Formen des (Ver)Schweigens

Ann-Helén Laestadius ist bisher vor allem als Journalistin und Kinder- und Jugendbuchautorin von u.a. SMS från Soppero (2007) und Tio över ett (2016) bekannt. Mit Stöld (2021, dt. Das Leuchten der Rentiere, übersetzt von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt) hat sie nun ihren ersten Roman für ein erwachsenes Publikum vorgelegt.

Der Roman verhandelt die Situation der Sámi in Schweden und greift dabei eine ganze Bandbreite von Themen auf, mit denen die indigene Bevölkerung im Norden zu kämpfen hat: von der existentiellen Bedrohung durch den Klimawandel bis zu den Folgen der Zwangsumsiedlungen der Sámi. Es ist ein Buch über Identität, über Trauma, Depression, Suizid, Trauer, Einsamkeit und Alkoholismus; zugleich entwickelt es sich nebenbei auch zu einer Kriminalgeschichte.

Im Mittelpunkt steht der Hass, mit dem die Sámi alltäglich konfrontiert werden und der sich im Roman unter anderem in der gezielten Quälerei und Tötung ihrer Rentiere ausdrückt, sich aber längst nicht darauf beschränkt. Sowohl online als auch offline sind sie Hasskommentaren und Beleidigungen ausgesetzt, die teilweise auch in gewalttätige Übergriffe übergehen.

Ska man ha sådana rättigheter ska man fan leva på skogen och renarna där och inte vara på LKAB [Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag] och håna hela samhället med alla bidrag en jävla människa kan få. Lösningen blir att skjuta det man ser, inga renar=inga rättigheter. (S. 322)

Wenn man dieses Recht für sich beansprucht, sollte man auch vom Wald und den Rentieren leben und nicht bei LKAB [Abkürzung für das schwedische Bergbauunternehmen Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag] arbeiten und die Gesellschaft verarschen, indem man sämtliche Sozialleistungen abgreift, die es gibt. Die Lösung lautet alles abzuschießen, was einem vor die Flinte kommt. Keine Rentiere = keine Sonderrechte. (S. 326)

Vor dem Hintergrund dieser Aggressionen wird die Geschichte von Elsa und ihrer Familie erzählt, die von der Rentierzucht lebt: Als neunjähriges Mädchen wird Elsa Augenzeugin, wie ein Mann aus der Nachbarschaft ihr Rentierkalb Nastegallu tötet. Der Täter schüchtert sie so ein, dass sie sich nicht traut, jemandem von ihrer Beobachtung zu erzählen. Stattdessen behauptet sie, nichts gesehen zu haben. Hin- und hergerissen zwischen Gewissensbissen – man soll nicht lügen, hat die Oma ihr eingeschärft – und der Angst vor dem Täter sucht sie nach Orientierung, die sie aber weder bei ihrer einzigen Freundin Anna-Stina noch bei den Erwachsenen in ihrer Familie findet.

Unterdessen tötet der Täter, der längst nicht mehr allein handelt, weitere Rentiere der Sámi-Familien der Gegend, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Denn da das Töten von Rentieren strafrechtlich nur als Diebstahl verfolgt wird, wird den Fällen nur eine niedrige Priorität eingeräumt, und sämtliche Ermittlungen werden nach kurzer Zeit eingestellt. Obwohl alle wissen, wer für die Übergriffe verantwortlich ist, geschieht nichts. Die Polizei, so scheint es, hat kein Interesse an einer Aufklärung, sodass sich immer wieder der Verdacht aufdrängt, sie würde mit den Tätern sympathisieren.

Tradition, Tabu und Trauma

Der Roman ist in drei Teilen angelegt. Im ersten wird zunächst vermittelt, wie die kindliche Protagonistin mit dem Hass gegen die Sámi konfrontiert wird, bevor sie dann im zweiten und dritten Teil als junge Frau versucht, diesen Anfeindungen etwas entgegenzusetzen, indem sie die Öffentlichkeit sucht und Druck auf die Polizei ausübt.

Bei diesem Versuch werden zugleich aber auch die Probleme innerhalb der samischen Gemeinschaft aufgedeckt: Während die starren patriarchalen Strukturen der Sámi fordern, dass jeweils der älteste Sohn die Rentierherde übernimmt, steht den Frauen innerhalb der Gemeinschaft nur die Rolle als Hausfrau und Mutter zu. Obwohl nur eine Minderheit der jüngeren Sámi mit ihrer jeweils zugeschriebenen Rolle zufrieden ist, begehrt einzig Elsa dagegen auf, übernimmt zentrale Aufgaben der Männer bei der Rentierhaltung und stellt die traditionelle Rollenverteilung immer wieder in Frage.

Det var inte det att hon som tjej inte fick vara med alls, alla i familjen behövdes till skiljningar, kalvmärkningar och slakt, men de hade förstås sina tydligt uppdelade roller, om gubbarna fick bestämma. Och det var den föreskrivit manliga rollen Elsa vill ha. Helt på egen hand. (S. 205)

Es war nicht so, dass sie als Mädchen überhaupt nicht mitmachen durfte, alle in der Familie wurden bei den Scheidungen, Markierungen der Kälber und beim Schlachten gebraucht, aber natürlich besaßen sie ihre klar verteilten Rollen, solange die Kerle das Sagen hatten. Und die vorgeschriebene Männerrolle war es, die Elsa haben wollte. Ganz auf eigene Rechnung leben und arbeiten. (S. 204)

Elsas besondere Rolle in der Gemeinschaft wird zusätzlich durch zwei weitere Zuschreibungen markiert. Da die Familie mütterlicherseits keine Rentierzüchter waren und sich aus der samischen Gemeinschaft zurückgezogen haben, wird auch die Zugehörigkeit Elsas immer wieder in Frage gestellt. Vor allem in der Schule wird sie von den anderen Kindern deswegen ausgegrenzt. Gleichzeitig werden ihr aber heilende Kräfte nachgesagt, die ihr Großvater (väterlicherseits) angeblich auf sie übertragen habe. Darüber darf aber nicht geredet werden und auch der Text hüllt sich – abgesehen von der Erwähnung dieser Zuschreibung durch die anderen Dorfbewohner:innen – in Schweigen über diese Kräfte.

Aus ganz anderen Gründen, aber dennoch genauso vehement, werden anfänglich die traumatischen Kindheitserfahrungen der Großmutter verschwiegen. Erst als die Großmutter im Alter an Demenz erkrankt und sich immer häufiger geistig in ihrer Kindheit befindet, wird das Trauma aufgedeckt, das die Gewalterfahrungen und das Verbot der samischen Sprache in der Schule bei ihr hinterlassen haben. ‚Jag kan inte prata svenska, jag kan inte‘, gnydde áhkku och gungade fram och tillbaka.” (S. 238) / „‚Ich kann kein Schwedisch sprechen, ich kann nicht‘, wimmerte Áhkku und schaukelte vor und zurück.“ (S. 241)

„Och då slår hon mig. Hårt. Här.” Áhkku la en hand på sitt bakhuvud. „Men kanske hon också river av mitt hår. Det får hon inte. Det är redan så tunt.” Hennes ögon tårades och hon klappade hårt på väskan igen. (S. 237)

„Und dann schlägt sie mich. Fest. Hier.“ Áhkku fasste sich mit der Hand an den Hinterkopf. „Aber vielleicht reißt sie mir auch die Haare aus. Das darf sie nicht. Die sind doch schon so dünn.“ Tränen traten in ihre Augen, und sie klopfte wieder fest auf ihre Tasche. (S. 240)

Psychische Gesundheit

Aus verschiedenen Perspektiven behandelt der Text die psychischen Probleme und Suchterkrankungen, von denen alle Figuren auf die ein oder andere Weise betroffen sind – sei es als Erkrankte oder als Angehörige oder Befreundete einer erkrankten Person. Anders als man zunächst vielleicht erwarten würde, beschränkt sich der Text hier nicht nur auf die Sámi, sondern geht auch auf die Suchtprobleme des Täters Robert Isaksson ein, der die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht anerkennt und sich im Alkoholrausch in Gewaltphantasien hineinsteigert.

Obwohl die Figuren über ihre Schwierigkeiten nicht reden (wollen), werden diese Probleme im Text wiederholt im Detail thematisiert und ihr Einfluss auf die Beziehungen der Figuren untereinander – auch im Hinblick auf den Generationenkonflikt – untersucht. Im Fokus stehen dabei unter anderem problematische Mutter-Tochter-Beziehungen wie die von Anna-Stina und ihrer Mutter Hanna. In einer medizinischen Notsituation fordert Anna-Stina Hanna auf, endlich ihre Mutterrolle einzunehmen, und bringt damit deren jahrelange geistige Abwesenheit endlich zur Sprache:

Men egentligen ville hon [Hanna] slita sig loss, öppna dörren, springa och aldrig se sig om igen. Det här klarade hon inte. Anna-Stina nöp hårdare tag om hennes händer och stirrade henne i ögonen. „Du måste vara min mamma nu! Du måste!” (S. 378)

Aber eigentlich wollte sie [Hanna] sich losreißen, die Tür öffnen, losrennen und nicht mehr zurückschauen. Dieser Situation war sie nicht gewachsen. Anna-Stina umklammerte ihre Hände noch fester und starrte ihr in die Augen. „Du musst jetzt meine Mutter sein! Du musst!” (S. 383)

Immer wieder verweisen die betroffenen Figuren darauf, dass es sich nicht lohne, Hilfe zu suchen – sie sei ohnehin nicht vorhanden. Doch auch wenn professionelle Hilfe nicht vor Ort, sondern weit weg in Norwegen zu finden ist, so kann sie am Ende – nachdem endlich offen über die Probleme gesprochen wurde – organisiert werden. Zumindest für einige Figuren besteht so am Ende Hoffnung auf Veränderung.

Die Situation der indigenen Gemeinschaft Schwedens hat in der schwedischen Literatur lange Zeit wenig Beachtung gefunden. In den letzten Jahren haben aber gleich zwei der Werke, die sich dieser Thematik widmen, sogar den renommierten Augustpris erhalten: Elin Anna Labbas Herrarna satte oss hit, 2020 (Rezension von Hannah Nüchtern am 3. Februar 2021 auf Neues Lesen) und Linnea Axelssons Aednan, 2018. Laestadius’ Beitrag kommt im Vergleich mitunter leider recht plakativ daher. Lesenswert ist der Roman aber dennoch, weil er nachvollziehbar macht, wie die Folgen der Zwangsumsiedlungen der Sámi, psychische Probleme, Fremdenfeindlichkeit und die Herausforderungen durch den Klimawandel ineinander spielen – und eben nicht zuletzt, weil ihr mit Stöld eine spannende Kriminalgeschichte gelungen ist.

Ann-Helén Laestadius: Stöld. Stockholm: Romanus & Selling, 2021.

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2022.

(Karolin Pohle, Universität zu Köln)

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