Aneignung

Der Zweite Weltkrieg boomt. In den letzten zehn Jahren hat er für das fiktionale Erzählen in allen seinen Spielarten vom Roman zur graphic novel, vom Theater- zum Computerspiel, von der Streaming-Serie zum Instagram-Projekt wieder enorm an Attraktivität gewonnen. Über die Gründe kursieren verschiedene Erklärungsmuster. Zunächst einmal die eher hoffnungsvolle Variante, die dem Erzählen einen ethischen Impetus unterstellt: Da die Generation, die den Krieg noch aus eigener Anschauung erlebt hat, nun abtritt, brauche es neue Formen des Erinnerns. Der Verlust von Authentizität müsse aufgefangen werden, damit das reale Grauen nicht in eine mythische Vergangenheit ohne Bezug zur Gegenwart absinke. Ein anderer, weniger hoffnungsvoller Ansatz erklärt den Boom dadurch, dass diese Mythisierung bereits vollzogen sei. Der ‚plot‘ und das ‚Inventar‘ an ‚Figuren‘ und ‚Schauplätzen‘, den das dunkle ‚Kapitel‘ der Jahre 1939 bis 45 bereithält, seien bereits derart ins kulturelle Archiv entrückt, dass sie ein Reservoir bieten, aus dem sich unzählige Spin-offs mit guter Aussicht auf erfolgreiche Vermarktung generieren lassen. Die Zeitgeschichte unterscheide sich in dieser Hinsicht nicht von den Avengers des Marvel-Universums. Mit den vorproduzierten Schablonen des kulturellen Archivs lasse sich nicht nur effektiv Geld machen, sie rechtfertigen auch jede Schweinerei, etwa einen Krieg gegen „eine Bande von Drogenabhängigen und Neonazis“. Sorgt sich der erste Ansatz um den Verlust von authentischem Erzählen, setzt der zweite seine Hoffnung auf ein verfremdetes Erzählen, das die Wahrnehmung entschleunigt, um sie so zu entautomatisieren.

Mit seinen letzten drei Romanen Døden i arbeid (2020, Der Tod an der Arbeit), Anne F. (2021) und zuletzt Den lille mannen fra Argentina (2022, Der kleine Mann aus Argentinien) bedient der norwegische Autor Kristian Klausen in gewisser Weise beide Ansätze.

Klausen schrieb die Romane um drei wohlbekannte Personen herum, die – je auf ihre Weise – mit dem Holocaust verbunden sind. Døden i arbeid widmet sich zwei Vertreter:innen des amerikanischen abstrakten Expressionismus, Mark Rothko und Agnes Martin. Rothko floh als Zehnjähriger mit seiner Familie vor den antisemitischen Pogromen des zaristischen Russlands in die USA, wo er sich bereits in den 1940ern in seinen Bildern mit dem Holocaust auseinandersetzte.

Die Hauptperson des zweiten Romans Anne F. ist Otto Frank, der Vater der titelgebenden Anne Frank, die im Juni 1942 – also vor genau 60 Jahren – angefangen hat, ihr Tagebuch zu schreiben, kurz bevor sie sich im Juli mit ihrer Familie in der Prinsengracht 263 in Amsterdam vor den Nazis verstecken musste; die Geschichte ist bekannt, das Tagebuch wurde für die Bühne und mehrfach für den Film, zuletzt schließlich als gelungene graphic novel (2017 von Ari Folman und David Polonsky) adaptiert: Das Versteck flog 1944 auf, Anne wurde deportiert und starb im KZ an Auszehrung und Krankheit. Otto Frank überlebte als einziger der Familie das Lager und widmete den Rest seines Lebens der Verbreitung des Tagebuchs seiner Tochter.

Hinter dem kleinen Mann aus Argentinien des dritten Romans versteckt sich schließlich der Ingenieur des Holocausts, Adolf Eichmann, der 1950 in Argentinien untertauchte, 1960 vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad aufgespürt und entführt, in Jerusalem öffentlich vor Gericht gestellt, verurteilt und gehängt wurde – und der durch Hannah Ahrendts Buch Eichmann in Jerusalem (1963) zu der Reflexionsfigur schlechthin wurde, anhand derer man die Banalität des Bösen und die Gewissenlosigkeit des Schreibtischtäters diskutiert.

Mark Rothko, Otto und Anne Frank sowie Adolf Eichmann – allesamt Persönlichkeiten, die das Dilemma des Postmemorialen verkörpern. Als historische Persönlichkeiten sollen sie für die Generationen ‚danach‘ das Begehren nach Authentizität befriedigen; doch sie sind zu Ikonen geworden, zu Kultbildern, standardisiert und formelhaft. Für Anne Frank und Adolf Eichmann gilt das in besonderer Weise. Hat man an Eichmann die Vorstellung eines „repräsentativen Täters“ (Dana R. Villa) diskutiert, könnte man in Anne Frank das repräsentative Opfer erkennen. Doch Klausen liefert keine historischen Romane, keine gut recherchierte Dokumentarliteratur. Vielmehr legt er eine – wie er es nennt – „kontrafaktische Phantasie“ („kontrafaktisk fantasi“, S. 175) vor. Mit dieser Formulierung unterstellt er eine Parallele zur kontrafaktischen Geschichtsschreibung: Seit den 1990er Jahren versuchen einige Historiker:innen einen Erkenntnisgewinn über den tatsächlichen Geschichtsverlauf dadurch zu provozieren, dass sie in ihrer Erzählung ein Detail der Realität ändern, um von diesem neuen Szenario aus einen alternativen Verlauf der Dinge zu imaginieren. Die Abweichung erlaube ein klareres Verständnis für die Bedingungen des Tatsächlichen. Eines der ersten Gedankenexperimente etwa war eine Studie, in der sich Robert Fogel bereits 1964 die Frage stellte, wie sich die Wirtschaft der USA ohne den Bau der Eisenbahn entwickelt hätte.

Klausen nun setzt als kontrafaktische Grundprämisse, dass die Hauptfiguren seiner drei Romane in der kleinen norwegischen Stadt Drammen – 102.000 Einwohner:innen, 41 Kilometer südöstlich von Oslo gelegen – leben. Rothko wird nicht in New York zum abstrakten Expressionisten, sondern in Drammen; Anne Frank wächst nicht in Amsterdam auf, sondern in Drammen; und Eichmann wird nicht vom Mossad verhaftet, sondern taucht in Drammen unter.

Die Handlung des neuesten Romans Den lille mannen fra Argentina setzt also damit ein, dass Mitte Juni 1960 „ein kleiner Mann mit Adlernase und Hornbrille, der sich Richard Borch nannte“ („en liten mann med fuglenebbnese og hornbriller som kalte seg Richard Borch“ S. 25), in die Konnerudsgata 10 d einzieht; er wohnt dort zwei Stockwerke unter der zweiten Hauptperson des Romans, Martha Dreyer, der Witwe eines Fahrschullehrers. Auch wenn dort mittlerweile ein neues Gebäude steht, lässt sich die Lage der Wohnung leicht über Google streetview identifizieren, so wie alle anderen Orte, Plätze und Straßen des Romans.

Der Name Eichmann fällt erst auf den letzten 30 Seiten, aber es genügt, das Jahr 1960, Buenos Aires und seine Angst vor dem Mossad zu nennen, um Borch gleich bei seinem ersten Auftritt mit dem Organisator des Holocausts zu identifizieren. Eichmann/Borch hat seine Familie in Südamerika zurückgelassen und finanziert sich zunächst über den Verkauf von seltenen Briefmarken. Bald arbeitet er in der Nachtschicht einer Papierfabrik und gibt sich als Österreicher aus, der früh aus Abneigung gegen die Nazis nach Argentinien ausgewandert und jetzt aus Sehnsucht nach Europa zurückgekehrt sei. Martha Dreyer hat vor einem Jahr ihren Ehemann begraben und beendete damit eine Ehe, die sie als gescheitert betrachte. 1948 verursachte ihre Kinderlosigkeit einen psychischen und physischen Zusammenbruch, der sie allerdings mit einer gewissen Inkubationszeit zur literarischen Autorin macht: Zunächst schrieb sie nur Tagebücher, doch nach einiger Zeit begann sie, aus den persönlichen Aufzeichnungen Formulierungen und Konstellationen zu kondensieren, die sie zu Novellen umformt. Drei Bände hat sie bisher herausgegeben, die ökonomisch nicht sonderlich viel abwerfen, aber hier und da von der Kritik gelobt werden.

Dass sich die beiden Hauptfiguren ineinander verlieben, hat eine erzählerische Funktion. Klausen muss motivieren, warum sich in Eichmann etwas öffnet, das seinen wohlgeschnürten mentalen Panzer der Verteidigung zerbricht, den er sich für den Fall einer juristischen Anklage zugelegt hat: Er sei doch nur ein Rad im Getriebe, ein Befehlsempfänger gewesen, der ausschließlich verwaltet habe, was andere entschieden. Hier liegt vielleicht das wirklich Kontrafaktische, denn in Hannah Arendts Buch wirkt Eichmann wie eine Person, der die Idee eines Gewissens völlig fremd ist, eines Gewissens, das sich nicht im Begriff der Pflicht von Befehlsempfängern erschöpft. Klausen dagegen stattet seine Figur mit Schuldgefühlen aus, die durch die intime Begegnung mit Martha Dreyer endlich freigesetzt werden und dann u.a. durch eine Begegnung mit Rothko und seiner ‚entarteten‘ Kunst sowie mit dem Tagebuch der Anne F. stetig wachsen. Dabei überschreibt das Schuldgefühl Borchs Wahrnehmung von Drammen Stück für Stück: Eine Flasche Calvados ruft die Normandie auf; die Zigarettenmarke Salem rückt Jerusalem ins Bewusstsein (S. 62-3); der Friedhof von Strømgodset kirke mit seinen etwa 2.500 Gräbern wird der Vergleichspunkt für das Ausmaß seiner Schuld. „Har du ansvaret for en hel slik kirkegård? / Og ikke bare den?“ (S. 119 – „Hast Du die Verantwortung für einen ganzen Friedhof wie diesen? / Und nicht nur für den einen?“). Am deutlichsten wird die Überschreibung der Stadt an der Skulpturengruppe De tre bydeler (Die drei Stadtteile) von Per Hurum, die Klausen auch schon in den früheren Romanen als Reflexionsort seiner Figuren einsetzt.

Bildquelle: https://drammenshistorie.no/bydeler.shtml

Es handelt sich dabei um drei nackte Frauen, die sich an den Händen halten, Rücken an Rücken stehen und in unterschiedliche Richtungen blicken. Als sie 1952 im Zentrum eines Kreisverkehrs auf dem Strømsø Torg aufgestellt wurden, sollten sie die Freundschaft und den Zusammenhalt der drei Stadtteile Bragernes, Strømsø und Tangen repräsentieren. Doch als Borch die drei dunkelgrünen Bronzefrauen sieht, „wollte er nicht daran denken, woran sie ihn erinnerten, wie viele Frauen, Mütter, Mädchen hatte er, mit seinem Stift, genauso nackt in das geschickt, was wie eine Dusche war“ („ville [han] ikke tenke på hva de minnet ham om, hvor mange kvinner, mødre, jenter, hadde han, med sin penn, sendt, akkurat så nakne, inn i det som liksom var en dusj“ – S. 113).

Letztlich hat Kristian Klausens „kontrafaktische Phantasie“ wenig mit den Methoden der kontrafaktischen Geschichtswissenschaft zu tun. Es geht nicht darum, Konsequenzen aus dem Eingriff in den Verlauf zu rekonstruieren, sondern das allgemein kursierende Wissen, das über Figuren des kulturellen Archivs in Umlauf ist, in den Roman zu ziehen und dort zu verfremden, um es so – als kulturelles Wissen – sichtbar zu machen. Deshalb ziehe ich auch eine andere Assoziation vor, mit der Klausen sein Projekt beschreibt. In einem Interview erinnert er an eine Praxis der Bildgebung, die man aus der Malerei vieler Jahrhunderte kennt: Dort wird das lange zurückliegende Geschehen der Evangelien immer wieder in den Kontext der Gegenwart gerückt, wenn etwa Matthias Grünewald die römischen Soldaten, die an der Geißelung Jesu beteiligt sind, wie Landsknechte des 15. und 16. Jahrhunderts einkleidet. Das Bild wird damit in gewissem Sinn entlastet, da sich die Authentizität nun nicht auf die angemessene Darstellung der Vergangenheit bezieht, sondern auf die Reaktion des zeitgenössischen Betrachters, der seine Welt im Bild wiederfindet. So wirkt auch die Neukontextualisierung im Fall von Klausens Schreibprozess: „Jeg skrev meg inn i Otto Frank, blander meg sjølv inn“ („Ich schrieb mich in Otto Frank ein, mischte mich selbst ein“), sagt er über die Hauptfigur des zweiten Bandes. Aber auch für Den lille mannen fra Argentina gilt, dass Klausen „en slags fusjon mellom meg og mitt og den historiske skickelsen“ („eine Art Fusion von mir und dem Meinem und den historischen Gestalten“) erschafft.

Als Lesende:r fragt man sich unweigerlich, wie man sich zu dieser Mischung verhalten soll, wenn es nicht ein trauernder Vater, sondern das banal Böse ist, mit dem sich der Autor da mischt und fusioniert. Darf er sich in die Psyche eines bösen Menschen (hin)einmischen und seinen Leser:innen anbieten, im Leseakt dasselbe zu tun? Entlasten wir Eichmann nicht, wenn wir ihn mit uns identifizieren – im ganz wörtlichen Sinn von idem facere -, ihn zum selben machen, zu einem von uns, zu einem Menschen, dem man zugesteht, dass er unter einem schlechten Gewissen leidet? Der eine Geschichte hat, die ihn zu dem machte, was er ist? Den man verstehen kann? Nehmen wir ihn dadurch wieder in die Gemeinschaft der Menschheit auf? Oder verbietet sich diese Humanisierung angesichts von sechs Millionen getöteten Juden und Jüdinnen? „Selv om de henrettet meg hver dag i 2000 menneskeår, ville det likevel gjenstå ubegripelige mengder henrettelser, 365 per år, før jeg hadde begynt å utligne noe.“ (S. 164 – „Selbst wenn sie mich 2000 Menschenjahre lang jeden Tag hinrichten würden, würden trotzdem unbegreifliche Mengen an Hinrichtungen übrigbleiben, 365 pro Jahr, bevor ich überhaupt angefangen hätte, etwas auszugleichen“) Da das Aus-gleichen der Schuld unmöglich ist, sollte auch das An-gleichen Eichmanns an uns, den Autor und seine Leser:innen undenkbar sein – und zwar nicht, weil wir meinen, besser zu sein, sondern weil man seine Taten vereinnahmt, heimisch macht, aus dem Bereich des Tabus und des Abjekten holt, wenn man sie durch eine familiäre Konstellation oder durch Druck der Vorgesetzen, durch psychische Labilität usw. kausal herleitet.

In Klausens Verfahren der Annäherung durch Verfremdung verquicken sich also ästhetische und moralische Fragen. Entsprechend flankiert er Eichmanns zweifelhafte ‚Menschwerdung‘ mit einer Vielzahl von Passagen, die Kreativität und Kunst reflektieren: Martha Dreyers Schreibhemmungen, die Begegnung mit dem abstrakten Expressionismus, mit Cy Twomblys Fifty days at Iliam, mit Homer und Shakespeare als imaginären Gesprächspartnern, mit den Krimis von George Simenon, die die einzige Lektüre von Borch ausmachen. Simenons Le Petit Homme d’Arkhangelsk von 1956 kommt eine besondere Rolle zu. Zum einen – und das liegt auf der Hand – hat er den Titel von Klausens Roman inspiriert. Zum zweiten überführt Klausen Simenons Hauptfigur, einen Juden, der ein Antiquariat besitzt und mit Briefmarken handelt, in Kapitel 8 ebenfalls nach Drammen. Zum dritten aber – und das ist entscheidend – spricht Klausen am Beispiel dieses Krimis mehr oder weniger direkt die Frage aus, ob es legitim ist, einen Menschen, der sich außerhalb der Humanität gestellt hat, nachvollziehbar zu machen oder ob eine solche Aneignung nicht viel eher unerhört, blasphemisch, tabu sein müsse – nur dass Klausen hier die Vorzeichen ändert: Der Autor wird zum Leser, der Täter zum Opfer – der Vorgang der Mischung bleibt derselbe. Borch liest nämlich Simenons Roman und – zu seinem Schrecken – verschmilzt im Lesen mit der Hauptfigur:

„Han hadde – kanskje for første gang i sitt liv – fullstendig identifisert seg med en jøde. Og det hadde skjedd: i en roman. Hovedpersonen i boka var av jødisk slekt. Denne identifiseringen, det var noe nesten blasfemisk, utenkelig, i alle fall etter det han hadde drevet med, en grense var overskredet“ (S. 73)

„Er hatte sich – vielleicht das erste Mal in seinem Leben – vollständig mit einem Juden identifiziert. Und dies geschah: in einem Roman. Die Hauptperson im Buch war von jüdischer Herkunft. Diese Identifizierung, das war etwas fast Blasphemisches, Undenkbares, auf jeden Fall nach dem, was er alles getrieben hatte, eine Grenze war überschritten“.

Und so kann man vielleicht sagen, dass Den lille mannen fra Argentina an einem Extremfall die ästhetischen, aber auch die moralischen Grenzen der Vorstellung reflektiert. Wieviel Appropriation (der Opfer und der Täter) steckt in jeder Imagination?

Klausen, Kristian: Den lille mannen fra Argentina. Oslo: Cappelen Damm 2022.

(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Ich kann es nicht mehr sehen.

Nur wenige andere waren über die Jahre hinweg in einem solchen Maße stilprägend für die skandinavische Autofiktion wie der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal. Mit seinem neuesten Roman Elsken, der als Lieben nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, begibt er sich auf die Suche nach dem Tod. Kaum schwerer könnten die Themen wiegen, die der Norweger beleuchtet, kaum länger die Schatten sein, die sie werfen. Doch gerade hier hat es sich Espedal gemütlich gemacht. Vielleicht sogar zu gemütlich.

Ein Schriftsteller am Rande der Wohlstandsverwahrlosung, gefangen zwischen den bitteren Verlusterfahrungen, die er machen musste, und den noch bittereren Schnapsflaschen, die sie ihm vergessen machen, gefolgt von Momenten der Klarheit, in denen die ganze Schönheit des Lebens mit aller Wucht bis in die kleinsten Dinge des Alltags spürbar ist, gefolgt von jungen, attraktiven Frauen, die mit einer fast schon an Gesetzmäßigkeit grenzenden Regelmäßigkeit in das Leben des deutlich älteren Schriftstellers eintreten und es dann wieder verlassen, gefolgt von Passagen eindrucksvoll erzählter Naturprosa. All das dürfte der Leserschaft, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits mit Espedals Büchern in Berührung gekommen ist, nicht unbekannt erscheinen. Immer wieder greift er in seinen Texten auf diese Bausteine zurück, die mittlerweile unverkennbar auf das Erzählprojekt des Norwegers hinweisen. Doch mit jeder Wiederholung dieses Leitmotivs macht sich Espedal angreifbar. Freilich nicht, weil er seinen Leser:innen einen noch tieferen seelisch-moralischen Abgrund präsentiert und so Gesprächsstoff generiert, sondern gerade weil er inhaltlich so berechenbar geworden ist, dass die von ihm erzeugten Momente allmählich ihre Schlagkraft einbüßen. Umso interessanter ist deshalb der Rhythmus, den Espedal in Elsken anzuschlagen versucht. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass der Text überhaupt keinen Hehl daraus macht, aus wessen Feder er stammt:

Wir folgen einem von der Liebe seines Lebens verlassenen Mann durch eine Landschaft, die Verflossene fließt dabei durch die zitternden Blätter der Bäume, fließt durch die Vogelrufe, fließt in dem Wasser des Sees, in dem der Verlassene ein Bad nimmt. Alles hängt zusammen, alles bedingt sich gegenseitig. Es türmen sich existenzielle Fragen auf, Bilder aus vergangenen Tagen verschwimmen miteinander, Sinneseindrücke von damals und jetzt überlagern sich. Die übersteigerte Sensitivität des Mannes kulminiert schließlich in einer »kraftig ereksjon« (10) / »kräftige[n] Erektion« (9), die er zusammengesunken auf einem aufgeheizten und einst durch Gletschermassen rund geformten Felsen bekommt. Auch in Elsken verleiht Espedal der Sexualität seines Ichs einen beinahe transzendenten Charakter. Sie färbt nicht nur die uns präsentierte Aneinanderreihung an aufkommenden Bildern und Gedanken ein, sondern schiebt sich passagenweise wie ein Filter vor den gesamten Text. Diese Momente gehören sicher nicht zu den Stärken des Textes, weil sie wie die Erektion in der Eröffnungsszene wenig subtil und eher aufdringlich anmuten. Besonders deutlich äußert sich das später in der sich anbahnenden Beziehung zu Aka, einer circa 20 Jahre jüngeren Frau, die Espedals Erzähler auf einer Wanderung entlang der Loire und weiter nach Paris begleitet. Findet er »[a]vstandsforelsket« (23) / »[a]uf Abstand verliebt« (27) zunächst vor allem Gefallen an der Stille, die Aka umgibt und in der sie tagsüber während des gemeinsamen Wanderns verschwindet, kann er schon während der ersten Übernachtung der beiden in einem Hotel nicht genau absehen, »hvor mange netter han ville klare å ligge slik ved siden av henne, uten å røre ved henne« (24f) / »wie viele Nächte er es wohl aushalten würde, so neben ihr zu liegen, ohne sie zu berühren« (29). Auch beim gemeinsamen Besuch auf Schloss Versailles dient sie als stille Projektionsfläche, auf der eigene Begehrlichkeiten verhandelt werden. Wie sperrig diese sind, wird spätestens hier offenbar, wenn Aka selbst in den weitläufigen Hallen und Salons des Pariser Schlosses einen passiven Platz als Interieur zugewiesen bekommt: »han betraktet henne nesten som man betrakter et kunstverk […]. [D]et var nærmest som om Aka blev omformet af de rommene hun gikk i, af de ting hun så på; hun tilhørte ikke ham, men disse forglydte speilene, de fargerike stoffer, de kostbare sengene« (25) / »er betrachtete sie fast so, wie man ein Kunstwerk betrachte […]. [E]s war fast so, als würde Aka von den Sälen, durch die sie ging, verwandelt, von den Dingen, die sie betrachtete; sie gehörte nicht zu ihm, sondern zu diesem vergoldeten Spiegel, den bunten Stoffen, den kostbaren Betten« (30). Problematisch ist, dass Espedals Ich in Elsken die Gelegenheit auslässt, diesen bereits ausgiebig bekannten Zug seines Schreibens einer Neubewertung zu unterziehen. Stattdessen erfolgt die Stilisierung der eigenen Potenz mit einem fast beispiellosen Grad an Selbstgefälligkeit, sodass der Text an diesen Stellen abgenutzt und unzeitgemäß daherkommt – vermutlich vermag hier nicht einmal der Spiegelsaal des Schloss Versailles eine Reflexion anzustoßen.

Das ist umso bedauerlicher, zumal sie an anderer Stelle durchaus einsetzen. Als sich der Erzähler in der zweiten Hälfte des Buches mit einer ominösen Vorladung konfrontiert sieht, – ihr Grund bleibt vorerst unbekannt – folgen wir ihm auf einem kaskadenartigen Gedankenstrom. Hier kommt Espedals psychologische Technik zum Tragen und es gelingt ihm auf beeindruckende Weise, innerhalb weniger Seiten eine Topographie der Schuld zu entfalten, deren Raum er bis zu ihren Grenzen auslotet. Schließlich »lengtet [han] etter en forbrytelse. Han kunne ha myrdet. Hvem som helst. Den første og beste han møtte« (71) / »sehnte [er] sich nach einem Verbrechen. Er hätte morden können. Wen auch immer ermorden können. Den Erstbesten, der ihm begegnen würde« (91). Und trotz der Tiefe, die der Text hier aufbaut, kann er an dieser Stelle nur noch erschreckend auf seine altbekannte Oberfläche verweisen, auf das, was schon längst zu Tage gefördert worden ist. Wenn sich dann nämlich in der Anhörung herausstellt, dass der Vorwurf einer Vergewaltigung im Raum steht, dieser aber als vollkommen abwegige und erfundene Spinnerei einer vermeintlich psychisch Kranken abgetan wird, während kurz zuvor die Möglichkeit eines Mordes durchgespielt wird, spätestens dann offenbart sich Espedals fatale Eindimensionalität im Hinblick auf dieses Thema. Von einem Buch, dessen Erscheinungsdatum circa ein Jahr nach dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung liegt, muss man mehr erwarten können.

Trotzdem kündigt sich in Elsken schon ab der ersten Zeile etwas fundamental Anderes in Espedals Schreiben an.  »Jeg leter etter et sted å dø« (7) /»Ich sucht nach einem Ort zum Sterben.« (5) heißt es im ersten Satz, der zugleich den konzeptuellen Rahmen des gesamten Buches festsetzt. Denn das Ich, von dem Espedal erzählt, hat genug gesehen. Genug, um zufrieden mit sich sein zu können, genug, um all das erlebt zu haben, was es zu erleben gibt, und genug, um zu wissen, dass das, was noch kommen könnte, nichts beinhaltet, wofür es sich zu leben lohnen würde. Lieber möchte es sich auf eine gute und selbstbestimmte Art und Weise aus der Welt verabschieden. Ruft man sich ins Gedächtnis, wie akribisch Espedal die Erschaffung dieses Ichs über Jahrzehnte hinweg vorangetrieben hat, wird einem die Sprengkraft dieses ersten Satzes bewusst. Ohne große Umschweife strebt das Ich sein eigenes Ende an, für das es einen festen Zeitrahmen, nämlich den eines Jahres, ansetzt. Nur in Erwartung des Todesdatums lässt sich dann das Leben noch einmal in den vollsten Zügen auskosten. Es wirkt fast so, als beschwöre Espedal seine bereits etwas in die Jahre gekommene, autofiktionale Welt noch ein letztes Mal, um von ihr den Abschied nehmen zu können, der sich unvermeidbar anbahnt. Am markantesten ist dieses bevorstehende Loslassen allerdings in der Art des Erzählens angelegt, die sich ganz grundlegend von Espedals sonstiger Autofiktion unterscheidet. Obwohl wir es mit einem Ich zu tun haben, erzählt der Text von ihm – und nicht es den Text. Dies gelingt Espedal mit dem simplen, doch ebenso genialen Kniff, dass er seinem Protagonisten den Namen Ich gibt. Dadurch stellt er eine erfrischende Distanz zu seinem Ich her, die den Text lebendiger macht und ihm einen Rhythmus verleiht. Die ständigen Wechsel vom Namen ‚Han‘/ ‚Ich‘ hin zum Personalpronomen ‚han‘ /‘ich‘ sorgen für zahlreiche kurze Störmomente im Lesefluss. Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit setzt der Text so von seinen Lesenden voraus, der oder die sich ununterbrochen dazu gezwungen sehen, die Frage nach dem ‚Wer bin ist Ich?‘ zu beantworten. Hiervon profitieren insbesondere Espedals tiefgründigere Überlegungen über das Leben, den Tod, Krankheit und Familie. An diesen Stellen öffnet sich der Text durch die unterschwellig mitschwingende Identitätsfrage und wird dadurch überraschend nahbar.

Ob diese Momente letztendlich durch den gesamten Roman tragen, ist nicht klar zu sagen. Tun sie das, ist Elsken mit Sicherheit ein äußerst originell erzählter und lesenswerter Roman, der sich genauso gut in Tomas Espedals Autofiktion einreiht, wie er ihr Ende verkündet. Somit käme ihm eine Schlüsselrolle in der Gesamtbetrachtung seines Schaffens zu. Tun sie das nicht, wirkt Elsken wie ein aus der Zeit gefallener Text, der kaum Neues mit viel Bekanntem verbindet. Über diese Innovationsarmut – oder handelt es sich hier gar um Verweigerung? – kann dann selbst kein noch so geistreicher erzählerischer Kunstgriff hinwegtäuschen.

Espedal, Tomas: Elsken. Roman. Oslo: Gyldendal 2018.

Espedal, Tomas: Lieben. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: Matthes & Seitz 2021.

(Felix Bidder, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Humanität in der Bredouille: Fragile Speziesgrenzen vor und in Krisenzeiten.

„Det er ingen her. Jeg får bare begynne på egen hånd“ (S. 5, Es ist niemand hier. Ich muss eben allein anfangen), stellt die Ich-Erzählerin von Ida Fjeldbraatens 2020 erschienenem Roman Jerv fest, als ihr zu Beginn auffällt, dass die Wohnanstalt, in der sie zusammen mit anderen behinderten und schwer erziehbaren jungen Erwachsenen lebt, völlig verlassen ist. Sie duscht, putzt sich die Zähne, kämmt sich die Haare. Ein Blick in den Spiegel lenkt die Aufmerksamkeit auf ihren Körper, der ihr hinter der beschlagenen Scheibe nackt und zugleich diffus erscheint. Dieser uneindeutige Körper erweist sich im Laufe des Romans als Träger einer ebenso fragilen menschlichen Identität, die besonders dann ins Wanken gerät, wenn es um Tiere geht – um das Animale im Menschen, Begegnungen von Mensch und Tier oder tierische Perspektiven auf die Geschehnisse.

Diese thematische Rahmung ist in der skandinavischen Literaturgeschichte nicht wirklich neu. So wurde das Bild des Menschen als selbsternannter ‚Homo rationalis‘ in zahlreichen fiktionalen Texten verhöhnt, darunter Ludvig Holbergs von Gulliver’s Travels inspiriertem Nicolai Klimii iter subterraneum (1741), Johannes V. Jensens Edderkoppen (1907) oder – um ein rezenteres Beispiel zu nennen – Peter Høegs bekanntem Roman Kvinden og aben (1996); als Begleitfiguren oder gar Fokalisierungsinstanzen begegnen uns Tiere in der neueren Literatur außerdem auch in robinsonadenartigen Erzählungen wie Erlend Loes humoristischem Doppler (2004) oder Kerstin Ekmans Hunden (1986).

Fjeldbraaten greift solche Themen und Textverfahren auf, ihr Debüt Jerv durchzieht aber zugleich eine ebenso interessante wie potentiell provokative Parallelstellung zwischen Tier-Sein und Behinderung, deren Kulisse eine nicht näher definierte und vielleicht deshalb so unheimliche Krisensituation bildet: Trotz ihrer Erkenntnis, dass sie allein in der Wohnanstalt ist und weder die öffentlichen Verkehrsmittel fahren noch das Telefon funktioniert, macht sich die zwar pflichtbewusste aber oft etwas naive Protagonistin auf den Weg zur Arbeit – einem Provinz-Zoo, in dem sie als Putzkraft angestellt ist. Hier wird sie Zeugin zahlreicher Gewalttaten an Tieren: Uniformierte Männer und Frauen dringen in den Zoo ein, randalieren und erschießen die Tiere. Was genau passiert und was der Grund für die Ausschreitungen ist, erfahren die Leser:innen nicht, nur in vereinzelten Passagen ist die Rede von unterirdischen Bunkern, die für den Katastrophenfall ausgestattet werden, oder von Schlagzeilen in den Zeitungen über eine sich verschlechternde, aber im Roman nicht konkreter geschilderte politische Lage. Der Zoo befindet sich als eine Art Nicht-Ort an der Peripherie des hier angedeuteten Katastrophenszenarios.

In der norwegischen Literaturkritik wurde Jerv überwiegend positiv aufgenommen. Für Even Teistung (Klassekampen) etwa, der den Roman als Allegorie über das menschliche Einwirken in die Natur versteht, handelt es sich um ein bemerkenswertes Debüt. Ida Vågsether (Morgenbladet) sieht Jerv insbesondere als sprachlich gelungen und lobt den Entwurf einer verrohten Gesellschaft mit dystopischen Zügen, der sich abhebt von den vielen ich-zentrierten Autofiktionen der norwegischen Gegenwartsliteratur, wenngleich Vågsether jedoch nicht klar wird, worauf Fjeldbraaten mit diesem Gedankenexperiment hinauswill. Gerade die Deutungsoffenheit des Romans, der sich nicht zuletzt in seiner nur vage formulierten Anklage gegen derzeitige gesellschaftliche Verhältnisse von den klassischen Dystopien des 20. Jahrhunderts unterscheidet, bildet meines Erachtens aber seine Stärke. In jedem Fall nimmt Jerv, und darin sind sich alle Rezensent:innen einig, die Spezies Mensch kritisch in den Blick.

Der Kulturraum Zoo

Von den brutalen Geschehnissen im Zoo erfahren die Leser:innen abwechselnd aus der Perspektive der menschlichen Protagonistin und aus der Sicht eines im Zoo lebenden Vielfraßes. Die beiden Erzählstränge sind anfangs zeitlich versetzt: Während der Zoo in den Erzählungen des menschlichen Ichs bereits verwahrlost erscheint und abgesehen von der Erzählerin auch kein Personal mehr anwesend ist, schildert das tierische Ich die Zeit unmittelbar davor, in der die Menschen sich immer seltener sehen lassen und das Futter folglich immer knapper wird. Durch diese Schilderungen macht Fjeldbraaten den Kulturraum Zoo als Wohlstandsphänomen lesbar, das in Krisenzeiten aus der menschlichen Wahrnehmung verschwindet. In zahlreichen Rückblenden im Erzählstrang der Protagonistin werden zugleich kommerzielle Interessen problematisiert – ethischen Grundsätzen wie Tierwohl und Artenschutz kommt schon in Zeiten des Friedens eine untergeordnete Rolle zu, denn in den Erinnerungen der Protagonistin werden Tiere, die die Gäste nicht häufig genug besuchen, schlichtweg geschlachtet, und seltene Leihgaben anderer Zoos verkümmern an dem schmutzigen Wasser und dem schlechten Futter im Zoo des Romans. Sogar zwei der Rebell:innen erweisen sich in dieser Hinsicht ironischerweise als empathischer, als sie einem bereits angeschossenen Elch den Gnadenschuss geben – immerhin setzt das dem Leben des Tieres nicht bloß aus reinem Überdruss ein Ende.

Sprachreflexionen

Die oben erwähnte Parallelisierung des menschlichen und des tierischen Ichs wird bereits auf den ersten Seiten des Romans angedeutet, wenn man erfährt, dass es sich bei beiden Figuren um Außenseiter:innen handelt – die junge Frau ist wegen ihrer Beeinträchtigung häufig Hänseleien ausgesetzt und der Vielfraß wird von den anderen Tieren im Gehege aufgrund einer Schwellung an der Pfote verstoßen. Eine Ähnlichkeit wird aber auch dadurch suggeriert, dass der menschlichen Figur tierähnliche Eigenschaften zugeschrieben werden, während der Vielfraß anthropomorphe Züge erhält. So fallen der Protagonistin an mehreren Stellen Ähnlichkeiten des eigenen Verhaltens mit dem der Hauskatzen ihrer verstorbenen Mutter auf. Das Tierische prägt jedoch nicht nur ihre Eigenwahrnehmung, sondern wird ihr auch von anderen Figuren attestiert: Ihre Mutter vergleicht sie in einer Erinnerung etwa mit Pandabären, da deren Augen sich sehr ähnelten.

Während das Animale bei der Protagonistin insbesondere über Selbst- und Fremdwahrnehmungen impliziert wird, ist die Personifizierung des Vielfraßes an etwas anderen Textverfahren erkennbar: Der Vielfraß wird bereits dadurch vermenschlicht, dass er aus der Ich-Perspektive erzählt und damit in der Lage ist, Informationen sprachlich zu fassen, zu selektieren und zu strukturieren; teils analysiert er sogar das Verhalten der anderen Vielfraße im Zoo und fällt damit gänzlich aus der Rolle eines Tieres. Diese semiotische Befähigung des Vielfraßes wird im Text auffälligerweise durch einen sprachgeschichtlichen Blick auf die Bezeichnungen „Vielfraß“ im Deutschen und „fillefrans“ im Norwegischen ergänzt. An mehreren Stellen des Romans thematisiert die Protagonistin den Namen des Tieres, das sie als „fillefrans“ bezeichnet.

[I] bøkene lærte jeg at på tysk kaller de jerven for „Vielfraß“ som betyr storeter. Og, leste jeg, det tror jeg var på internett, at det var fra Vielfraß vi i Norge hadde laga ordet fillefrans som jeg syntes var passende på jerven med foten og både Veterinær-Mari og Erling syntes det var et fint navn som vi godt kunne bruke på ham, så nå gjør nesten alle i dyreparken det. (S. 52)

Aus den Büchern lernte ich, dass man das Tier [jerv, dt. „Vielfraß“] im Deutschen „Vielfraß“ nennt. Und, das las ich im Internet, glaube ich, dass wir vom deutschen „Vielfraß“ in Norwegen das Wort „fillefrans“ ableiteten, was ich für das Tier [jerv] mit der Pfote passend fand, und sowohl die Tierarzt-Mari als auch Erling fanden, Fillefrans sei ein schöner Name, der sich gut für ihn eignen würde, sodass ihn jetzt auch fast alle im Tierpark so nennen.

Das Tier erhält an dieser Stelle gleich drei verschiedene Bezeichnungen und damit verbundene Bedeutungen: Dem zunächst wertneutralen und im Norwegischen gängigsten Begriff „Jerv“, das laut etymologischem Wörterbuch vermutlich vom germanischen „*erba-“ für „braun“ abgeleitet ist und auf die dunkle Farbe des Pelzes referiert, folgen zum einen der Kosename „fillefrans“ und zum anderen ein Hinweis auf die Wortherkunft dieses Kosenamens, der im Roman mit dem deutschen „Vielfraß“ in Verbindung gebracht wird. Bei dem deutschen Wort handelt es sich – so ist es zwar nicht dem Roman, jedoch etwa dem Duden zu entnehmen – um eine inkorrekte Verwendung der norwegischen dialektalen Form von „fjeldfross“, das mit „Bergkater“ übersetzt werden kann. Als „fillefrans“ wird im Norwegischen wiederum eine verwahrloste Person oder ein Landstreicher bezeichnet. Beinahe überladen an Bedeutungen wird das Tier hier also lesbar als Spezies, die einen eindrücklichen braunen Pelz trägt, nimmersatt ist und an lumpig gekleidete Herumtreiber oder Katzen erinnert. Hinter Letzterem verbirgt sich im Übrigen auch ein textinterner Verweis auf den Tod der Mutter, die nach ihrem Ableben von den Hauskatzen angefressen wird, – auch der Vielfraß des Romans ist, da das Futter schließlich immer knapper wird, dem Menschenfleisch nicht abgeneigt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Zootiere wegen des ebenso billigen wie spärlichen Futters zunehmend verwahrlosen, wirkt der Name „fillefrans“ mitsamt seiner sozioökonomischen Dimension ebenso passend wie ungewollt zynisch von der Protagonistin.

Dennoch wird das Tier mit vielen Namen belegt – im Gegensatz zu der menschlichen Protagonistin selbst, deren Name im Roman unerwähnt bleibt. Die Leser:innen erfahren lediglich, dass sie den Wunschnamen ihres Vaters – vermutlich wegen der Behinderung – nicht erhalten hatte. Nur ein weiteres Mal wird im Roman ihr Name thematisiert: Bei einem Besuch auf dem Hof einer Betreuerin, die sie aus dem Wohnheim kennt, werden einige Lämmer, bei deren Geburt die Protagonistin hilft, nach ihr benannt. Das Kapitel endet dann damit, dass die Lämmer von der Familie verspeist werden.

Sowohl in den Schilderungen über den Vielfraß als auch in denen über die menschliche Protagonistin werden verschiedene Ausformungen der Macht deutlich, die von der sprachlich-symbolischen Ordnung einer Kultur ausgehen, die als ebenso menschenzentriert wie latent behindertenfeindlich begriffen werden kann: Das Geschichts- und Trivialwissen über den Vielfraß, das die Protagonistin Büchern und Internetseiten entnimmt, bilden ein Konglomerat aus historischen Prozessen des Erschließens, Klassifizierens und (Um-)Deutens von Naturräumen ab, wie es etwa in der frühen Neuzeit Olaus Magnus und in der Aufklärung Carl von Linné praktizierten. Dabei verleugnet der Roman aber auch nicht seine eigene Verfasstheit als textuelles Medium, das stets in ein kulturell gewachsenes Wissen über Tiere eingebunden ist – ein Beispiel hierfür ist der Hunger des Vielfraßes auf Menschenfleisch, über den schon der erwähnte Olaus Magnus schrieb. In seinen Historien der mittnachtigen Länder (1562, dt. Ausgabe 1567) betont dieser den nimmersatten Appetit des Vielfraßes, der es nicht zuletzt auf Menschen abgesehen habe. Im Vergleich hierzu wird der menschlichen Protagonistin kaum eine symbolische Repräsentation zuteil, da ihr Name aus einer Negation – einer Verweigerung von väterlicher Zuneigung – resultiert und an Tiere weitergegeben wird, um in einem letzten Schritt einer aggressiven Zerstörung durch den Verzehr ebendieser Tiere zu unterliegen.

Grenzmarkierungen und -auflösungen zwischen Mensch und Tier

Tiere und beeinträchtige Personen werden im Roman immer wieder und sehr deutlich als soziale Außenseiter:innen markiert, die unter der Herrschaft der Rebellierenden besonders vulnerabel erscheinen. Durch ihre Uniformen und vereinzelte Begründungen ihrer Tötungen mit der Intention, leidende Tiere euthanasieren zu wollen, erinnern die Rebellierenden dabei teils an den Nationalsozialismus des zweiten Weltkrieges. In einer Passage des Romans mischen sich Fragen der Spezieszugehörigkeit mit solchen der geistigen Beeinträchtigung: Weil sie hungrig ist, schleicht sich die Protagonistin zu einem Kiosk des Zoos, wo sie Getränke, Burger und Würste findet. Nicht lange später klopfen zwei Rebellen an die Tür und die Protagonistin versteckt sich unter einer Theke, bevor sie in den Raum gelangen. Als einer der beiden ihr allerdings zu nahekommt, beißt sie ihm ins Bein. Bereits zuvor wird an einigen Stellen beschrieben, dass die Protagonistin wegen ihrer Behinderung häufig unvernünftig und aus dem Affekt heraus handelt, insbesondere wenn sie Hunger, Angst oder Wut empfindet. Vor allem während der Begegnung mit den Rebellen wird sie dabei als tierähnlich geschildert:

Mannen med beinet fortsetter å skrike. Det er et beist, hun beit meg! Skyt henne! Jeg snerrer mot dem, glefser etter beinet igjen. Ser du ikke, hun er jo ikke normal, skyt henne! Skriker han igjen. Han har løfta opp buksa, han blør fra beinet. Det er lyserødt og renner fort ned mot skoene hans. Se da, for faen. Jeg kommer til å få infeksjoner og rabies! Den andre løfter geværet mot meg, men ser usikker ut. Skyt henne, skriker mannen om igjen og om igjen. Høyere og høyere. Jeg freser. Det der er jo faen ikke et menneske engang! (S. 104f)

Der Mann mit dem Bein schreit weiter: „Das ist ein Biest, sie hat mich gebissen! Erschieß sie!“ Ich knurre sie an, schnappe ein weiteres Mal nach dem Bein. „Siehst du das nicht, sie ist doch nicht normal, erschieß sie!“, schreit er wieder. Er hat die Hose hochgezogen und blutet am Bein. Das Blut ist leuchtend rot und rinnt herab zu seinen Schuhen. „Schau doch, verdammt. Ich bekomme Infektionen und Tollwut!“ Der andere hebt das Gewehr gegen mich, sieht jedoch unsicher aus. „Erschieß sie“, schreit der Mann immer und immer wieder. Lauter und lauter. Ich fauche. „Verdammt, das ist ja noch nicht einmal ein Mensch!

Der Protagonistin gelingt es zu flüchten. Sie rennt in ein Wäldchen, das noch zum Zoogelände gehört und in dem sich auch das Gehege der Vielfraße befindet. Hier angekommen findet sie den abgemagerten Fillefrans als einziges noch lebendes Tier des Rudels vor. Die Protagonistin, die sich mittlerweile ihres eigenen animalen Verhaltens bewusst geworden ist, beginnt nun, sich der eigenen Menschlichkeit zu vergewissern. Das geschieht zum einen über das Erinnern an Erlebnisse mit den Hauskatzen in ihrer Kindheit und über ein reflexives Verarbeiten der Geschehnisse im Kiosk, zum anderen aber auch über die Sorge um den halbtoten Vielfraß, den sie nun gesundpflegen möchte.

Mit dieser erneuten Menschwerdung der Protagonistin mittels kognitiver Prozesse verbindet sich auf den ersten Blick eine Unstimmigkeit im Roman, die sich bei genauerer Betrachtung jedoch als fruchtbar erweist, da durch sie ethische und anthropologische Problemstellungen zutage treten: Wenn Menschlichkeit an geistige Leistungen wie Selbstreflexion oder die Fähigkeit, für andere Sorge zu tragen, gebunden ist, drängt sich die Frage auf, ob das nicht im Gegenschluss auch all jenen die Humanität abspricht, die hierzu, etwa aufgrund schwerer Behinderungen, nicht in der Lage sind. Seine eigene Logik unterläuft der Roman jedoch bereits, wenn er die Frage nach dem spezifisch Humanen von vornherein verwirft, indem das Reflektieren und Erinnern als Fertigkeiten nicht dem Menschen vorbehalten bleiben – schließlich ist auch der Vielfraß zu beidem in der Lage. Die Verschränkung von geistiger Behinderung mit Animalität in Jerv mag vielleicht, wie weiter oben erwähnt, provokant sein; Fjeldbraaten gelingt es mit solchen Passagen jedoch, sie für die zentralen ethischen Fragestellungen des Romans produktiv zu machen.

Neben Speziesgrenzen hebelt der Roman außerdem humanitäre Werte als Grundpfeiler eines aufgeklärten Wohlfahrtsstaates aus, denn die Protagonistin bleibt im Roman die einzige, die sich um andere zu kümmern scheint: Die weiter oben erwähnte Heimbetreuerin verschwindet etwa nicht spurlos, sondern kündigt ihr Fortgehen, wie man zum Ende des Romans erfährt, in beinahe schadenfroher Manier schon einige Tage zuvor an; und nicht erst angesichts der Krisenlage erweisen sich die Figuren als sadistisch; in Erinnerungen der Protagonistin ist von Jägern zu lesen, die ihre Beute langsam ausbluten lassen, von Pförtnern im Heim, die sich nachts SM-Pornos anschauen, oder von Heimbetreuern, die die noch kindliche Protagonistin sexuell misshandeln. Humanitarismus und Empathie als (vermeintliche) Sonderstellungsmerkmale des Menschen sind in Fjeldbraatens Jerv also höchst fragile Konstrukte sozialer Ordnungen, die in Zeiten des Friedens bereits bröckeln und in Krisensituationen zusammenbrechen. Sowohl zwischenmenschliche als auch speziesübergreifende Verhältnisse werden im Roman stattdessen als quasi-parasitäre Bindungen erzählt, die nicht selten auf eine bloße Befriedigung basaler Triebe des Stärkeren reduziert erscheinen.

Von dieser Regel bilden auch die Interaktionen zwischen der Protagonistin und Fillefrans im Übrigen keine Ausnahme. Bei der Darstellung der Beziehung beider Figuren zueinander bedient sich die Autorin einer kurzen Geschichte aus Plutarchs Lykurgos: Ein junger Spartaner habe sich einmal von einem Fuchs fressen lassen, den er unter seiner Kleidung verborgen hielt und zuvor gestohlen hatte, da er, wie bei der Erziehung der Jungen in Sparta durchaus üblich, nur spärlich zu essen bekam. Den Diebstahl jedoch wollte er nicht zugeben, weil er hierdurch seine Ehre bedroht sah. Die Protagonistin aus Jerv missversteht die Geschichte jedoch und verklärt sie damit zugleich: Der Junge habe sich den Fuchs als Haustier gehalten und die Geschichte sei ein Zeugnis rückhaltloser Zuneigung des Kindes zu dem Tier. Indem sie diese Lesart nun mit ihrer Beziehung zu dem Vielfraß analogisiert, projiziert sie ihre eigenen Sehnsüchte nach Zuneigung und Anerkennung auf das Tier, verkennt dabei allerdings dessen Bedürfnisse als Raubtier. In dieser Fehlinterpretation deutet sich folglich eine unüberwindbare Kluft zwischen Mensch und (Raub-)Tier an; zugleich verweist die Geschichte in ihrem ursprünglichen Sinn auf das Ende des Romans von Fjeldbraaten: Für den inzwischen befreiten Vielfraß muss die Protagonistin als Futter herhalten.

Ida Fjeldbraaten: Jerv, Oslo: Cappelen Damm, 2020

(Maja Martha Ploch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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