Aneignung

Der Zweite Weltkrieg boomt. In den letzten zehn Jahren hat er für das fiktionale Erzählen in allen seinen Spielarten vom Roman zur graphic novel, vom Theater- zum Computerspiel, von der Streaming-Serie zum Instagram-Projekt wieder enorm an Attraktivität gewonnen. Über die Gründe kursieren verschiedene Erklärungsmuster. Zunächst einmal die eher hoffnungsvolle Variante, die dem Erzählen einen ethischen Impetus unterstellt: Da die Generation, die den Krieg noch aus eigener Anschauung erlebt hat, nun abtritt, brauche es neue Formen des Erinnerns. Der Verlust von Authentizität müsse aufgefangen werden, damit das reale Grauen nicht in eine mythische Vergangenheit ohne Bezug zur Gegenwart absinke. Ein anderer, weniger hoffnungsvoller Ansatz erklärt den Boom dadurch, dass diese Mythisierung bereits vollzogen sei. Der ‚plot‘ und das ‚Inventar‘ an ‚Figuren‘ und ‚Schauplätzen‘, den das dunkle ‚Kapitel‘ der Jahre 1939 bis 45 bereithält, seien bereits derart ins kulturelle Archiv entrückt, dass sie ein Reservoir bieten, aus dem sich unzählige Spin-offs mit guter Aussicht auf erfolgreiche Vermarktung generieren lassen. Die Zeitgeschichte unterscheide sich in dieser Hinsicht nicht von den Avengers des Marvel-Universums. Mit den vorproduzierten Schablonen des kulturellen Archivs lasse sich nicht nur effektiv Geld machen, sie rechtfertigen auch jede Schweinerei, etwa einen Krieg gegen „eine Bande von Drogenabhängigen und Neonazis“. Sorgt sich der erste Ansatz um den Verlust von authentischem Erzählen, setzt der zweite seine Hoffnung auf ein verfremdetes Erzählen, das die Wahrnehmung entschleunigt, um sie so zu entautomatisieren.

Mit seinen letzten drei Romanen Døden i arbeid (2020, Der Tod an der Arbeit), Anne F. (2021) und zuletzt Den lille mannen fra Argentina (2022, Der kleine Mann aus Argentinien) bedient der norwegische Autor Kristian Klausen in gewisser Weise beide Ansätze.

Klausen schrieb die Romane um drei wohlbekannte Personen herum, die – je auf ihre Weise – mit dem Holocaust verbunden sind. Døden i arbeid widmet sich zwei Vertreter:innen des amerikanischen abstrakten Expressionismus, Mark Rothko und Agnes Martin. Rothko floh als Zehnjähriger mit seiner Familie vor den antisemitischen Pogromen des zaristischen Russlands in die USA, wo er sich bereits in den 1940ern in seinen Bildern mit dem Holocaust auseinandersetzte.

Die Hauptperson des zweiten Romans Anne F. ist Otto Frank, der Vater der titelgebenden Anne Frank, die im Juni 1942 – also vor genau 60 Jahren – angefangen hat, ihr Tagebuch zu schreiben, kurz bevor sie sich im Juli mit ihrer Familie in der Prinsengracht 263 in Amsterdam vor den Nazis verstecken musste; die Geschichte ist bekannt, das Tagebuch wurde für die Bühne und mehrfach für den Film, zuletzt schließlich als gelungene graphic novel (2017 von Ari Folman und David Polonsky) adaptiert: Das Versteck flog 1944 auf, Anne wurde deportiert und starb im KZ an Auszehrung und Krankheit. Otto Frank überlebte als einziger der Familie das Lager und widmete den Rest seines Lebens der Verbreitung des Tagebuchs seiner Tochter.

Hinter dem kleinen Mann aus Argentinien des dritten Romans versteckt sich schließlich der Ingenieur des Holocausts, Adolf Eichmann, der 1950 in Argentinien untertauchte, 1960 vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad aufgespürt und entführt, in Jerusalem öffentlich vor Gericht gestellt, verurteilt und gehängt wurde – und der durch Hannah Ahrendts Buch Eichmann in Jerusalem (1963) zu der Reflexionsfigur schlechthin wurde, anhand derer man die Banalität des Bösen und die Gewissenlosigkeit des Schreibtischtäters diskutiert.

Mark Rothko, Otto und Anne Frank sowie Adolf Eichmann – allesamt Persönlichkeiten, die das Dilemma des Postmemorialen verkörpern. Als historische Persönlichkeiten sollen sie für die Generationen ‚danach‘ das Begehren nach Authentizität befriedigen; doch sie sind zu Ikonen geworden, zu Kultbildern, standardisiert und formelhaft. Für Anne Frank und Adolf Eichmann gilt das in besonderer Weise. Hat man an Eichmann die Vorstellung eines „repräsentativen Täters“ (Dana R. Villa) diskutiert, könnte man in Anne Frank das repräsentative Opfer erkennen. Doch Klausen liefert keine historischen Romane, keine gut recherchierte Dokumentarliteratur. Vielmehr legt er eine – wie er es nennt – „kontrafaktische Phantasie“ („kontrafaktisk fantasi“, S. 175) vor. Mit dieser Formulierung unterstellt er eine Parallele zur kontrafaktischen Geschichtsschreibung: Seit den 1990er Jahren versuchen einige Historiker:innen einen Erkenntnisgewinn über den tatsächlichen Geschichtsverlauf dadurch zu provozieren, dass sie in ihrer Erzählung ein Detail der Realität ändern, um von diesem neuen Szenario aus einen alternativen Verlauf der Dinge zu imaginieren. Die Abweichung erlaube ein klareres Verständnis für die Bedingungen des Tatsächlichen. Eines der ersten Gedankenexperimente etwa war eine Studie, in der sich Robert Fogel bereits 1964 die Frage stellte, wie sich die Wirtschaft der USA ohne den Bau der Eisenbahn entwickelt hätte.

Klausen nun setzt als kontrafaktische Grundprämisse, dass die Hauptfiguren seiner drei Romane in der kleinen norwegischen Stadt Drammen – 102.000 Einwohner:innen, 41 Kilometer südöstlich von Oslo gelegen – leben. Rothko wird nicht in New York zum abstrakten Expressionisten, sondern in Drammen; Anne Frank wächst nicht in Amsterdam auf, sondern in Drammen; und Eichmann wird nicht vom Mossad verhaftet, sondern taucht in Drammen unter.

Die Handlung des neuesten Romans Den lille mannen fra Argentina setzt also damit ein, dass Mitte Juni 1960 „ein kleiner Mann mit Adlernase und Hornbrille, der sich Richard Borch nannte“ („en liten mann med fuglenebbnese og hornbriller som kalte seg Richard Borch“ S. 25), in die Konnerudsgata 10 d einzieht; er wohnt dort zwei Stockwerke unter der zweiten Hauptperson des Romans, Martha Dreyer, der Witwe eines Fahrschullehrers. Auch wenn dort mittlerweile ein neues Gebäude steht, lässt sich die Lage der Wohnung leicht über Google streetview identifizieren, so wie alle anderen Orte, Plätze und Straßen des Romans.

Der Name Eichmann fällt erst auf den letzten 30 Seiten, aber es genügt, das Jahr 1960, Buenos Aires und seine Angst vor dem Mossad zu nennen, um Borch gleich bei seinem ersten Auftritt mit dem Organisator des Holocausts zu identifizieren. Eichmann/Borch hat seine Familie in Südamerika zurückgelassen und finanziert sich zunächst über den Verkauf von seltenen Briefmarken. Bald arbeitet er in der Nachtschicht einer Papierfabrik und gibt sich als Österreicher aus, der früh aus Abneigung gegen die Nazis nach Argentinien ausgewandert und jetzt aus Sehnsucht nach Europa zurückgekehrt sei. Martha Dreyer hat vor einem Jahr ihren Ehemann begraben und beendete damit eine Ehe, die sie als gescheitert betrachte. 1948 verursachte ihre Kinderlosigkeit einen psychischen und physischen Zusammenbruch, der sie allerdings mit einer gewissen Inkubationszeit zur literarischen Autorin macht: Zunächst schrieb sie nur Tagebücher, doch nach einiger Zeit begann sie, aus den persönlichen Aufzeichnungen Formulierungen und Konstellationen zu kondensieren, die sie zu Novellen umformt. Drei Bände hat sie bisher herausgegeben, die ökonomisch nicht sonderlich viel abwerfen, aber hier und da von der Kritik gelobt werden.

Dass sich die beiden Hauptfiguren ineinander verlieben, hat eine erzählerische Funktion. Klausen muss motivieren, warum sich in Eichmann etwas öffnet, das seinen wohlgeschnürten mentalen Panzer der Verteidigung zerbricht, den er sich für den Fall einer juristischen Anklage zugelegt hat: Er sei doch nur ein Rad im Getriebe, ein Befehlsempfänger gewesen, der ausschließlich verwaltet habe, was andere entschieden. Hier liegt vielleicht das wirklich Kontrafaktische, denn in Hannah Arendts Buch wirkt Eichmann wie eine Person, der die Idee eines Gewissens völlig fremd ist, eines Gewissens, das sich nicht im Begriff der Pflicht von Befehlsempfängern erschöpft. Klausen dagegen stattet seine Figur mit Schuldgefühlen aus, die durch die intime Begegnung mit Martha Dreyer endlich freigesetzt werden und dann u.a. durch eine Begegnung mit Rothko und seiner ‚entarteten‘ Kunst sowie mit dem Tagebuch der Anne F. stetig wachsen. Dabei überschreibt das Schuldgefühl Borchs Wahrnehmung von Drammen Stück für Stück: Eine Flasche Calvados ruft die Normandie auf; die Zigarettenmarke Salem rückt Jerusalem ins Bewusstsein (S. 62-3); der Friedhof von Strømgodset kirke mit seinen etwa 2.500 Gräbern wird der Vergleichspunkt für das Ausmaß seiner Schuld. „Har du ansvaret for en hel slik kirkegård? / Og ikke bare den?“ (S. 119 – „Hast Du die Verantwortung für einen ganzen Friedhof wie diesen? / Und nicht nur für den einen?“). Am deutlichsten wird die Überschreibung der Stadt an der Skulpturengruppe De tre bydeler (Die drei Stadtteile) von Per Hurum, die Klausen auch schon in den früheren Romanen als Reflexionsort seiner Figuren einsetzt.

Bildquelle: https://drammenshistorie.no/bydeler.shtml

Es handelt sich dabei um drei nackte Frauen, die sich an den Händen halten, Rücken an Rücken stehen und in unterschiedliche Richtungen blicken. Als sie 1952 im Zentrum eines Kreisverkehrs auf dem Strømsø Torg aufgestellt wurden, sollten sie die Freundschaft und den Zusammenhalt der drei Stadtteile Bragernes, Strømsø und Tangen repräsentieren. Doch als Borch die drei dunkelgrünen Bronzefrauen sieht, „wollte er nicht daran denken, woran sie ihn erinnerten, wie viele Frauen, Mütter, Mädchen hatte er, mit seinem Stift, genauso nackt in das geschickt, was wie eine Dusche war“ („ville [han] ikke tenke på hva de minnet ham om, hvor mange kvinner, mødre, jenter, hadde han, med sin penn, sendt, akkurat så nakne, inn i det som liksom var en dusj“ – S. 113).

Letztlich hat Kristian Klausens „kontrafaktische Phantasie“ wenig mit den Methoden der kontrafaktischen Geschichtswissenschaft zu tun. Es geht nicht darum, Konsequenzen aus dem Eingriff in den Verlauf zu rekonstruieren, sondern das allgemein kursierende Wissen, das über Figuren des kulturellen Archivs in Umlauf ist, in den Roman zu ziehen und dort zu verfremden, um es so – als kulturelles Wissen – sichtbar zu machen. Deshalb ziehe ich auch eine andere Assoziation vor, mit der Klausen sein Projekt beschreibt. In einem Interview erinnert er an eine Praxis der Bildgebung, die man aus der Malerei vieler Jahrhunderte kennt: Dort wird das lange zurückliegende Geschehen der Evangelien immer wieder in den Kontext der Gegenwart gerückt, wenn etwa Matthias Grünewald die römischen Soldaten, die an der Geißelung Jesu beteiligt sind, wie Landsknechte des 15. und 16. Jahrhunderts einkleidet. Das Bild wird damit in gewissem Sinn entlastet, da sich die Authentizität nun nicht auf die angemessene Darstellung der Vergangenheit bezieht, sondern auf die Reaktion des zeitgenössischen Betrachters, der seine Welt im Bild wiederfindet. So wirkt auch die Neukontextualisierung im Fall von Klausens Schreibprozess: „Jeg skrev meg inn i Otto Frank, blander meg sjølv inn“ („Ich schrieb mich in Otto Frank ein, mischte mich selbst ein“), sagt er über die Hauptfigur des zweiten Bandes. Aber auch für Den lille mannen fra Argentina gilt, dass Klausen „en slags fusjon mellom meg og mitt og den historiske skickelsen“ („eine Art Fusion von mir und dem Meinem und den historischen Gestalten“) erschafft.

Als Lesende:r fragt man sich unweigerlich, wie man sich zu dieser Mischung verhalten soll, wenn es nicht ein trauernder Vater, sondern das banal Böse ist, mit dem sich der Autor da mischt und fusioniert. Darf er sich in die Psyche eines bösen Menschen (hin)einmischen und seinen Leser:innen anbieten, im Leseakt dasselbe zu tun? Entlasten wir Eichmann nicht, wenn wir ihn mit uns identifizieren – im ganz wörtlichen Sinn von idem facere -, ihn zum selben machen, zu einem von uns, zu einem Menschen, dem man zugesteht, dass er unter einem schlechten Gewissen leidet? Der eine Geschichte hat, die ihn zu dem machte, was er ist? Den man verstehen kann? Nehmen wir ihn dadurch wieder in die Gemeinschaft der Menschheit auf? Oder verbietet sich diese Humanisierung angesichts von sechs Millionen getöteten Juden und Jüdinnen? „Selv om de henrettet meg hver dag i 2000 menneskeår, ville det likevel gjenstå ubegripelige mengder henrettelser, 365 per år, før jeg hadde begynt å utligne noe.“ (S. 164 – „Selbst wenn sie mich 2000 Menschenjahre lang jeden Tag hinrichten würden, würden trotzdem unbegreifliche Mengen an Hinrichtungen übrigbleiben, 365 pro Jahr, bevor ich überhaupt angefangen hätte, etwas auszugleichen“) Da das Aus-gleichen der Schuld unmöglich ist, sollte auch das An-gleichen Eichmanns an uns, den Autor und seine Leser:innen undenkbar sein – und zwar nicht, weil wir meinen, besser zu sein, sondern weil man seine Taten vereinnahmt, heimisch macht, aus dem Bereich des Tabus und des Abjekten holt, wenn man sie durch eine familiäre Konstellation oder durch Druck der Vorgesetzen, durch psychische Labilität usw. kausal herleitet.

In Klausens Verfahren der Annäherung durch Verfremdung verquicken sich also ästhetische und moralische Fragen. Entsprechend flankiert er Eichmanns zweifelhafte ‚Menschwerdung‘ mit einer Vielzahl von Passagen, die Kreativität und Kunst reflektieren: Martha Dreyers Schreibhemmungen, die Begegnung mit dem abstrakten Expressionismus, mit Cy Twomblys Fifty days at Iliam, mit Homer und Shakespeare als imaginären Gesprächspartnern, mit den Krimis von George Simenon, die die einzige Lektüre von Borch ausmachen. Simenons Le Petit Homme d’Arkhangelsk von 1956 kommt eine besondere Rolle zu. Zum einen – und das liegt auf der Hand – hat er den Titel von Klausens Roman inspiriert. Zum zweiten überführt Klausen Simenons Hauptfigur, einen Juden, der ein Antiquariat besitzt und mit Briefmarken handelt, in Kapitel 8 ebenfalls nach Drammen. Zum dritten aber – und das ist entscheidend – spricht Klausen am Beispiel dieses Krimis mehr oder weniger direkt die Frage aus, ob es legitim ist, einen Menschen, der sich außerhalb der Humanität gestellt hat, nachvollziehbar zu machen oder ob eine solche Aneignung nicht viel eher unerhört, blasphemisch, tabu sein müsse – nur dass Klausen hier die Vorzeichen ändert: Der Autor wird zum Leser, der Täter zum Opfer – der Vorgang der Mischung bleibt derselbe. Borch liest nämlich Simenons Roman und – zu seinem Schrecken – verschmilzt im Lesen mit der Hauptfigur:

„Han hadde – kanskje for første gang i sitt liv – fullstendig identifisert seg med en jøde. Og det hadde skjedd: i en roman. Hovedpersonen i boka var av jødisk slekt. Denne identifiseringen, det var noe nesten blasfemisk, utenkelig, i alle fall etter det han hadde drevet med, en grense var overskredet“ (S. 73)

„Er hatte sich – vielleicht das erste Mal in seinem Leben – vollständig mit einem Juden identifiziert. Und dies geschah: in einem Roman. Die Hauptperson im Buch war von jüdischer Herkunft. Diese Identifizierung, das war etwas fast Blasphemisches, Undenkbares, auf jeden Fall nach dem, was er alles getrieben hatte, eine Grenze war überschritten“.

Und so kann man vielleicht sagen, dass Den lille mannen fra Argentina an einem Extremfall die ästhetischen, aber auch die moralischen Grenzen der Vorstellung reflektiert. Wieviel Appropriation (der Opfer und der Täter) steckt in jeder Imagination?

Klausen, Kristian: Den lille mannen fra Argentina. Oslo: Cappelen Damm 2022.

(Joachim Schiedermair, Ludwig-Maximilians-Universität München)

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