Sigurbjörg Þrastardóttir: Blysfarir

Der Gedichtzyklus Blysfarir aus dem Jahr 2007, der 2009 für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert wurde, ist Sigurbjörg Þrastardóttirs vierter Lyrikband. Nach ihrem Debut im Jahr 1999 mit dem Gedichtband Blálogaland hat sie neben Gedichtbänden und Theaterstücken auch einen Roman veröffentlicht (Sólar Saga, 2002). Der Münchner Blumenbar Verlag hat 2011 die, von Kristof Magnusson übersetzte Ausgabe von Blysfarir unter dem Titel Fackelzüge veröffentlicht. Die Gedichte der Autorin habe einige Gemeinsamkeiten, so spielen in allen vier Bänden die von Marc Augé als „Nicht-Orte“ bezeichneten Transiträume der globalisierten Welt eine entscheidende Rolle.

In Blysfarir wird, in einem ausgesprochen dicht gewobenen Text, die leidenschaftliche Liebesbeziehung einer Ich-Erzählerin mit einem Mann aus Berlin geschildert. Die Drogenabhängigkeit ihres Partners wird bereits am Anfang des Textes deutlich:

en núna / þegar hann ber við blossandi næturbirtuna fyrir utan kofann / þar sem hann stendur ósofinn og fókuserar og kveikir undir álinu, / núna er eins og eitthvað stígi upp í birtunni og ég heyri snöggt í / lungum og það báðnar og snarkar og ég sé hann, drekann

aber jetzt / als er vor der hütte aus dem gleißenden nachtlicht ragt / schlaflos dort steht und konzentriert guckt und das / alu anfeuert, da ist es als würde etwas aufsteigen in das licht / und ich höre kurz seine lungen und es schmilzt und / knackt und ich sehe ihn, den drachen

Die Drachenmetapher zieht sich isotopisch durch den gesamten Text und erzeugt auf zwei Ebenen Bedeutung. Im engeren Sinne bezeichnet sie immer wieder die konkrete Drogensucht des Liebhabers, der schließlich auch die Beziehung zum Opfer fällt. Die wiederkehrenden Verbindungen zwischen der Drachen-Jagd mit der Farbe Weiß lassen auf die Droge Crystal Meth schließen, deren Konsum umgangssprachlich auch als „den weißen Drachen jagen“ bezeichnet wird. In einer weiter angelegten Deutung kann die Drachen-Jagd auch als Metapher für das Streben nach dem nächsten, stärkeren Rausch stehen. Dieses Streben bezieht sich nicht nur auf den Drogenkonsum und die Sehnsucht nach einem neuen, besseren „High“, sondern auch auf die Grundstruktur der Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Partner. Die Interaktion der Beiden, die bezeichnenderweise hauptsächlich im Präsens geschildert wird, ist geprägt von der zeitweilig beinahe kindlich anmutenden Suche nach neuen Abenteuern, sexuellen Extremsituationen und Grenzüberschreitungen, die vom Diebstahl bis zum Geschlechtsverkehr auf dem Friedhof reichen. Dass auch die Beziehung Suchtcharakter besitzt, wird von der Autorin herausgearbeitet, indem sie wiederholt Schilderungen des Drogenkonsums und Beschreibungen von Sex nebeneinander stellt.

Das Konzept strukturbildender Metaphern, die im Rahmen des Textes eine enge und eine weite Deutung zulassen, findet sich im gesamten Gedichtzyklus. Beispielhaft sei hier die wiederkehrende Verwendung der Farben Weiß und Blau zu nennen. Während die Farbe Weiß in verschiedenen Sprachbildern auftaucht, unter anderem im Kontext der Jagd nach dem weißen Drachen, in der weißen Farbe, mit welcher der Geliebte ihr isländisches Haus anstreicht, und auch in den titelgebenden Fackeln, die als weiße Fackeln bezeichnet werden, wird die Farbe blau immer wieder mit Milch in Zusammenhang gebracht:

og svo stend ég á flugvelli með galopna, bláa og hvíta mjólkurfernu / tveggja lítra og armana útrétta

dann stehe ich / am flughafen mit weit aufgerissenem, weißblauem milchkarton / zwei liter und ausgebreiteten armen

Der blaue Milchkarton kann im Kontext der Herkunft der Ich-Erzählerin sehr einfach als Symbol für die isländische Heimat gedeutet werden; so ist die besonders fetthaltige isländische Milch bekannt für ihren blauen Milchkarton. Folglich wird im Text ein Gegensatz zwischen Island, hier vor allem der isländischen Natur, und der urbanen Metropole Berlin erzeugt:

mér finnst / grundsamlegt hvað næturnar eru svartar / í kringum jarðhæðina hans / en bjartar / í kringum húsið mitt hvítt / í kringum kofann og fjöllin

verdächtig / scheint es mir wie schwarz die nächte / um sein erdgeschoss sind / und wie hell / um mein haus mein weißes / um die hütte und die berge

Dieser Dualismus findet sich auch an anderen Textstellen, wenn sich zum Beispiel das Naturerleben in der Großstadt auf eine rein medial vermittelte Realität stützt, da die beiden Protagonisten im Schutz ihrer Wohnung Tierfilme anschauen. Bei ihrem Aufenthalt in Island bezeichnet die Ich-Erzählerin die scheinbare Empfindungslosigkeit ihres Geliebten der isländischen Natur gegenüber als „Anhedonie“, also als Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Diese Abstumpfung seiner Umwelt gegenüber ist verknüpft mit der Suche nach stärkeren Reizen, die nur im Drogenrausch möglich sind.

Die Beschreibung einer authentischen isländischen Natur und das Unvermögen des urbanen Menschen, diese auf sich wirken zu lassen, ist für sich betrachtet kein besonders innovatives Sujet. Doch eine weitergefasste Deutung der Metapher von der blauen Milch zeigt, dass der komplexe Gedichtzyklus sich eben nicht auf diesen althergebrachten Antagonismus von gesunder Natur und krankmachender Urbanität verlässt, sondern diesen bricht und in Frage stellt: Sinkt der Fettgehalt von Milch, dann wird die Milch bläulich. Blaue Milch entspräche demnach eben nicht der vollen Kraft der Natur, sondern wäre nur ein wässriges Destillat des Ausgangsproduktes. Die Schönheit der isländischen Natur trägt im gesamten Gedichtszyklus, dieser Lesart entsprechend, nicht zur Heilung der Drogensucht bei. Stattdessen werden Parallelen gezogen zwischen der Erhabenheit der Natur und der Bedrohlichkeit des Drogenkonsums, indem zum Beispiel die Ich-Erzählerin den von Entzug geplagten Geliebten mit einem erfrorenen Jungen im isländischen Hochland vergleicht. Ebenso wie die Natur ihre Anziehungskraft aus dem Wechselspiel von Gefahr und Schönheit gewinnt, verliert der drogensüchtige Liebhaber während eines letztlich erfolglosen Entzugs in den Augen der Ich-Erzählerin an Anziehungskraft.

Gleichzeitig werden in Blysfarir typische Klischees isländischer Naturdarstellung vermieden, da sowohl die Stadt Berlin als auch die isländische Natur als „Orte“ geschildert werden, die mit historischer Bedeutung angereichert sind. Dieser Vergangenheitsbezug äußert sich zum Beispiel in Saga-Referenzen oder der ausführlichen Schilderung eines Berliner Friedhofs. Diese „Orte“ stehen, um noch einmal Mark Augé aufzugreifen, im Widerspruch zu den offenen und unbeschriebenen Transiträumen. Der Gedichtzyklus handelt so auch von der Sehnsucht, die Liebe aus dem Bereich des Möglichen und des Abenteuers an einen konstanten Ort der Verbindlichkeit zu überführen. Stattdessen bleibt die Beziehung ein auf der Performanz des Moments basierendes Spiel, indem sich die Protagonistin zeitweilig selbst nicht mehr erkennt:

heim í úfið rúm / þar sem hann mun sjálfur liggja / upptrektur og horfa á beinasleggjuna sína í / hvössum stígvélum, í streng og með hatt, / veit ekki með svipu / því það er / ekki ég

nach haus in ein aufgewühltes bett / wo er selber liegen wird / aufgedreht und den dürren körper betrachten wird / in spitzen stiefeln, g-string und mit hut / und vielleicht peitsche, ich weiß es nicht / denn das bin / nicht ich

Am Ende des Textes haben sich die beiden Liebenden getrennt, und die Erzählerin ist zurückgekehrt nach Island. Die immer grotesker werdenden Bilder verdichten sich in der finalen Schilderung einer Geburtsszene, die als Choral bezeichnet wird. Die Bezeichnung knüpft an die zahlreichen offenen und verdeckten Religionsanspielungen an, die sich im Text finden lassen, zum Beispiel, als der Geliebte sich bei ihr für „die herrlichkeit, die kraft des moments“ S. 119 („takk fyrir dýrðina, máttugu andartökin“ S.121) bedankt und damit eine klare Umkehrung der letzten Zeile des Vaterunsers verfasst. Das Ende von Blysfarir wird so lesbar als eine Integration der „Kraft des Moments“ in das Leben der Ich-Erzählerin, die von sich selbst sagt, dass sie eine lodernde weiße Fackel aufrecht hält.

 Sigurbjörg Þrastardóttir: Blysfarir. JPV Útgáfa, 2007
(Berit Glanz, Greifswald,  Mai 2012)

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Hanne Ørstavik: Hyenene

Fragenstellen infragestellen

Im Herbst ist ein neuer Roman von Hanne Ørstavik erschienen, ein richtiger Ørstavik-Roman heißt es in den Besprechungen der norwegischen Zeitungen. Leser/innen, die mit Ørstaviks Werk vertraut sind – zehn Romane und ein Lesedrama hat sie seit ihrem Debut 1994 veröffentlicht und dafür alle wichtigen norwegischen Literaturpreise bekommen – erwarten bei dieser Bezeichnung einen überaus formbewussten Text, der Fragen der Identität verhandelt. Und das bekommen sie auch. Einfache, aber präzise Beschreibungen und Schilderungen von Äußerem werden durchzogen, durchbrochen, überlagert, verzerrt, ergänzt von Passagen aus Gedankenströmen, Assoziationsfetzen und Reflexionsschleifen zur Frage nach dem Ich und der Welt. Eine vorsichtige, schwebende Annäherung an äußere und innere „Wirklichkeiten“ mit einem Netz von „virker som“, „som om“, „noe“, „det“, das sich über den Text zieht. Kleine Nuancen nehmen immer wieder etwas zurück, wo man sich eben sicher gefühlt hat. Wo es eben noch „hun“/“sie“ hieß, heißt es jetzt „jeg“/“ich“: „Hun vil så gjerne leve. Jeg vil så gjerne kjenne, kjenne meg levende, kjenne noe, før jeg dør.“ (33) – „Sie will so gerne leben. Ich will so gerne empfinden, mich lebendig fühlen, etwas empfinden, bevor ich sterbe.“ Wo man einen festen Punkt auszumachen scheint, wird dieser wieder zurückgenommen mit „tenker hun“/“denkt sie“ oder „sier hun til seg selv“/“sagt sie zu sich selber“ (30): „Hun ligger og ser ut i det hvite og vet at hun har begynt, noe har begynt, nå er det bare å fortsette. Sier hun til seg selv.“ (30) – „Sie liegt da und sieht hinaus ins Weiße und weiß, dass sie begonnen hat, etwas begonnen hat, nun gilt es nur, das fortzusetzen. Sagt sie zu sich selbst.“ Mit solchen Verfahren kommt Ørstavik zu dieser spezifischen Textwirkung, mit der sie ihr Publikum seit ihrem ersten Roman, Hakk (1994) konfrontiert. Dort war bereits am Druckbild zu erkennen, wie der Text aus kleinen Stücken entsteht, die sich gegenseitig kommentieren. In postmoderner Manier werden die Lesenden auch bei diesem Roman an der Textarbeit beteiligt, müssen selbst „weben“, damit ein/e Text/ur entsteht. Also ein Text in der für Ørstavik typischen Art, die den Lesenden hohe Aufmerksamkeit abfordert. Die die einen zu faszinierten Lesenden macht und die anderen vom Lesen abhält.

Die Handlung – wenn man es denn eine Handlung nennen möchte – ist schnell erzählt: Siv, 40, Schriftstellerin, bekommt das Angebot, in der Wohnung von Sally an der südenglischen Küste zu wohnen. Sally, eine englische Schriftstellerkollegin ist für mehrere Wochen in Rom, um dort zu schreiben. Siv nimmt das Angebot an, reist nach England, wohnt in der Wohnung, findet sich mit sich selbst konfrontiert und kann dem nur stundenweise entkommen, wenn überhaupt, nur in den Stunden, die sie in einer kleinen Boutique arbeitet, zwischen Klamotten und Kunden, ihrer Kollegin Pip und dem Ladeninhaber Leo. Während sie hier die Unmittelbarkeit menschlicher Begegnung erlebt, ist sie gleichzeitig damit beschäftigt, ihre vor kurzem beendete Beziehung zu Rudolf zu verarbeiten, die Beziehung zur Mutter und vor allem ihre Beziehung zu sich selbst und zum Schreiben. Als Sally plötzlich aus Rom zurückkommt, um ihre Mutter zu besuchen, die in Schwierigkeiten zu sein scheint, begleitet Siv sie. Sie reist jedoch früher wieder zurück und entschließt sich wenige Tage später, ihren Aufenthalt in England ganz zu beenden und nach Hause zurückzukehren.

Das ist also der Plot zu dem Titel „Hyenene“. Geübte Ørstavikleser verblüfft dabei gleich zu Beginn des Textes, dass „Hyenene“ – „die Hyänen“ nicht nur Metaphernspender sind, sondern bereits im ersten Satz des Romans überraschend konkrete Tiere, präsentiert in einem überraschend lebensweltlichen Medium: Siv sieht sich nachts Filme von Hyänen auf YouTube an. Die Auseinandersetzung mit den Hyänen als konkreten Tieren zieht sich durch den ganzen Roman – ihre Lebensweise, ihr Aussehen, die große Ähnlichkeit der männlichen und weiblichen Tiere, die auch an ihren Geschlechtsorganen kaum zu unterscheiden sind. Bereits am Anfang von Roman und Englandaufenthalt druckt Siv sich verschiene Bilder von Hyänen aus. Viel später, auf der Rückreise von Sallys Mutter, zieht sie sie wieder aus der Tasche und sieht sie sich intensiv an, betrachtet sie wie Porträts, kommt zu der Einschätzung „det er som de er så mange dyr på en gang, i én kropp, som om de har spor i seg av så mange andre“ (217) – „es ist, als ob sie so viele Tiere gleichzeitig sind, in einem Körper, als ob sie Spuren in sich hätten von so vielen anderen“ – von Bär, Hund, Pferd, Känguruh. Die Tiere werden als „Zusammengesetzte“ erkannt, hybrid, polyvalent, polymorph. Schließlich fragt sich Siv, warum sie nur die „netten“ Bilder ausgewählt hat, „die freundlichen, auf denen die Hyänen friedlich sind und fast niedlich aussehen, oder traurig; hat sie die andere Seite dieser Tiere ausgespart? Ihre gefährliche Seite, die Raserei und Wildheit, die Tatsache, dass sie töten. Warum hat sie nicht die Bilder ausgedruckt, die Menschen mit Verletzungen zeigen, die Hyänen ihnen zugefügt haben, und die Bilder, die die Hyänen mit offenem Maul zeigen, mit Blut auf der Zunge? Wie sie Fleisch aus noch lebenden Tieren reißen? Von hier aus entwickelt sich eine Erkenntnis von Gegensätzen, die nicht dialektisch vereint und doch aneinander gekoppelt sind: „De er både søte og farlige. Begge deler. Helt samtidig. Jeg må våge det, tenker hun.“ (229) – „Sie sind beides, süß und gefährlich. Beides. Ganz gleichzeitig. Ich muss es wagen, denkt sie.“ Und hier findet sie auch zu einer Einschätzung dazu, wie ein angemessenes Verhältnis zu einem Mann möglich sein kann: „Ikke skyte mannen, tenker hun, men slippe ham inn, slippe ham til. At han også er en del av meg, tenker Siv.“ (229) – „Nicht den Mann erschießen, denkt sie, sondern ihn hereinlassen, ihn heranlassen. Dass er auch ein Teil von mir ist, denkt Siv.“

Ist wirklich etwas anders geworden? „Og nå har jo noe forandret seg, Siv, sier hun til seg selv.“ (227) – „Und jetzt hat sich ja etwas verändert, Siv, sagt sie zu sich selbst.“ Hat Siv in diesen Wochen etwas „gelernt“, „erfahren“? Kann man einen Faden ziehen, Veränderungen, Entwicklungen daran aufreihen, ein Ich festmachen, eine Identität finden? Veränderungen durch was? Durch die Begegnungen mit den Leuten von der Boutique, durch das Verlieben in einen anderen Mann, durch den Besuch mit Sally bei deren Mutter, durch die Selbstbegegnung und die intensive Reflexionsarbeit? Ist am Schluss also ein Entwicklungsprozess abgeschlossen? Das hängt davon ab, welcher der Erzählstimmen man Glauben schenken kann und will bzw. ob man überhaut einer der Bewusstseinsinstanzen vertraut. Aber es spricht vieles für einen Wandel. Der letzter Absatz zeigt Siv jedenfalls im Flugzeug, die Sicherheitsanweisungen sind soeben zu Ende, das Flugzeug ist durch die Wolken in das starke Licht der Sonne gekommen. Siv sieht hinaus, in das Weiße, das Weiche, nimmt ihre Hände wahr, wie sie auf dem Mantel liegen, halb ineinander, die offenen Handflächen nach oben.

Hanne Ørstavik: Hyenene. Oktober Forlaget, 2011
(Simone Schiedermair, Greifswald,  März 2012)

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Stine Pilgaard: Min mor siger

Beziehungsstress

Beziehungsprobleme scheinen ein besonders beliebtes Thema junger dänischer Autorinnen (Josefine Klougart, Katrine Grünfeld, Stine Pilaard) zu sein – schwierige und scheiternde Liebesbeziehungen stellen offensichtliche Krisenmomente im Leben von Mittzwanzigerinnen dar, was aber nicht unbedingt neu und auch nicht von weltbewegendem Interesse sein muss. Da braucht es schon eine ganz besondere Präsentationsweise, um auch Leser anzusprechen, die nicht identifikatorisch mit dem Stoff umgehen. Von den hier genannten Autorinnen ist das Stine Pilgaard mit ihrem Roman Min mor siger zweifelsohne gelungen.

Die Autorin wurde 1984 geboren und hat – wie könnte es anders sein – Literaturwissenschaft an der Universität Kopenhagen und an der »Forfatterskole« studiert. Der schmale Roman über die namenlose Ich-Erzählerin, die von ihrer Partnerin verlassen wurde, ist ihr Debüt, das allerdings überraschend große Aufmerksamkeit in der Tagespresse erfuhr. Sowohl Kamilla Löfström in Information (26.1.2012) als auch Lasse Horne Kjældgaard in Politiken (29.1.2012) schrieben sehr lobende Worte über die »stærkt opløftende dialogkunst« (Horne Kjældgaard), und als Weekendavisens Leonora Christina Skov den Text als »vinterens must read« (27.1.2012) bezeichnete, bin ich der Empfehlung gefolgt.

Der handlungsarme Roman besteht aus zwei Typen von Kapiteln: indirekt wiedergegebenen dialogischen Szenen, in denen die unglücklich verlassene Hauptperson sich in Gesprächen jeweils mit ihrer Ex-Geliebten, der besten Freundin, Mutter, Vater und ihrem Arzt austauscht, sowie insgesamt 12 »Monologer fra en Søhest«, in denen Teile ihres Körpers, vom Ohr über das Zwerchfell bis hin zum Knie zu Wort kommen. Während die Dialoge also gewissermaßen den Austausch mit anderen abbilden, kommunikativ orientiert sind, stellen die Monologe eine Innenschau der Erinnerungen und Emotionen sowie ihren imaginierten Sitz im Körper dar. Wenn auch dieser Wechsel prinzipiell eine gute Idee ist (und einige der Monologe wie z.B. die sinnlichen Erinnerungen des Mundes und der Nase sehr gelungene poetische Passagen bieten), liegt die ganz besondere Qualität dieses Buches in den Dialogszenen. Die sprachliche Präzision dieser jeweils nur ein paar Seiten langen Sequenzen schafft eine Balance von einfühlsamer Wiedererkennbarkeit und distanzierendem Witz. Dabei sind es nicht nur die treffenden Dialoge, die diese Wirkung ausmachen, sondern vor allem die indirekte Referatsform des »min mor siger«, die eine humoristische Distanz entstehen lässt. Der erstaunliche Effekt dieser Erzählform ist, dass schlagfertige Wortwechsel, Streitgespräche des Aneinander-Vorbei-Redens, absurde, ja fast absurdistische Dialoge einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit und Sympathie hervorbringen.

Der Inhalt des auf diese Weise unterhaltsam und flott Erzählten ist dann fast schon gar nicht mehr so wichtig: Es ist die Verarbeitung einer gescheiterten Beziehung, manch eine Alkohol-Nacht, Desinteresse am Studienabschluss, die analytisch-konstruktiven Ratschläge der Schulfreundin, das Verhältnis zu den Eltern, die ständigen Besserwissereien der Mutter (in der wohl viele Leser die eigene Mutter wiedererkennen, selbst wenn diese nicht Immobilienmaklerin ist) und das Verständnis des Vaters, der Pastor und wieder verheiratet ist und bei dem die Protagonistin nach dem Ende ihrer Beziehung lebt. All das ist Allerweltsstoff und eigentlich nicht weiter bemerkenswert, genauso wenig wie die Tatsache, dass sich am Ende eine neue Beziehung einstellt. Interessant ist aber, dass es wegen dieses wenig bemerkenswerten Sujets auch gar nicht von Belang erscheint, dass es sich um eine lesbische Beziehung handelt – damit wird ein Status der Normalität erreicht, der mögliche heteronormative Forderungen stillschweigend unterläuft. Dasselbe gilt für den in vierte Ehe verheirateten Pastor-Vater, der sicher auch nicht allen Erwartungen gerecht wird. Lauter nette Menschen eigentlich, auch wenn sie streiten, sich trennen und sich manchmal missverstehen. Im Grund wird dieser kurze Roman von Optimismus und dem Glauben an Kommunikation getragen, wie es in sympathisch-erheiternder Weise das schöne Kapitel über Liebeserklärungen in vielen Sprachen deutlich macht: »Mulle og jeg diskuterer hvilket sprog der egner sig bedst til kærlighedserklæringer. Albansk, siger min mors mand, te dua« und schlägt im Folgenden das kambodschanische ›soro lahn nhee ah‹, das libanesische ›bahibak‹ oder das gälische ›ta gra agam ort‹ vor, während er den Ausguss repariert.

»En halv kasse øl senere er vi nået til mandarin-kinesisk. Wo ai ni, siger min mors mand. Det lyder for meget som en børneremse, siger jeg. Mulle mener at det var en af de øvelser vi havde i læsebogen tilbage i folkeskolen, da vi skulle lære vokalerne. Vi sidder tavse lidt. Negligevapse, råber min mors mand pludselig, negligevapse. Det lyder dejligt og afslappet, siger Mulle, nærmest lykkeligt. Fem stavelser, tre slags vokaler, ni forskellige bogstaver, gode muligheder for anagrammer, siger jeg.«

Einen halben Kasten Bier später sind wir bei Mandarin-Chinesisch angekommen. Wo ai ni, sagt der Mann meiner Mutter. Das klingt zu sehr wie ein Kinderreim, sage ich. Mulle meint, dass das eine der Übungen aus dem Lesebuch in der Volksschule war, als wir die Vokale lernen sollten. Negligevapse, ruft der Mann meiner Mutter plötzlich, negligevapse. Das klingt gut und entspannt, sagt Mulle, fast glücklich. Fünf Silben, drei Arten von Vokalen, neun verschiedene Buchstaben, gute Möglichkeiten für Anagramme, sage ich.

Was soll man diesem Wort noch hinzufügen? So buchstabiert man Liebe, und mit diesem Wort, das (wie Mulle sagt) über alle Machtstrukturen erhaben ist, wendet sich die Erzählerin am nächsten Morgen an die neue Partnerin: »Negligevapse, hvisker jeg i dit øre næste morgen.« Es kommt eben nicht so sehr darauf an, was man sagt (oder schreibt), sondern wie man es sagt (oder schreibt).

Das gilt auch für dieses Buch: ein unterhaltsamer, leichter, sprachlich präziser und formal interessanter Debütroman!

Stine Pilgaard: Min mor siger. Samleren, 2012.
(Annegret Heitmann, München,  März 2012)

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