Zwei Romane im Dialog – Ida Jessen: En ny tid (2015) und Doktor Bagges anagrammer (2016)

en ny tidEine ganze Reihe von Romanen, Erzählbänden und Kinderbüchern hat Ida Jessen (geb. 1964) mittlerweile veröffentlicht. Sie gehört zu den renommiertesten dänischen Schriftstellerinnen ihrer Generation und war schon zweimal für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert. Auch der Roman En ny tid (Eine neue Zeit) ist bereits preisgekrönt: Er erhielt den Blixenpreis und den DR-Romanpris. Ergänzt wird der im vergangenen Jahr veröffentlichte Roman nun durch den kürzlich erschienenen Komplementärtext Doktor Bagges anagrammer (Doktor Bagges Anagramme). Beide sind unabhängig voneinander lesbar, doch sie formen eine Einheit, indem sie eine ähnliche Geschichte aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählen.

baggeAn Bang erinnert auch das Setting in der Provinz. Wie die meisten von Jessens Texten spielen diese beiden Romane ebenfalls in der Gegend um ihren Heimatort Thyregod, der in Jütland in der Nähe von Vejle gelegen ist. Neben der psychologischen Ebene zeichnet den Roman auch die gelungene Schilderung der dänischen Provinz zu Beginn des 20. Jahrhundert aus. Durch die Perspektive der Ich-Erzählerin gefiltert, entsteht ein anschauliches Zeitbild eines einfachen Lebens. Für die Beschreibung dieser vergangenen Epoche hat sich die Autorin auf Quellen gestützt, die in einer Anmerkung am Schluss des Buches nachgewiesen werden. Ida Jessen hat sowohl autobiographische als auch kulturhistorische Aufzeichnungen benutzt und Quellenstudien im Museum und lokalhistorischen Archiv von Give-Egn betrieben. Sie legt aber Wert darauf, den fiktionalen Charakter des Romans zu betonen, wenngleich der Ort und das Zeitbild durchaus den Eindruck von Authentizität vermitteln.

Am interessantesten an der Ich-Perspektive ist jedoch nicht der Blick auf die Zeit, den Ort und seine Menschen, sondern die fiktive Selbstdarstellung, die viele Fragen offenlässt. Das entfremdete Verhältnis zu dem nun verstorbenen Ehemann wird zwar deutlich, doch mögliche Gründe dafür werden nur sukzessive und andeutungsweise enthüllt. Endgültige Klarheit über den Charakter der Beziehung gewinnen die Lesenden nicht, eher wird durch die zurückhaltende Selbstdarstellung erreicht, dass das Fremdheitsgefühl, das die Protagonistin während ihrer Ehe bestimmt hat, beim Lesen nachvollziehbar wird. Die Zurückhaltung beim Schreiben darüber erzeugt Leerstellen, die einen identifikatorischen Nachvollzug der Fremdheit und der Kommunikationsbarrieren zwischen den Ehepartnern erlauben.

Weil manche Züge der Protagonistin und vor allem der Charakter ihrer Partnerschaft enigmatisch bleiben, nähert man sich mit Spannung dem Ergänzungsband, der aus der Sicht des Ehemannes erzählt wird. Der Landarzt folgt, so die Erzählfiktion, mit seinen Aufzeichnungen einer Aufforderung von Dansk Lægeforening (Dänische Ärztevereinigung), über seine Berufserfahrungen zu berichten. Wenngleich er die Anfrage zunächst ablehnen will, fordert sie ihn doch zum Schreiben heraus. Auf diese Weise entstehen kurze Textbausteine, die er auf »løse lapper« (156, lose Zettel) schreibt und die Erinnerungen beruflicher aber auch persönlicher Art beinhalten. Bald wird deutlich, dass der Erzähler schwer krank ist und er sich durch die in schlaflose Nächten gemachten Aufzeichnungen auf seinen Tod vorbereitet, der am Anfang des aus der Perspektive der Ehefrau erzählten Bandes stand. Auch in diesem Fall wird eine psychologische mit einer kulturhistorischen Perspektive gekoppelt; auch dieser Text greift auf Quellen, wie eine Abhandlung über Diphterie und die in Danske Lægememoirer gedruckten Erinnerungen des Arztes Hans Kaarsberg, zurück. Der Roman enthält keine Chronologie oder kaum genaue Datierungen, doch die erzählte Zeit geht zurück bis in die Kindheit in den 1860er Jahren und behandelt vor allem die Zeit als Landarzt, die in den 1880ern begann und bis in die Erzählgegenwart 1927 führt. Es war ein hartes Leben mit langen Konsultationstagen und einer Vielzahl von nächtlichen Besuchen bei Schwerkranken, denen oft nicht geholfen werden konnte. Trotz des Engagements des Arztes für Hygiene und Impfungen und trotz seiner Behandlung von Diphterie und Tuberkulose bleibt ihm oft nur die Begleitung der Sterbenden. Durch die Erfahrung ständiger Todesnähe wird auch die Aussicht auf das eigene Sterben illusions- und emotionslos, doch mit genauer Beobachtung des körperlichen Verfalls geschildert. Diese Beschäftigung mit der eigenen Krankheit und dem eigenen Körper behält er jedoch für sich, ein Gespräch mit der Ehefrau darüber findet nicht statt. Die Beziehung der beiden wird von Schweigen und Verschweigen bestimmt.

»Skjuler du noget for mig, Vigand?‹ ›Skjuler du noget for mig, Lilly?‹« (›Verschweigst du mir etwas, Vigand?‹ ›Verschweigst du mir etwas, Lilly?‹, S. 59), könnte ein charakteristischer Dialog lauten, doch nur äußerst selten kommt es überhaupt zum vertraulichen Gespräch der beiden. Auch eine Antwort auf die Fragen erhalten die Gesprächspartner nicht, aber den Lesenden wird im Laufe der Lektüre klar, dass beide ihre Gründe für ihre Verschwiegenheit und die fehlende Öffnung gegenüber dem Ehepartner haben. Man könnte von Trauma-Erzählungen sprechen, in denen unbewältigten Verletzungen in der Vergangenheit die Gegenwart überschatten.

Ein Trost für den todkranken Dr. Bagge ist seine Leidenschaft für Anagramme, die hier und da in seine Textbausteine eingefügt sind: »Sentimentalitet. Til en sen nattetime« (unübersetzbar: Sentimentalität. Zu einer späten Nachtstunde) oder »Lilly og Vigand. Lovgyldig lian« (Lilly und Vigand. Gesetzmäßige Liane«). Der Verweis auf die Gesetzmäßigkeit als Grundlage ihrer Partnerschaft, zu deren Aufrechterhaltung sie – wie eine Liane – auf ein stützendes Anderes angewiesen sind, kann vielleicht ein Bild dieser merkwürdigen Ehe bieten. Ein Anagramm kann entweder als ein hermeneutisches Verfahren verstanden werden, das eine sinnhafte Beziehung von Ding und Wort voraussetzt und durch die Permutation die Sinnfindung befördern will. Eine solche Sinnsuche könnte man in Bezug auf das eben zitierte Ehe-Anagramm annehmen. Man kann Anagramme aber auch als kryptographische Verfahren benutzen, die zur Verschlüsselung oder geheimen Übermittlung von Botschaften eingesetzt werden. Vor allem diese Betonung des Geheimnisvollen trifft auf die beiden Protagonisten des Doppelbuches von Ida Jessen zu. So deutet das nächtliche Hobby von Dr. Bagge auf die Doppelheit dieser beiden Texte zwischen Sinnsuche und Geheimnisbewahrung hin, die die beiden Protagonisten teilen.

Ida Jessen: En ny tid. Roman, Kopenhagen: Gyldendal, 2015.
Ida Jesssen: Doktor Bagges anagrammer. Roman, Kopenhagen: Gyldendal, 2016.
(Annegret Heitmann, München)

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