Og sådan blev det – Und so war’s dann eben. Nüchterne Feststellung oder Resignation?
Auf den ersten Blick ist schwer zu sagen, wie der Titel der realistischen und mit feiner Ironie erzählten Lebensgeschichte eines heranwachsenden samischen Mädchens zu verstehen ist, dessen liebste Beschäftigung das Zeichnen ist. Maren Uthaug schöpft aus ihren eigenen Erfahrungen, ohne jedoch autobiographisch oder autofiktional zu werden: Als Tochter einer Norwegerin und eines Sami wuchs Uthaug zunächst in Nordnorwegen auf. Nach der Scheidung ihrer Eltern zog sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Dänemark zu deren neuem Partner. Um Homi Bhabhas Terminologie heranzuziehen: Uthaug ist eine kulturelle Hybride, „halvt samisk, halvt norsk og derudover […] ret dansk“ (halb samisch, halb norwegisch und darüber hinaus […] recht dänisch), wie sie im Portrait Bokprogrammet (Die Buchsendung) des NRK vom 25.03.2014 von sich selbst sagt.
Seit 2009 ist die Graphikerin mit Marens Blog online präsent. Über diese Internetseite vermarktet sie auch von ihr gestaltete Produkte: Poster, Postkarten, Kalender, Tassen und andere Gebrauchsgegenstände. Lesern der dänischen Tageszeitung Politiken (Die Politik) ist Uthaug seit 2013 bekannt, als sie den Cartoonwettbewerb der Tageszeitung gewann. Seither zeichnen ihre hintersinnigen Strichmännchen täglich im Kulturteil unter dem Titel Ting jeg gjorde (Dinge, die ich tat) kritisch und ironisch alle möglichen, viel häufiger jedoch unmöglichen Lebenssituationen nach. Zeichnerisch erfolgreich ist Uthaug auch in Norwegen mit ihren satirischen Cartoon-Büchern über Lebens- und Stimmungslagen samischer Existenz: Eines zeigt auf dem Cover eine Person in samischer Tracht, die im Begriff ist, Selbstmord zu begehen. Der Titel lautet Det er gøy å være same (Es ist lustig, Sami zu sein, 2010). Nach anfänglichen Skrupeln ließ sich Uthaug von ihrer samischen Familie davon überzeugen, dass sie als Insiderin das Recht habe, samisches Alltagsleben zu karikieren. Ihre so gewonnene Freiheit zeigt sich auch an dem provokativ doppelsinnigen Titel einer weiteren Cartoon-Sammlung: Same shit (2011) – ‚same’ als englisch ‚gleich’ oder aber norwegisch ‚Sami’ zu lesen. Verlegt werden die Karikaturen von Uthaugs samischen Onkeln, den Inhabern des Verlags CálliidLágádus.
In Og sådan blev det, ihrem Debütroman, schlägt Uthaug jedoch andere Töne an. Die Autorin baut mit Hilfe einer unregelmäßigen Alternation zwischen Rückblicken, Vorschauen und Passagen in der Erzählgegenwart einen äußerst dynamischen Text auf, der zwischen Nordnorwegen und Dänemark, der Kindheit und dem Erwachsenenleben der Protagonistin pendelt. Dass es sich bei der erstmals in einem mit der Jahreszahl 2007 überschriebenen Kapitel genannten Kirsten um eben jene Protagonistin handelt, die unter der Überschrift 1982 als siebenjährige Risten vorgestellt wird, kann der Leser rasch erschließen, da ihr Vater, der Norweger Knut, in beiden Textpassagen genannt wird. Erst nach und nach jedoch entfalten sich die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass aus Risten Kirsten wird, dass Knut seine samische Frau Rihtta verließ und mit seiner Tochter von Nordnorwegen nach Dänemark zu seiner neuen Geliebten Grethe zog. Analog zu Risten wird der Leser dabei lange fehlinformiert bzw. über ein unangenehmes Familiengeheimnis im Unklaren gelassen, um genau zu sein: bis kurz vor das Ende des Romans.
Uthaugs klare Sprache, die oft einfache Syntax und die Ellipsen, die sowohl auf der Ebene der Erzählinstanz als auch derjenigen der Figuren gedankliche Spontaneität erzeugen, bewirken eine lapidare Distanz zu den enormen familiären Konflikten und dem Kulturschock, den Risten erlebt. Möglicherweise ist diese nichtemotionale und unsentimentale Sprache ein Grund dafür, dass Og sådan blev det in Dänemark eher sozialrealistisch rezipiert wird. Uthaug selbst spricht von der Entwurzelung und familiären Entfremdung als zentralem Textthema. Diese Sicht zeigen auch verschiedene Rezensionen (vgl. z.B. Klaus Rothsteins Rezension in Weekendavisen (Wochenendzeitung), 30.08.2013), Lesarten, die durch das Symbol der Wurzeln inspiriert wurden, das zweifach im Text auftaucht und zudem als Cover-Illustration aufgegriffen wird: Risten ist als Kind über Monate hinweg damit beschäftigt, die Blätter eines Malblocks aneinander zu kleben und das Wurzelsystem eines Baumes in Originalgröße zu zeichnen. Sie wird nicht damit fertig. Die bemalten Papierbögen verschwinden als Polsterungsmaterial in den Umzugskisten für die Übersiedlung nach Dänemark. Als Erwachsene nennt Risten ihren Sohn Rod (Wurzel). Diese Rezeption wird in Norwegen übernommen, als 2014 die Übersetzung Og sånn ble det erscheint (vgl. Gabriel Michael Vossgraff Moros Rezension in Verdens Gang (Lauf der Welt), 27.10.2014 sowie Maya Troberg Djuves Rezension in Dagbladet (Die Tageszeitung), 20.12.2014).
Verwunderlich ist, dass weder die ablehnende Haltung gegen Norweger, wie sie etwa in Rihttas Mutter Áhkku präsent ist, noch die offensichtlich koloniale, ja, rassistische Haltung, die die egozentrische Stiefmutter Grethe im Mikrokosmos der neuen Patchworkfamilie praktiziert, den Rezensenten Anlass geben, kritisch über das Verhältnis zwischen skandinavischen Gesellschaften und deren indigenen Minderheiten zu räsonieren. Koloniales Gebaren zeigt Grethe insbesondere in der Umbenennung Ristens in Kirsten und der Namensgebung ihres vietnamesischen Pflegesohns, eines verwaisten Bootsflüchtlings. Da der Junge einen „indviklet, vietnamesisk navn“ (komplizierten vietnamesischen Namen) hat, nennt Grethe ihn einfach „Vietnameser-Niels“ (Vietnamesen-Niels), mit der Begründung „[i] Danmark er det jo praktisk med et dansk navn“ (in Dänemark ist es doch praktisch, einen dänischen Namen zu haben, S. 55). In gleicher Weise kolonial kann Grethes selbstgefällige Nötigung der beiden Kinder verstanden werden, sie mit ‚Mutter’ anzusprechen.
Diaspora ist in indigenen Kontexten ein prominentes Thema. Bemerkenswert ist, dass Risten Vorstellungen, wie sie ihr von Áhkku in früher Kindheit vermittelt werden, auch in Dänemark allen Widrigkeiten zum Trotz unverbrüchlich treu bleibt. Diese indigene Identität äußert sich in einem großen Respekt vor unterirdischen Wesen und dem Nordlicht, vor denen man sich nur durch Tragen von Silberschmuck, Aufsagen kvenischer Gebete und Abwenden des Blicks schützen kann. Obwohl Risten entdeckt, dass es in Dänemark kein Nordlicht gibt, ist sie skeptisch, ob es nicht doch plötzlich erscheinen könnte. Die zum Schutz nötigen Handlungen und Rituale praktiziert Risten in Grethes Garten weiter und vermittelt sie auch an ihren vietnamesischen Stiefbruder. Dieser begreift nicht, dass er in samisches Wissen eingeweiht wird, sondern meint, Wesentliches über seine neue Heimat, also über Dänemark, zu lernen. Risten hat damit keine traditionale samische ‚pre-contact’ Identität, vielmehr praktiziert sie den læstadianisch-samischen Synkretismus ihrer Großmutter kreativ in einer Form, wie sie ihr in der dänischen Umgebung möglich ist und sinnvoll erscheint, sozusagen ‚global’ orientiert durch die enge Gemeinschaft mit ihrem vietnamesischen Stiefbruder und späteren Lebensgefährten: Die beiden Kinder erschaffen sich ihre eigene Form einer indigenen Identität, die auf einer samischen basiert. Als die Kinder Silberschmuck aus Grethes Schatullen stehlen und den Grund verschweigen, bleiben Konflikte nicht aus. Den pubertierenden Niels gibt Grethe schließlich an einen anderen vietnamesischen Flüchtling ab, der in Kopenhagen in einem Restaurant arbeitet.
Da der Fokus ganz auf der samischen Mikrokultur liegt, die die beiden Kinder miteinander entwickelt haben, werden die Jahre ohne Niels, die Risten noch mit Grethe und Knut lebt, in starker Zeitraffung erzählt. Lediglich Ristens Schockzustand, nachdem Niels aus der Patchworkfamilie ausgestoßen wurde, ist hervorgehoben. Als Risten für ein Architekturstudium nach Kopenhagen zieht, trifft sie Niels schließlich wieder und bekommt mit ihm einen Sohn, Rod. Immer noch praktiziert sie – gebilligt und vollkommen unterstützt von Niels – die Rituale mit dem Silberschmuck und setzt sich von ihrer Stiefmutter Grethe ab.
Die Rituale stabilisieren Risten und definieren ihre indigene Eigenheit in einer sonst vollkommen anders orientierten dänischen Umgebung. Ihre Sehnsucht nach Rihtta jedoch vermögen sie nicht zu stillen. Nachdem sich Risten ein idealisiertes Mutterbild aufgebaut hat – die liebende Rihtta im Vergleich zu der dominanten und kalten Grethe – besucht sie 2007 Rihtta in Nordnorwegen. Dies ist der erste Kontakt nach gut zwei Jahrzehnten. Rihttas mangelndes Engagement und ihre fehlende Wiedersehensfreude irritieren Risten. Wenige Wochen nach dem Besuch stirbt Rihtta. Sie beging vermutlich Selbstmord, da ihr eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden war. Mutmaßliche Unstimmigkeiten in der Patientenakte veranlassen Risten, investigativ tätig zu werden. Sie setzt ihren Vater Knut massiv unter Druck, ihr die Wahrheit über ihre Mutter zu sagen. In die Enge getrieben, gesteht Knut schließlich – erzähltechnisch in einem enthüllenden Flashback gestaltet, das Licht auf manche für den Leser vorher rätselhafte Episode wirft –, dass Ristens biologische Mutter Ravna ist, Rihttas jüngste Schwester. Diese lebt inzwischen verwirrt in einem Pflegeheim. Risten sucht sie dort zwar auf, jegliche Kommunikation scheitert aber an Ravnas schlechtem geistigem Zustand.
Nach dem unharmonischen Aufwachsen in der dänisch-norwegisch-samisch-vietnamesischen Patchworkfamilie, der Enthüllung der Lebenslüge und der Enttäuschung über die Unmöglichkeit eines echten Austausches mit ihrer biologischen Mutter bricht Risten nicht etwa zusammen: Sie „[v]enter på tårerne. De kommer ikke.“ (wartet auf die Tränen. Sie kommen nicht. S. 206). Sie geht vielmehr zum Alltag über. Mit einem Blick auf die eisige winterliche Landschaft stellt sie abschließend lediglich lakonisch – und wohl auch selbstironisch – fest: „[F]rosten har bidt sig fast for i år“ (Für dieses Jahr hat sich der Forst festgebissen, S. 206).
Bisher ist Og sådan blev det noch nicht in einer indigen-komparatistischen Perspektive gelesen worden. Eine solche Lesart empfiehlt sich jedoch, denn Uthaug präsentiert mit Risten eine Figur, die Parallelen zu den indigenen und halb-indigenen literarischen Figuren Saul Indian Horse und Franklin Starlight aus den Romanen Indian Horse (2012) und Medicine Walk (2014) des kanadischen Ojibwe-Indianers Richard Wagamese hat. Diese Protagonisten haben mit der unmittelbaren Vergangenheit abgeschlossen oder müssen notwendigerweise mit ihr abschließen, um ihre individuell kreierte indigene Identität zu praktizieren. Ausgewählt für den landesweiten Lesetag Danmark læser 2015 und damit in die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit gerückt folgen in den nächsten Jahren womöglich noch vergleichende Lesarten von Og sådan blev det. Diese könnten das Desiderat globaler, d.h. nicht vorwiegend auf englischsprachige Literatur konzentrierter indigener Literaturstudien aufgreifen, wie es etwa von dem samischen Wissenschaftler Harald Gaski (Universität Tromsø) mehrfach formuliert wurde. Vielleicht wird Og sådan blev det – auch dies wäre wünschenswert – in weitere Sprachen übersetzt.
Wagameses und Uthaugs Texte gehen weiter und überschreiten die oft postkolonial aufgearbeitete Opferrolle, indem sie der Desorientierung indigener Personen kreative Figuren gegenüberstellen, die ihren Weg aus dem Desaster gehen. In diesem Kontext gelesen, bringt der Titel Og sådan blev det weder eine nüchterne Feststellung noch Resignation zum Ausdruck. Vielmehr ist damit der für Indigene, Nicht-Indigene sowie auch für Personen gemischter ethnischer Herkunft durchaus schwierige, aber unbedingt positive und zukunftsweisende Umgang mit den historisch – und in Konsequenz daraus auch biographisch – gewordenen Gegebenheiten gemeint. Und so war’s dann eben. Eine Bekräftigung und Emphase: Es gilt, trotz der unabänderlichen Vergangenheit weiter zu leben.
Könnte mit dem Vergleich zur First-Nations-Literatur im Immigrationsland Kanada im Hinterkopf nicht die Frage gestellt werden, wo im ‚Europa der Immigration’ Uthaugs Text überhaupt seinen Platz finden sollte?
Maren Uthaug: Og sådan blev det, Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, 2013.
(Juliane Egerer, Erlangen-Nürnberg, 2015)