeres«, S. 9, 26, 79 (der Punkt, an dem die Spitze des Zirkels platziert werden kann)) ausstrahlt bis in die äußerste Peripherie der späteren Jahre und Erfahrungen. Zum einen eröffnet sich dem Jungen mit dem Umzug nach Kopenhagen die Großstadt als der Raum, der ihn fasziniert und der seine Dichtung, vor allem der frühen Jahre, bestimmt und hervorgebracht hat. Als er 1981 mit City Slang debütierte, wurde er bekannt als die Stimme einer neuen Generation und einer sinnlichen Großstadtpoesie, die die Lichter, das Tempo, den Lärm, den Verkehr, ja den Sound von Kopenhagen und die Einwirkung der Stadt auf den Körper und das Ich einfing und Faszination mit Fremdheitsgefühlen, den Rausch mit dem Verlorensein untrennbar verband. Die Auseinandersetzung mit dem Puls der Stadt führt er im Rückblick auf einen abendlichen Gang entlang des Gl. Køge Landevej zurück:
På venstre hånd pulserer lysene fra forstædernes endeløse karrébyggerier i septemberaftenen, mod horisonten rejser Brøndby Strands og Frihedens Stationscenters nye højhuse sig, og selv har jeg aldrig, hverken før eller siden, følt mig mere lille og mere fremmed, gennemsigtig og urolig, et tilfældigt stykke knitrende cellofan, som nylonvinden hvert øjeblik kunne rive itu og hvirvle væk«. (27)
(Linker Hand pulsieren die Lichter der endlosen Wohnblocks der Vorstädte im Septemberabend, gegen den Horizont erheben sich die neuen Hochhäuser von Brøndby Strand und dem Bahnhofscenter Friheden, und ich selbst habe mich nie, weder vorher noch nachher, kleiner und fremder gefühlt, durchsichtig und unruhig, ein zufälliges Stück Zellophan, das der Nylonwind jeden Augenblich zerreißen und wegwirbeln könnte).
Dieses sinnliche Stadterleben hat eine zweite Wirkung für den Lyriker Thomsen, er findet hier nicht nur sein Thema, sondern auch seine Form, die Konzentration auf das Erleben des Hier und Jetzt, das den präsentischen Charakter seiner Gedichte ausmacht. Den Ausgangspunkt jeweils im Konkreten und Alltäglichen zu nehmen, zieht sich durch sein lyrisches Werk bis hin zu jüngeren Gedichten, z.B. in Rystet spejl (2011; Zitterspiegel, 2016, übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke). Insofern enthält dieses Erinnerungsbuch auch Ansätze einer Poetik, die sich aber nicht in einer Rekapitulation von Vergangenem erschöpft, sondern eine erneute reflektierende Konfrontation mit der sich wandelnden Umgebung sucht. So schreibt er über einen Besuch des seit langem geschlossenen Hotel Phønix »[at den] fyldte mig med den uhygge, der opstår, når man genbesøger virkeligheden og får bekræftet, at den er en drøm« (29) ([dass es] mich mit dem Unheimlichen anfüllte, das entsteht, wenn man die Wirklichkeit wieder aufsucht und bestätigt bekommt, dass sie ein Traum ist).
Den Ausgangspunkt in der sinnlichen Wahrnehmung des Gegenwärtigen zu suchen, vom eigenen Körper auszugehen, schlägt sich in dem Erinnerungsbuch nun in Reflexionen über das Alter, über Vergänglichkeit und den Tod nieder. Besonders im ersten Drittel des Buches schreibt Thomsen von Krankheitssymptomen und Ängsten, von der befürchteten Schwächung des Körpers durch das Alter, von Unwiederbringlichem, von der Endlichkeit des Lebens. Er erinnert sich an Verluste, an verstorbene Freunde und tragische Todesfälle. Der Erzähler nähert sich dem „brændpunkt“ (9, Brennpunkt) der Erzählung und des Lebens nicht auf direktem Weg, sondern über Anekdoten und Porträts, die an Menschen erinnern, wie die ehemalige Klassenlehrerin Bodil Ulrich oder den früh verstorbenen Lyriker Ole Sarvig. Diese Erinnerungen und Reflexionen sind melancholisch, aber nicht wehleidig oder sentimental, denn sie schließen in ihrer präsentischen Konkretheit immer ein Moment der Zukunftsträchtigkeit ein:
Ikke bare visheden om, at der efter i dag vil komme en ny, men desuden forventningen til, at denne anden dag også vil være ny i betydningen bedre end den foregående, ja, måske oven i købet vidunderlig, tror jeg simpelthen er det, som holder os live. (17)
(Nicht nur die Gewissheit davon, dass nach heute ein neuer Tag kommen wird, sondern auch die Erwartung, dass dieser andere Tag auch neu sein wird, im Sinne von besser als der vorhergehende, ja vielleicht sogar wunderbar, das denke ich ganz einfach ist es, was uns am Leben hält).
Die Gegenwart lässt sich nicht ohne ihre Voraussetzungen denken, aber sie ist »drømmeagtigt vendt imod fremtiden, som et blad imod solen« (16, traumartig in die Zukunft gewandt, wie ein Blatt gegen die Sonne). Der Verweis auf die biblische Geschichte von Jesus und der Hochzeit von Kanaan, mit der Thomsen diese Passage schließt, enthält einen Verweis auf den christlichen Glauben des Dichters, der ihm vielleicht – trotz aller Wehmut – diese Zuversicht erlaubt.
Doch Store Kongensgade 23 ist nicht nur der Ort des dichterischen Erwachens, sondern vor allem verbunden mit der Mutter und ihrer langjährigen Krankheit. An dem Ort, den der Dichter als das Zentrum seiner Erfahrungen bezeichnet, zeigte die Mutter die ersten Symptome einer schweren Depression, die sieben Jahre lang andauern und sie von einer psychiatrischen Klinik in die nächste führen sollte. Die Mutter steht denn auch im Zentrum dieses Erinnerungsbuchs, es erzählt ein Jahr nach ihrem Tod die Geschichte ihres Lebens und mündet in einer Anklage gegen das Psychiatriesystem. Nachdem die Mutter viele Jahre mit allen erdenklichen Psychopharmaka und insgesamt 35 Elektroschocks vergeblich behandelt worden war, trifft sie schließlich auf einen Psychiater, der sich ihr zuwendet, mit ihr spricht und sie gesund aus der Klinik entlassen kann. Der Charakter dieses Gespräches, das eventuell das der psychischen Erkrankung zugrundeliegende Trauma erkundete und sie daher heilen konnte, ist unbekannt. So bewahrt nicht nur die Mutter lebenslang ein Geheimnis, sondern auch der Text respektiert das Rätsel ihres Lebens, ebenso wie er den Kosenamen der Mutter für den Sohn verschweigt. Sicher aber ist, dass sie nach dieser langen Krankheitsphase 42 Jahre lebte, ohne je wieder depressiv zu werden, aber auch ohne über diese Jahre, die Krankheit oder die Heilung sprechen zu wollen. Thomsen kontrastiert die medikamentenbasierte klinische Psychiatrie mit der Psychoanalyse, die er auch aus eigener Erfahrung kennt und der er größere Heilungskraft zutraut als der Medikamentenmedizin. Die Kapitel 18 bis 20, die dieser kritischen Auseinandersetzung gewidmet sind, unterscheiden sich insofern vom übrigen Buch, als sie kämpferisch und sachbezogen sind und eher den üblichen Charakteristika des essayistischen Genres entsprechen als die bildreichen Reflexionen, die das Buch zu großen Teilen dominieren. Die hier geäußerten Meinungen und Thesen dürften nicht unwidersprochen bleiben, ganz ohne Erfolge ist die klassisch-klinische Psychiatrie sicher nicht, aber der persönliche Zugang zum Thema rechtfertigt die aus der Erfahrung gewonnene Meinung.
Der letzte Teil des Buches kehrt zu der ursprünglichen Diktion zurück, er ist liebevollen Erinnerungen an die Eltern gewidmet und bringt Dankbarkeit und Anerkennung zum Ausdruck. Die vor kurzem, nach schwerer Krankheit, verstorbene Mutter und der noch lebende Vater werden in ihrer Komplementarität und Zuneigung zueinander porträtiert, die Mutter als Winterbadende, Sprachliebhaberin und Dichterin vorgestellt. Mit ihr stand der Sohn in einem Austausch über Dichtung, sie hat selbst ihr Leben lang geschrieben und konnte kurz vor ihrem Tod eine Ausgabe ihrer Gedichte in den Händen halten. Ganz zum Schluss kehrt der Text noch einmal zurück zum Haus in der Store Kongensgade und berichtet von dem Traum, sich wieder darin niederzulassen. Doch die Zeit, von der dieses Buch in seinem Kern vor allem handelt, erlaubt keine Wiederholung, sie strebt immer in eine Richtung: »drømmeagtigt vendt imod fremtiden« (16, traumartig in die Zukunft gewandt).
Søren Ulrik Thomsen: Store Kongensgade 23, Gyldendal, 2021.
(Annegret Heitmann, Ludwig-Maximilians-Universität München)