Der Name „Love“ muss nun völlig vergessen werden! – Ida Jessen: Ramt af ingenting (2012)
(zum Überraschungssymposion für Annegret Heitmann am 14.12.12)
Von Kant ist die Anekdote überliefert, dass sich der Philosoph dermaßen an seinen Diener Martin Lampe gewöhnt hatte, dass er auch dessen Nachfolger immer wieder mit dem Namen des alten Dieners ansprach. Er notierte sich deshalb auf einen Merkzettel, dass der „Name Lampe […] nun völlig vergessen werden“ muss. Die Geschichte wirkt deshalb so kurios, weil wir das Vergessen gemeinhin als eine passive Angelegenheit auffassen. Wie sollte also eine aktive Gedächtnisleistung das Vergessen befördern?
Auf Dänisch klingt die Kantsche Anekdote wahrscheinlich weniger absurd, gibt es im Dänischen doch das Idiom „skrive noget i glemmebogen“, „etwas in das Buch des Vergessens einschreiben“; der entsprechende deutsche Ausdruck wäre etwa „einen Strich unter die Sache ziehen“. Beide idiomatischen Wendungen bezeichnen den Versuch, mit einer unangenehmen Angelegenheit abzuschließen. Das Deutsche bemüht eine mathematische Metapher in der Hoffnung, dass der Strich unter einer Rechnung (im Sinne der Addition) gleichbedeutend damit ist, dass die Rechnung (im Sinne des Schuldschreibens) auch bezahlt ist. Das Dänische dagegen zielt darauf, dass in manchen Fällen das Vergessen unabschließbar ist, dass ihm eine eigene Paradoxalität innewohnt, in der sich Vergangenes und Gegenwärtiges verstricken. So kann das Ordbog over det danske Sprog in seinem sechsten Band von 1924 bereits Kierkegaard als Beleg zitieren: „at skrive Noget i Glemmebogen (antyder) jo paa engang at det glemmes og at det dog opbevares“ („etwas in das Buch des Vergessens einzutragen deutet ja an, dass etwas zugleich vergessen und doch aufbewahrt wird“).
Wenn nun Ida Jessen ihrem schmalen Büchlein Ramt af ingenting (Von/m Nichts getroffen) den Untertitel En glemmebog gibt, nutzt sie den metaphorischen Bedeutungsspielraum der dänischen Redewendung. Der Klappentext stellt den Leser denn auch gleich darauf ein, was da in das Buch des Vergessens eingetragen werden soll. „Ramt af ingenting er en glemmebog fra tiden efter et kærlighedsforholds afslutning“ (”Ramt af ingenting ist ein Vergessensbuch aus der Zeit nach der Beendigung einer Liebesbeziehung”). Die nicht einmal 50 kurzen Textbausteine, aus denen das Buch besteht, sollen als fragmentarische Einträge in ein Notizbuch verstanden werden, das das schreibende Ich – eine belletristische Autorin – über einen nicht näher bestimmten Zeitraum führt, um das Scheitern ihrer Ehe zu verkraften und vor allem, um von den inneren Bindungen an ihren Mann, seiner Zärtlichkeit und seinen Beleidigungen loszukommen.
Die (wohl leider alltägliche) Geschichte eines Menschen, der darum ringt, einen – nicht mehr – geliebten Partner zu vergessen, wird Jessen zur einer ungewöhnlich dichten Fallstudie über die Verflechtung von Liebe und Verlust, Vergessen und Erinnern und natürlich über die Rolle, die das Schreiben in diesem Gewirr spielt. So trägt der Partner einen schwedischen Vornamen, der ihn nicht individualisiert, sondern mit der Liebe per se identifiziert: „Jeg lå på gulvet og tænkte på dit navn og på den dag, vi blev gift. Giftefogeden udtalte dit navn som det engelske ord for kærlighed. Han vidste det ikke. Men du var Love, ikke love“ (S. 18 – “Ich lag auf dem Boden und dachte an Deinen Namen und an den Tag, als wir heirateten. Der Standesbeamte sprach Deinen Namen wie das englische Wort für Liebe aus. Er wusste es nicht besser. Aber Du warst Love, nicht love”). Eine der Fragen des Buchs stellt sich demnach so: Wenn Love in das Buch des Vergessens eingetragen werden soll, ist das dann gleichbedeutend damit, love, die Liebe völlig vergessen zu müssen?
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Der Name „Love“ verbindet die Liebe aber auch mit dem Schreiben und dem Erinnerungsraum der Literatur: Jessen nennt ganz explizit den schwedischen Protoromantiker Jonas Love Almqvist und seinen kanonisch gewordenen Emanzipationsroman Det går an (Die Woche mit Sara) aus dem Jahr 1838 (S. 63). Dort besteht die weibliche Hauptperson Sara Videbeck auf einer Liebesbeziehung ohne Trauschein, um ihre ökonomische Selbständigkeit zu wahren und damit der prekären rechtlosen Stellung der verheirateten Frau im Bürgertum des 19. Jahrhundert zu entgehen. Dies muss man wissen; denn nur dann wird einem klar, dass Jessens Ich-Figur nicht einfach nur irgendeinen Mann vergessen will, sondern dass sie mit dem Abschied von ihrem Love einen Strich unter ein Konzept ziehen will, in dem love/Liebe und Unabhängigkeit zusammengedacht werden können. Denn Love wird genau dadurch charakterisiert, dass er auf seine Selbständigkeit und seine Bedürfnislosigkeit gerade in der Liebesbeziehung pocht (S. 23). In gewissem Sinn ist er eine männliche Sara Videbeck.
Für die Wirkmächtigkeit dieses Beziehungsmodells findet Jessen eine wunderschöne Metapher, deren Schönheit auch die Anziehungskraft des Modells bezeugt:
„Jeg tænker på vores hösthallon på Österlen, hvor næsten lilla de var, og på de syv ældgamle stikkelsbærbuske, ribsene og de to æbletræer som jeg fandt, da jeg fjernede brombærkrattet den første sommer. Vi kendte ikke sortene og gav dem navne efter Almqvists Det Går An. I en papkasse i mit redskabsrum har jeg syltetøj, hvor navnene står med din på en gang smukke og så godt som ulæselige skrift. I morges hentede jeg Albert med Citronverbena, 2008, og i tankerne tæller jeg raden rundt, Carl, Love, Almqvist, Sara, Lidköping, Moster Gustava, og regner på den måde ud, at min morgenmad er hentet på busken under den kravlende fyr på skråningen ned mod gæstehuset. Huset er sat til salg, og jeg har ikke været der i næsten et år. Al den skønhed.“ (S. 63-4)
„Ich denke an unsere Herbsthimbeeren in Österlen, die fast lila waren, und an die sieben uralten Stachelbeerbüsche, Johannisbeeren und die zwei Apfelbäume, die ich fand, als ich im ersten Sommer das Brombeergestrüpp entfernte. Wir kannten die Sorten nicht und gaben ihnen Namen aus Almqvists Woche mit Sara. In einer Pappschachtel in meiner Abstellkammer habe ich Marmelade, auf der die Namen in Deiner gleichzeitig schönen und so gut wie unleserlichen Schrift stehen. Heute morgen holte ich Albert mit Zitronenverbene, 2008, und in Gedanken ging ich die Reihe durch, Carl, Love, Almqvist, Albert, Sara, Lidköping, Tante Gustava, und rechnete auf diese Weise aus, dass mein Frühstück von dem Busch unter der kriechenden Kiefer am Hang beim Gästehaus stammt. Das Haus steht zum Verkauf, und ich war dort fast ein Jahr lang nicht mehr. All diese Schönheit.“
Det går an / Die Woche mit Sara wirkt also derart prägend, dass das Paar es für die Konstruktion eines Gedächtnisraums nutzen kann: Dieser mnemotechnische Trick zielt darauf ab, eine vertraute Abfolge von Orten zu imaginieren (in diesem Fall sind es die Figuren des schwedischen Klassikers) und das, was erinnert werden soll (in diesem Fall die Gewächse des Gartens), mental an diesen Orte zu platzieren, so dass man die Orte nur in Gedanken abschreiten muss, um das zu Erinnernde ins Gedächtnis zu rufen. Die zitierte Passage zeigt also an, dass Det går an (und man muss implizit mitlesen: das Beziehungsmodell des Romans) den Status des Allerselbsverständlichsten besitzt, eine Grundlage, auf der die gemeinsame Welt gebaut ist.
Neben dem Garten in Österlen spielt ein weiterer Garten eine große Rolle. Viele der Einträge in das Vergessensbuch beschreiben nämlich, wie das Ich einen neuen Garten plant, der zu dem Haus gehört, in das die Geschiedene nach der Trennung einzieht. „I sådan en have kan du dyrke ALLE blomster“ („in einem solchen Garten kannst Du ALLE Blumen pflanzen“), sagt eine Freundin beim Einzug. Doch dazu – zum Gärtnern und damit zum Blick in die Zukunft – kommt es erst ganz am Ende im letzten Eintrag des glemmebogs. Die übrigen Einträge beschreiben ausschließlich das mühselige Roden einer Hecke und das Entfernen von Baumstümpfen. Die nachdrückliche Entschiedenheit, mit der dieser Garten der Vergangenheit entrissen wird, und die Mühen, die diese Leerung erfordern, sind die Voraussetzung für einen neuen eigenen Garten – und man könnte schlussfolgern: Voraussetzung, um den Garten in Österlen und das Modell von Liebe, das auf Unabhängigkeit besteht, zu überschreiben.
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Wie gehen also Schreiben und Vergessen zusammen?
Bekanntlich war Platon von der Kulturtechnik Schrift nicht sehr angetan. Sie solle zwar das Aufgeschriebene sichern und vom unzuverlässigen, weil endlichen menschlichen Erinnerungsvermögen unabhängig machen. Doch gerade durch die Auslagerung entlaste sie das menschliche Gehirn nicht nur, sondern nehme ihm auch immer mehr die Fähigkeit, umfangreiches Wissen im Gedächtnis zu halten. Schließlich ermöglicht die Schrift Archive des Wissens, die derart umfassend sind, dass ihr Inhalt gar nicht mehr gewusst werden kann, weil es jedes Bewusstsein übersteigt. Auch in diesen Deutungshorizont schreibt sich Ramt af ingenting ein: Die Ich-Figur ist wie ihre Schöpferin eine Autorin und sie beklagt, dass das Schreiben ihr die Erinnerung nimmt: Min „hukommelse [er] stort set upålidelig, jeg har skrevet den væk. […] Efter hver bog bliver jeg ramt af en ny serie blackouts“ (S. 30 – meine „Erinnerung ist größtenteils unzuverlässig, ich habe sie weggeschrieben. […] Nach jedem Buch werde ich von einer neuen Serie Blackouts getroffen“). In der Konsequenz ist also jedes Aufschreiben und Archivieren ein Vergessen. Jeder Text ist ein glemmebog, das alles verschwinden lässt – und doch präsent hält.
Ida Jessen: Ramt af ingenting. En glemmebog. Kopenhagen: Gyldendal, 2012.
(Joachim Schiedermair, Greifswald, Dezember 2012)