Jag stoppar ner handen i det iskalla havet. Det är min första kontakt med Sverige. Hon är vacker, stolt och iskall. Välkomnande, men fientlig. Som en snobbig värd som egentligen inte bjudit hem den gäst som just anlänt. [10]
„Ich stecke die Hand in das eiskalte Meer. Das ist mein erster Kontakt mit Schweden. Es ist schön, stolz und eiskalt. Einladend, aber feindlich. Wie ein versnobter Gastgeber, der den gerade angekommenen Gast eigentlich nicht zu sich gebeten hat.“
Dieses Schweden jenseits von romantischen Vorstellungen betritt der achtjährige Duraid im Dezember 1994. Zusammen mit seiner Familie ist er aus Bagdad über Jordanien, Moskau und die litauische Hafenstadt Klaipėda über die Ostsee nach Gotland geflüchtet. Der Preis der Menschenschmuggler ist hoch, die Reise menschenunwürdig. Zusammengedrängt in einem engen, alten Fischerboot müssen 63 Flüchtlinge zwischen Erbrochenem und Exkrementen stumm darauf hoffen, dass das kleine Boot den Sturmböen und riesigen Wellen trotzen kann. 62 von ihnen überstehen die Überfahrt.
Für die Familie Al-Khamisi ist diese Reise nicht nur der Weg in ein fremdes Land, sie ist auch der Abstieg auf der sozialen Skala. Im Irak war Duraids Vater ein angesehener Goldschmied, der seiner Familie eine wohlhabend eingerichtete Villa bauen konnte. In Schweden wird er nie wieder arbeiten, die Familie lebt in einer Wohnung im migrantengeprägten Stockholmer Stadtteil Husby. Die Mutter erhält zwar ab und zu kleine Aushilfsjobs, leidet zu Beginn aber immer stärker unter schweren Depressionen. Obwohl sich Schweden ihnen gegenüber nicht als das erträumte Paradies offenbart, nehmen die Eltern es in Schutz. Der heranwachsende Duraid hingegen ist zornig – zornig wegen der ständigen rassistischen Kategorisierungen und Anfeindungen von allen Seiten, die ihm den Eindruck vermitteln, als Einwanderer grundsätzlich nicht willkommen zu sein, und zornig auf das Leben an sich in einem Land, in dem noch nicht einmal der Regen einen Geruch hat und ihm so ein Gefühl von Heimat geben könnte:
En betydande del av Irak är öken av rödsand. När stormarna drar in över städerna, jordarna, åkrarna och floderna lägger sig en tjock röd dimma över himlen.
När det sedan regnar lägger sig sanden, och ur den frigör sig den ljuvligaste lukt jag vet: lukten av fotogen, gasol och regn som ömsint parar sig med den varma doften av jasminblommor. Men i Sverige … Regnet luktar inte här. Mossan doftar. Barren, stenarna, löven doftar. Men inte regnet. Och det är ingen liten sak. Den som inte har en doft, eller ett berg, en gata, ett torg, ett bibliotek, en kyrka, en moské, ett bageri att längta till kommer aldrig att förstå det. Bara den som flytt från sina floder, sina sjöar, från sin säng, familj, skola, vänkrets och från sitt hantverk kan förstå vad jag menar. [132f]
„Ein bedeutender Teil des Iraks ist eine Wüste aus rotem Sand. Wenn die Stürme über die Städte, Böden, Äcker und Flüsse hereinziehen, legt sich ein dicker roter Nebel über den Himmel.
Wenn es dann regnet, legt sich der Sand, und aus ihm löst sich der lieblichste Duft, den ich kenne: der Geruch von Petroleum, Flüssiggas und Regen, der sich zärtlich mit dem warmen Duft von Jasminblüten paart. Aber in Schweden … Hier hat der Regen keinen Geruch. Das Moos duftet. Die Tannennadeln, Steine, Blätter duften. Aber nicht der Regen. Und das ist keine kleine Sache. Derjenige, der sich nicht nach einem Duft oder einem Berg, einer Straße, einem Platz, einer Bibliothek, einer Kirche, einer Moschee, einer Bäckerei sehnt, wird dies nie verstehen. Nur derjenige, der von seinen Flüssen, seinen Seen, von seinem Bett, seiner Familie, Schule, seinem Freundeskreis und Handwerk geflohen ist, kann verstehen, was ich meine.“
Ganz wie es die stereotypen Kategorisierungen vorsehen, ist Duraids tägliches Leben immer mehr von Drogen und Gewalt geprägt – bis sich auch seine engsten Einwandererfreunde von ihm abwenden und er die Macht der sprachlichen Kommunikation erkennt. Duraid wird Journalist, aber auch als Journalist muss er sich mit ethnischen Kategorisierungen und rassistisch motivierten Handlungen auseinandersetzen.
Regnet luktar inte här handelt jedoch nicht nur von Duraid und seinen Eltern. Wie der Untertitel „Ein Familienportrait“ andeutet, ist es das Album einer ganzen Familie. Dazu gehören noch Duraids vier jüngere Brüder, die mit nach Schweden geflüchteten Rami und Awsam und die in Schweden geborenen Semir und Sandro. Auch die große, im Irak verbliebene weitere Familie erhält ihren Platz. Für einen relativ kurzen Roman ist das eine Vielzahl an Schicksalen, weshalb die Geschichten von manchen Figuren aus dem engeren Kreis leider schemenhaft verbleiben. Rami und der von ihm mitgegründeten Organisation „Megafonen“ („Das Megafon“) für junge Vorortbewohner, die sich für soziale Gleichberechtigung und gegen traditionelle Medienbildern vom Vorort engagiert, werden sehr viele Seiten gewidmet, während Awsam fast unsichtbar bleibt. Dafür liefert der Text eine programmatische Erklärung:
Awsam är 23 år. Han sköter sitt, och tar inte ställning politiskt. Han vill inte tala om frågor som har att göra med hans hudfärg och ursprung. Det är hans fulla rätt. Därför tar hans berättelse i denna bok – som i högsta grad är politisk – slut här. [169]
„Awsam ist 23 Jahre alt. Er kümmert sich um seine Angelegenheiten und nimmt politisch keine Stellung. Er will nicht über Fragen sprechen, die mit seiner Hautfarbe und seinem Ursprung zu tun haben. Deswegen endet seine Erzählung in diesem Buch – das im höchsten Grade politisch ist – hier.“
Diese Stellungnahme mit ihrem Metakommentar wirkt im Romankontext dennoch eher abgerissen und unbefriedigend.
Regnet luktar inte här fordert seine Leser heraus und provoziert auf sowohl positive als auch negative Weise. An genau dieser Schnittstelle wird die Lektüre allerdings besonders interessant. Akzeptiert man nämlich das Wirrwarr, das durch die Vielfalt an Stimmen über die Vor- und Nachteile entsteht, die ein Leben in Schweden für eingewanderte Familien und ihre in Schweden geborenen Kindern mit sich bringt, ergibt sich eine ganz neue Bedeutung: Jede Stimme ist anders und unterschiedlich laut. Auch wenn sich ein Individuum mal stereotyp verhält, so gilt dies selbstverständlich nicht automatisch für dessen Familie, Freunde und Nachbarn. Ebenso führt die zentrale Stellung der Großfamilie anschaulich vor Augen, dass die familiäre Disposition jedes Individuum in seinem Verhalten prägt und gewisse Verhaltensweisen stark beeinflussen kann. Duraid ist wesentlich von Einsamkeit und Bodenlosigkeit durch den Verlust seiner irakischen Heimat und der dort zurückgelassenen Großfamilie geprägt sowie von der Ohnmacht, seine geliebten und verehrten Eltern unglücklich und arbeitslos in dem neuen Land zu sehen. Ohne Unterstützung von außen kann er sich diesen Gefühlen nicht entziehen.
Zusätzlich zu der Vielfalt individueller und doch zusammenhängender Schicksale in Schweden und im Irak, die außerdem nicht chronologisch erzählt werden, ist Regnet luktar inte här auch eine Collage aus verschiedenen Schreibstilen, unter denen die Schreibweise des Journalisten Duraid Al-Khamisi, der unter anderem für das Schwedische Radio (Sveriges Radio) oder die Tageszeitung Svenska Dagbladet gearbeitet hat, deutlich hervortritt. Züge des journalistischen Genres der Reportage wechseln insbesondere in der zweiten Hälfte regelmäßig mit längeren Interview-Passagen, in denen die Familienmitglieder im Gespräch mit Duraid zu Wort kommen. Gleichzeitig wird Regnet luktar inte här immer wieder zu einem Metaroman über die Macht des Schreibens, bei dem sich, wie es die Namensgleichheit des literarischen Duraids und des Autors Duraid Al-Khamisi bereits andeutet, stark autobiographische Elemente nicht abstreiten lassen.
Die stetigen Stilwechsel hinterlassen insbesondere in Verbindung mit den häufigen Zeitsprüngen einen Eindruck von fehlender Kohärenz und werden anstrengend. Doch spätestens hierbei wird einem das eigene Leseverhalten kritisch vor Augen geführt. Als Leser wünscht man sich möglicherweise zunächst, dass das Familienportrait keine Collage, sondern ein wirklicher Genre-Hybrid wäre. Es sind nämlich gerade die immer wieder aufblitzenden poetischen Reportage-Abschnitte, die fesseln und zutiefst berühren. Aber hier kommt erneut die aufrüttelnde Macht des Chaos zum Tragen. Regnet luktar inte här handelt hochgradig von unbequemen Situationen im eigenen Land. Weshalb sollte dann dessen Lektüre durchgängig bequem sein?
Daneben gibt es weitere Stolpersteine inhaltlichen Charakters. Der neunjährige Sandro versucht, statt des in seiner Familie verbreiteten Vorortsoziolektes Standardschwedisch zu sprechen. Dies ändert sich doch zumindest phasenweise während eines Gesprächs mit Duraid:
Sandro börjar komma igång, och nu vaknar hans rätta dialekt till liv. Nu låter han som den tväräkta förortare jag vill att han ska vara. Hans dialekt bär på min och mina föräldrars resa. Den vittnar om platsen som vi en gång kom ifrån. [173]
„Sandro läuft allmählich warm, und jetzt erwacht sein richtiger Dialekt zum Leben. Jetzt hört er sich wie der waschechte Vorort-Sprössling an, der er meiner Meinung nach sein soll. Sein Dialekt trägt die Reise von mir und meinen Eltern in sich. Er zeugt von dem Ort, von dem wir einst hergekommen sind.“
Weshalb akzeptiert Duraid nicht, dass sein jüngster, in Schweden geborener Bruder Standardschwedisch spricht, insbesondere da sein Soziolekt ihm in seiner Kindheit ungerechterweise so viel Missachtung eingebracht hat? Weshalb nimmt Duraid Kategorisierungen an Schweden vor, wenn er die Kategorisierungen von schwedischer Seite zurecht scharf kritisiert? Sollte die Frage aber nicht eigentlich lauten: Können wir dies als Außenstehende, bei denen eher freiwillige Auslandsaufenthalte als Flucht und anschließende rassistische Anfeindungen die Regel sind, überhaupt nachvollziehen?
In diesem Sinne wird Regnet luktar inte här nicht nur zu einem Familienportrait über Flucht und das darauf folgende Leben in einem anderen Land, sondern ebenso zu einem Weckruf, seine Privilegien zu reflektieren. Lässt man sich darauf ein, wird es eine sehr persönliche Lektüre, die auch die eigenen nordischen Paradiese nicht unangetastet lässt. Was bleibt, ist ein sensibilisiertes Bewusstsein für den Umgang mit Schmerz und Verlust der Heimat, das hoffentlich zu einem verständnisvolleren Umgang mit unter Umständen zunächst schwer nachvollziehbaren Verhaltensweisen führt. Und dieses Bewusstsein ist natürlich insbesondere in diesen Monaten, in denen hilfsbedürftige Menschen nicht unbedingt über das Baltikum und die Ostsee, dafür aber über südosteuropäische Länder und das Mittelmeer in Richtung Norden strömen, besonders wichtig, denn, wie es auch Duraid Al-Khamisi formuliert, es werden noch viele Menschen zu einer solchen Flucht gezwungen sein.
Sei die vielfältige Inkohärenz nun eine bewusste künstlerische Strategie oder der Tatsache geschuldet, dass Regnet luktar inte här erst das Debut eines talentierten Schriftstellers ist, man darf gespannt sein auf das, was es noch von Duraid Al-Khamisi zu lesen geben wird. Die Erwartungen an eine weitere literarische Veröffentlichung sind hoch – nicht zuletzt weil er dieses Mal mit der Wahl des Themas, das bereits vor der enormen Ausweitung der Flüchtlingskatastrophe feststand, eine hohe Sensibilität für gegenwärtige gesellschaftliche Brennpunkte bewiesen hat.
Duraid Al-Khamisi: Regnet luktar inte här, Atlas 2015.
(Hannah Tischmann, Wien, Oktober 2015)