Solvej Balle: Frydendal og andre gidsler

”Knis, knas, knos – Erinnerungen spüren”. Zu Solvej Balles Erinnerungsessay Frydendal og andre gidsler (2008)

Haus, Straße, Dorf, Stadt, Region, Land, Kontinent, Erde, Universum – nach diesem expansiven Muster versuchen nicht nur Kinder, ihren Standort in der Welt zu bestimmen.

Balle setzt zu einer solchen Bewegung an, verknüpft aber dann die räumlich-biographischen Einheiten auf unerwartete Weise: Die Straße, die am Hof Frydendal vorbeiführt, illustriert die Modernisierung und den Verkehrsausbau ganz Dänemarks seit den ökonomischen ‚Rekordjahren’ der 1960er. Ausgerechnet in diesem inzwischen verkehrsumtosten Hofgebäude der religiösen Großeltern verrichten heute Asylantinnen und Illegale ihre Sexarbeit, die in der Boulevardpresse und im Internet angepriesen wird. Die zahlreichen Umzüge der aus Jütland stammenden Familie bringen wiederum Erfahrungen einer dänischen Binnenmigration mit sich, die Balles Erzählerin für soziale Unterschiede, die Willkür von Konventionen, für Dialekte und geschlechtsspezifische Verhaltensweisen sensibilisiert hat. Die europäischen Nachbarländer oder gar die Welt ‚brechen’ ab dem Zweiten Weltkrieg in Dänemark ein: Nicht nur die Duldung oder logistische Versorgung der deutschen Besatzer, sondern auch die Gleichzeitigkeit von Alltagsleben und Holocaust europaweit veranlassen die Erzählerin dazu, eine Art ‚dänische Schuldfrage’ zu stellen. Haben die Großeltern einst Schuld angesichts ihres apolitischen Daseins verspürt, wie sie die Erzählerin selbst angesichts des Wahlerfolgs der fremdenfeindlichen Dansk Folkeparti 2001 fühlte?

Die umgebende Welt während Kindheit und Jugend hatte in den 1960er und 1970ern zwar einen engeren Radius als in der Gegenwart, doch reichte sie aus, um den Bedarf an Alterität zu stillen. Ein wirklicher Anschluss an den internationalen Kontext hat Balle zufolge eigentlich bis heute nicht stattgefunden, denn das dänische Selbstbild bleibe an die vermeintliche Tugend der Überschaubarkeit eines harmlosen Landes gebunden. Man verkenne durch diesen anachronistischen und doppelmoralischen Bescheidenheitstopos die weitreichenden politischen Konsequenzen, die Handlungen dänischer Akteure oder Institutionen weltweit haben können, − der Radius wird gleichsam für enger erklärt als er ist. Die Effekte der Mohammed-Karikaturen wurden nicht etwa naiv unterschätzt, sondern strategisch kleingeredet. Was einst Alterität ausmachte, scheint im Zuge des Anti-Islamismus zu grotesken Proportionen verzerrt.

Um die Überkommenheit von H.C. Andersens provinziellen Aufstiegsträumen und idyllisierenden Maximen wie ‚Small is beautiful’ zu entlarven, entwirft Balle eine zynisches Allegorie: Dänemark als ein dämonisches und narzisstisches Entlein, Schwan und Schweinepelz in einem: „Et lille land uden kritisk sans, men med selvgodhed og hån. Et brutalt lille land, en ælling i svanepels, der kun ser ydmyghed og uskyld, når den spejler sig i søen.“ (S. 44; „Ein kleines Land ohne die Fähigkeit zur Kritik, sondern voller Selbstgerechtigkeit und Hohn, ein Entlein im Schwanenpelz, das nur Demut und Unschuld sieht, wenn es sich im Wasser spiegelt.“). Diese freiwillige Marginalisierung ist verknüpft mit einer (nicht nur in Dänemark) verbreiteten Blindheit gegenüber hegemonialen Automatismen bei Fremd- und Selbstzuschreibungen, die sich angesichts postnationaler Sinnzusammenhänge als besonders folgenreich und destruktiv erwiesen haben. Vor diesem Hintergrund verurteilt die Erzählerin die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen 2005/06 implizit als vermessene und verantwortungslose Handlung.

Dieser dänischen Selbstverkennung stellt die Erzählerin ihre autobiographischen Erinnerungen als eine spezifische Variante revidierter aktueller Zeitgeschichte entgegen. Bei deren Abfassung trifft sie nicht zuletzt exemplarische Entscheidungen darüber, wie Geschichte überhaupt zu tradieren sei, gerade nachdem das nationalhistorische Narrativ in Frage gestellt ist. Die Fragen ihres fünfjährigen Sohnes machen die generelle Schwierigkeit anschaulich, das individuelle Gedächtnis mit einem kollektiven zu verknüpfen, wodurch die erwähnte expansive Struktur von den persönlichen Erlebnissen bis zu generalisierbaren historiographischen Erzählungen auf eine gedächtnispolitische Ebene übertragen wird – quasi vom Frydendaler Küchentisch bis zum dänischen Staat. Auch wenn die Erzählerin ihren Familienstammbaum bis auf die Ebene der Urururururgroßeltern zurückverfolgt und als eine Konstante die späte Geburt der Kinder feststellt, bleiben die Passagen zwischen dem Generations-, Regional- oder kulturellen Gedächtnis erwartungsgemäß sehr vage, so dass ihre autobiographische Bezugnahme auf die aktuelle Zeitgeschichte erstaunlicherweise sogar als eines der verlässlicheren Verfahren historischer Rekonstruktion hervortritt. Selbst die zunehmenden internationalen Verflechtungen lassen sich konkreter am subjektiven Ereignis als in der Gesamtschau entfalten, hier etwa am Beispiel der Eheschließung der Erzählerin mit einem Engländer, die den Familienstammbaum transnational erweitert. Die Konkurrenzverhältnisse individueller und kollektiver (stets textbasierter) Gedächtnisentwürfe untereinander und um das jeweilige Deutungsvorrecht treten eingängig hervor, ohne dass kommentierende Schlussfolgerungen von Seiten der Erzählinstanz benötigt würden.

Selbst ihre eigenen Erfahrungen als Schulkind oder etwa die gelassene Gottesfurcht der Großeltern sind dem Sohn kaum zu vermitteln, wie der Erzählerin spätestens bei der gemeinsamen Inspektion ihrer Kindheitsorte bewusst wird. Die laute Frage des Sohnes während eines Gottesdienstes „Mor, er det rigtigt, hvad præsten siger?“ (S. 120, „Mama, stimmt das, was der Pastor sagt?“) ruft in Erinnerung, dass die klassische Modernisierungstendenz der Säkularisierung gerade in den ländlichen Gebieten Dänemarks − und insbesondere im beschriebenen Milieu konservativerer Højskoler (Heimvolkshochschulen oder Internaten) − simultan zu neueren Dynamiken noch lange weitergewirkt hat. Die Frage des Sohnes führt auch vor Augen, dass mit der Säkularisierung nicht nur übergreifende Ordnungen und Richtwerte der (Selbst-)Disziplinierung außer Kraft gesetzt, sondern auch sinnstiftende Erzählungen verabschiedet wurden, die vormals stabile Lebensentwürfe begründeten: Die Formel von Frydendal „Paa Guds Velsignelse beror Alt“ (S. 8, „Alles hängt von Gottes Segen ab“) tritt in der für Balles Essay charakteristischen Bewegung von der Mikro- zur Makroebene als größtmöglicher Gegensatz zur unverbindlichen ‚neoliberalen Tauschgesellschaft’ auf, der die Erzählerin sowohl geistig beschränkten Egoismus als auch Vermessenheit bescheinigt, − wohlgemerkt ohne dabei in einen lamentierenden oder nostalgischen Ton zu verfallen.

Seitdem sich − mit einem markanten Aufbruch in den 1970er Jahren − Fortschrittsmodelle gesellschaftspolitisch durchgesetzt haben, die u.a. Leitvorstellungen wie den Bildungsaufstieg, die gesamtgesellschaftliche Optimierbarkeit oder die fortwährende Arbeit am Selbst legitimierten und teleologischen Entwicklungen sowie zielgerichteter Mobilität einen nahezu selbstverständlichen Vorrang einräumten, kann die neue Zeitrechnung (nach dem Wohlfahrtsstaat, nach der Postmoderne und zu Beginn der Globalisierung) bislang kaum an formulierbare positive Werte gebunden werden. Nichtsdestotrotz mag es irrational oder gar esoterisch erscheinen, bewusst Setzungen vorzunehmen und Freiheiten aufzugeben, um so jener geforderten oder soziale Anerkennung verheißenden Dynamik Einhalt zu gebieten. Bezeichnenderweise nimmt die Erzählerin eine solche Setzung vor, indem sie mit der Familie auf eine Insel zieht, die nur mit der Fähre erreichbar ist. Die gemeinsame Bewegung der Reisenden auf der Fähre und deren zeitweilige Gemeinschaft, die am Schluss des Essays skizziert wird, deuten eine mögliche Alternative zu einem nationalen Kollektiv an. Auch die Anfertigung des Erinnerungsessays selbst bedeutet eine Setzung in ihrer vorläufigen Bestandsaufnahme von fragmentarischem Erinnerungsmaterial.

Eine sinnlich, vor allem klanglich begründete Nostalgie wird bei Balle allenfalls durch die intensiven Ding-Erinnerungen gespeist, die wohl auf ein generationsspezifisches Gedächtnis bezogen werden können und (meiner Einschätzung nach) auch Dänemark-Urlauber in den 1970er Jahren mit einschließen können: Das Knirschen der Kiesel auf dem Hofplatz „knis, knas, knos“ verändert sich je nach Temperatur und Feuchtigkeit. Der helle Klang der lockeren Kieselsteine steht für den Hochsommer, der dunkle für Regentage oder die Fläche, auf der einst die verschüttete Milch aus dem Stalleimer versickerte. Die rotweiß-karierten Pappkühe aus der Karoline-Meierei, die man im Regal aufstellen konnte, funktionieren zwar im Sinne eines Abdrucksrealismus, verfügen aber in Frydendal keineswegs über eine subjektive Verbindlichkeit des Erinnerungsaktes. Zudem illustrieren sie zeichenhaft und metonymisch den naiven Dannebrog-Gebrauch vor der Ära brennender Flaggen. Archivierbare Dokumente, die nur wenige Gebrauchsmöglichkeiten eröffnen, bieten während der Aktualisierung von Erinnerungen weniger Reize des sinnlicher Erfahrbaren an.

Wie bei Prousts Gebäck stellen Synästhesien die reichhaltigsten Ankerpunkte für das Gedächtnis dar, denn sie strahlen intensiv auf alle Register der sinnlichen Wahrnehmung aus. Es wird sogar möglich, sich über solche verdinglichten Erinnerungen intersubjektiv auszutauschen. So ergänzen und vergleichen Schwester und Mutter ihre Erinnerungen an den eiskalten Metalleimer mit den Haselnüssen und an den Aprikosenbaum, der heute verschwunden ist. Die gegenständliche Konkretion und die Beschwörung sprachlicher Materialität steigern sich wechselseitig im Nachvollzug der klanglichen Effekte.

Gerade das Requisit des Aprikosenbaums führt zusammen mit der kindlich-philosophischen Frage des Sohnes „Hvorfor er der så mange ting i verden?“ (S. 35; „Warum gibt es so viele Dinge auf der Welt?“) direkt zu einer literarischen Reminiszenz – Inger Christensens Gedichtzyklus Alfabet (1981). Wie Buchstaben fügen sich Dinge in der sprachlichen Rekonstruktion der Erinnerung zusammen.

Solvej Balle: Frydendal og andre gidsler. Gyldendal, 2008.

(Uppsala, 24.8.2011, Antje Wischmann)

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