Innerhalb von wenigen Jahren ist der Norweger Per Petterson (geb. 1952) zu einem der international erfolgreichsten skandinavischen Gegenwartsautoren geworden. Seit er 2003 seinen Publikumsdurchbruch mit Ut og stjæle hester (dt. Pferde stehlen) erlangte, ist er in 49 Sprachen übersetzt worden und hat eine Vielzahl von literarischen Preisen erhalten, u.a den angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats für Jeg forbanner tidens elv (2009; dt. Ich verbanne den Fluss der Zeit). Auch sein jüngstes von mittlerweile neun Werken, der 2012 erschienene Roman Jeg nekter (Ich verneine), wurde von der norwegischen Kritik wiederum enthusiastisch aufgenommen. Petterson gilt als traditioneller, aber großer Erzähler, als Realist des Alltags- und Familienlebens, als sicherer Stilist, der Sätze schreibt »wie gemeißelt« (Lars Bonnevi); seine Charaktere gelten als absolut authentisch, er verstünde es, so heißt es, die einfachen Themen mit großer Intensität wirken zu lassen. »En vakker og trist og barmhjertig og ubønnhørlig tekst« schrieb Trygve Riiser Gundersen in Dagbladet »bekrefter Per Pettersons status som en av Norges aller, aller beste romanforfattere i dag […] Med stillferdig selvfølgelighet omdanner nordmannen alle verdens tilfeldigheter til litteratur« (Ein schöner und trauriger und barmherziger und unerbittlicher Text bestätigt Per Pettersons Status als einen von Norwegens aller, allerbesten heutigen Romanschriftstellern. […] Mit stiller Selbstverständlichkeit verwandelt der Norweger die Zufälligkeiten der Welt in Literatur.).
Ein Charakteristikum und eine Besonderheit ist es, dass es fast immer die Gefühlswelt von Männern ist, die Petersson entwirft, es sind die Beziehungen von Vätern und Söhnen, von Söhnen zu Müttern oder von Brüdern zu Schwestern oder auch Jungenfreundschaften, die aus der männlichen Perspektive geschildert werden. Seine Protagonisten, die Männerleben auf verschiedenen Altersstufen repräsentieren, stellen zum Teil Verkörperungen von autobiographisch belegbaren Erfahrungen und Beziehungen dar, wobei die psychologische Darstellung aber immer auch Elemente des unauflösbar Rätselhaften enthält und nicht im biographisch belegbaren aufgeht. Eine besondere Rolle spielt meist auch die Beziehung zur Natur, die den Texten ein Moment von Ruhe, ja fast von Idyll unterlegt, das aber nicht ungebrochen oder regressiv eingesetzt wird, sondern eher einen Projektionsraum der Gefühle darstellt. Ihre Stille bildet ein Gegengewicht zur physischen und psychischen Gewalt, die eine weitere Konstante im Romanuniversum Pettersons bildet, seine Protagonisten bedroht, sie in den meisten Fällen aber nicht scheitern lässt.
Jeg nekter setzt sowohl stilistisch als auch thematisch die Reihe der Romane in einer Manier fort, die die Kritik von spezifisch ›pettersonsch‹ sprechen lässt und diesen Roman mit dem Buchhändlerpreis 2012 auszeichnete. Es geht um zwei Kindheitsfreunde, die sich nach 35 Jahren der Trennung auf einer Brücke zufällig wieder begegnen. Der Roman stellt die – unbeantwortete – Frage, was eine Freundschaft ausmacht und wieso der Verlauf des Lebens zwei enge Freunde auseinandertreiben kann, ohne dass die Betroffenen selbst es zu verstehen scheinen. Der Text unterscheidet sich von seinen Vorgängern durch eine kapitelweise wechselnde Erzählperspektive, in der die beiden Protagonisten Jim und Tommy, aber gelegentlich auch Tommys Schwester Siri, zu Wort kommen; andere Kapitel fokussieren punktuell Tommys Mutter Tya und seinen Pflegevater Jonsen, über sie wird jedoch ausschließlich in der dritten Person berichtet. Die Narration wechselt also zwischen erster und dritter Person und zwischen verschiedenen Perspektiven, so dass der Leseprozess zwangsläufig nach Konvergenzpunkten sucht. So kommt es auch punktuell zu Perspektivenüberschneidungen, die aber keine Erklärungen liefern.
Das mosaikartige Arrangement des Erzählens wird gesteigert durch die aufgebrochene Chronologie der Handlung. Die zeitliche Perspektive wechselt zwischen einer Gegenwartsebene im Jahre 2006 und Rückblicken in die 1960er und 70er Jahre. Einen Kernpunkt der Handlung stellt dabei der Winter 1970/71 dar, als die Freundschaft der beiden bis dahin unzertrennlichen Jungen zerbricht und Jim nach einem Suizidversuch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, ohne dass der Grund dafür explizit gemacht wird. Der Aufbau macht auf diese Weise auch auf die Zeit als ein weiteres der in Pettersons Werk immer wiederkehrenden Themen aufmerksam: Im Falle dieses Romans ist die Zeit in Szenen aufgesplittert, sie enthalt viele Leerstellen und ergibt keine Kohärenz, die den Sinn eines Lebens hervorbringen würde. Es gibt zwar bedeutungsvolle Momente, aber aus ihnen scheint sich kein Sinnzusammenhang zu erwachsen, sind es Zufälle, Sinnlosigkeit oder unterbrochene Linien, die die beiden Lebensläufe bestimmen. Dieses strukturelle Moment erfährt eine Steigerung in den Schlusskapiteln des Romans, als die beiden früheren Freunde, nach ihrem zufälligen Wiedertreffen, sehr nah zueinander geführt werden – sie halten sich wiederum zufällig ganz kurze Zeit nacheinander im selben Gebäude auf – und sich doch nicht begegnen, was einen Effekt der Sinnlosigkeit hervorbringt und tragische Konsequenzen hat.
In den ersten Kapiteln des Buches schien es zunächst, als ob der von seiner Mutter früh verlassene Tommy die tragische Figur des Buches werden soll. Seine Kindheit ist von brutalen Schlägen des Vaters geprägt, deren lakonisch-sachliche Schilderung sie für den Leser umso unerträglicher erscheinen lassen. Den gewaltsamen Übergriffen des Vaters, unter denen vor allem auch die jüngeren Schwestern zu leiden haben, entzieht er sich schließlich durch Gegengewalt, vor der der Vater flieht und verschwindet. Danach sind die vier Geschwister vollkommen auf sich allein gestellt, die Freundschaft zu Jim stellt die emotionale Konstante in Tommys Leben dar. Diese Elendsschilderung, in der Milieustudie und psychologische Schilderung sich die Waage halten, wird aber nicht im naturalistischen Sinne fortgeführt: Denn es ist Tommy, der später im Leben erfolgreich ist, er ist der Mercedesfahrer mit den schicken Anzügen, während der ehemalige Freund arbeitslos und verzweifelt ist und sich am Ende wohl umbringen wird. Kein Determinismus unterliegt dieser Schilderung, das in vielen Aspekten rätselhaft bleibende Leben der beiden Männer verweigert Vorhersehbarkeit und logische Erklärungen, eine Sinngebung bleibt aus.
Darin liegt die Melancholie dieses Romans, der durch den Titel Jeg nekter Bestätigung erfährt. Die Phrase wird mehrfach im Verlauf des Textes von unterschiedlichen Personen in Bezug auf unterschiedliche Situationen benutzt: So verweigert Tommy die Versöhnung mit dem Vater und im Schlusskapitel weigert sich Siri, eine Spur der verloren geglaubten Mutter sowie ihre eigene Vergangenheit anzuerkennen und zu verfolgen. Immer wenn der Roman Zufälle des Zusammentreffens und der schicksalhaften Begegnungen arrangiert, entziehen sich die Figuren dem Sinngebungsangebot. Auf diese Weise bleiben sie alle allein, und die Struktur des Romans wird zum Ausdruck von Sinnkrise und Traurigkeit.
Wieder einmal hat Petterson große Themen und große Gefühle stilsicher und an Lakonie grenzend erzählt. Und doch vermag dieser Roman, vielleicht bedingt durch den – thematisch berechtigten – Aufbruch der Narration, nicht ganz dieselbe erzählerische Magie zu entwickeln wie die Vorgängertexte Ut og stjæle hester oder Jeg forbanner tidens elv. Man wünscht sich, dass dieser begabte Erzähler einmal ein ganz anderes Thema aufgreift und dass der Erfolg nicht zur Stagnation des Werkes führen möge, die eine gewisse Gefahr darstellt. Wenn man wohlwollend liest, könnte man die strukturellen und narrativen Neuerungen als einen Schritt zu einer Komplexitätssteigerung sehen, die dem Weg vielleicht neue Wege öffnen.
Per Petterson: Jeg Nekter. Oslo: Forlaget Oktober, 2012.
(Annegret Heitmann, München, April 2013)